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Grauschleier

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... In diesem Moment gibt die Straße den Blick auf ihren weiteren Verlauf frei. Natürlich weist die Richtung wieder himmelwärts und leider sieht dieser Anstieg ziemlich lang und zäh aus. Da beschließt mein Körper spontan in den Streik zu treten. Er verbündet sich mit dem willenlosen Geist und schon lehnt mein Monsta-Bike am Brückengeländer. Und ich kann nichts anderes tun, als unentschlossen herumzustehen und möglichst interessiert in die Gegend zu schauen. Nicht das noch ein Radfahrer anhielte und dem alten Mann (also mir) helfen wollte! 

 

Zum Glück gibt es aber einen Teil in mir, der auch in dieser Situation Rat weiß ...


Diese Fahrradtour beginnt schon am Vortag. Dieser Vortag ist der Himmelfahrtstag 2023 und ich trödle mit dem kleinen roten Kugelblitz-Auto meinen Lieblingsbergen entgegen. Als ich im Zittauer Gebirge oberhalb von Oybin auf dem kleinen Wandererparkplatz ankomme, ist es schon später Nachmittag. Für große Sprünge und lange Touren gibt es nun keine Gelegenheit mehr. Eigentlich bin ich darüber nicht böse, denn ohnehin stelle ich mir gerade die Frage: „Fahrradfahren, habe ich das nicht schon verlernt?“

 

Mit etwas Selbstüberredung entschließe ich mich, heute Abend noch bis zum Töpfer zu radeln. Der Töpfer ist ein Aussichtsfelsen und ein beliebtes Touristenziel in diesem Mini-Gebirge. Außerdem ist der Töpfer immer für ein spektakuläres Foto mit Gipfelkreuz und Talblick gut!  Die auserkorene Route auf Waldwegen knapp unterhalb der Großen Felsengasse fährt sich erstaunlich gut. Nur zwischen den Felsen Oberer- und Unterer Mönch gibt es eine kurze Schiebepassage. Die anschließende asphaltierte Töpferstraße gibt mir zu verstehen, dass es im Gebirge auch heftig aufwärts gehen kann. Das hatte ich irgendwie schon ganz vergessen. Dann, also nach gerade einmal 3 Kilometern, stehe ich auch schon auf dem Töpferfelsen. Der weite Blick hinunter nach Zittau enttäuscht mich auch heute nicht!

 

Am nahegelegenen Gasthaus findet eine Vatertagsfeier der traditionellen Art statt: Dazu gehören immer eine Menge Bier und Schnaps, laute Musik und stimmgewaltige, aber völlig unmusikalische Herren. Um an derartigem Treiben Gefallen zu finden, bin ich viel zu nüchtern. (Und ich hätte auch keine Chance mehr, den Vorsprung der zechenden Bruderschaft aufzuholen!)


Dieses abenteuerliche Felsentor heißt "Töpfer". Fröhlichen Vatertags-Zecher (nicht im Bild) sorgen für (un)musikalische Begleitung.
Dieses abenteuerliche Felsentor heißt "Töpfer". Fröhlichen Vatertags-Zecher (nicht im Bild) sorgen für (un)musikalische Begleitung.

Immer wieder schön: Gipfelkreuz mit Aussicht auf Zittau.
Immer wieder schön: Gipfelkreuz mit Aussicht auf Zittau.

So trolle ich mich auf demselben Weg zurück und stoppe erst am unteren Einstieg des Alpinen Grats. Das ist ein Klettersteig (Via Ferrata) mit Eisenklammern und fest montiertem Stahlseil zur Sicherung. Welch ein Zufall, dass mir kurz zuvor noch mein Klettersteigset in den Rucksack gesprungen ist! (Das Klettersteigset ist eine verwirrende Konstruktion aus Gurten und Karabinerhaken und dient zur Selbstsicherung des Kletterers.)

 

Schnell schließe ich mein Monsta-Bike an einem Baum fest und hänge Minuten später schon wie ein Affe am Affenfelsen. Na gut, ganz so geschmeidig wie bei den Kollegen im Zoo sehen meine Bemühungen nicht aus! Der felsige Pfad hinauf erscheint mir auch ein wenig anspruchsvoller als die Eisenklammern-Stiegen in der Sächsischen Schweiz. Genau wie dort sorgt die zunehmende Höhe für einen beachtlichen Nervenkitzel, doch auch der Spaß nimmt mit jedem bewältigten Steinbuckel und jedem erfolgreichen Kletterzug zu! Dank der Sicherungstechnik bleibt die Kletteraktion im Grunde stets harmlos. Viel zu schnell komme ich beim Gipfelbuch an. Nun muss ich nur noch über ein Geländer steigen, das Gurtzeug in den Rucksack verstauen und ich bin wieder ein Wanderer. Das Wandern ist auch erforderlich, denn ich habe bis zu meinem Fahrrad einen beachtlichen Fußweg vor mir. Aber diesen Umweg war das Kletterabenteuer allemal wert!

 

Damit endet das Vorspiel zu meiner Isergebirgstour. Die Nacht verbringe ich auf dem Parkplatz im Zittauer Gebirge und fahre am Morgen mit dem Kugelblitz das kurze Stück bis nach Świeradów-Zdrój (Bad Flinsberg) in Polen.


Dieser Kurort liegt am Fuß des Isergebirges. Er hat in seinem Rücken eindeutig die steilere Seite des Gebirges erwischt. Muss ich etwa da jetzt hoch? „Im Prinzip nicht!“, sagt Radio Jerewan, denn meine heutige Route führt zunächst unten an den Bergen entlang und erst nach einigen Kilometern, auf der entgegengesetzten Seite bei Szklarska Poręba (Schreiberhau), in die Höhe. Aber im Gebirge ist die Sache nie so ganz eindeutig: Mit heftigen Steigungen ist stets zu rechnen!

 

Zunächst habe ich aber noch eine alte Rechnung mit mir selbst offen. Man könnte es auch eine persönliche Trauma-Bewältigung nennen: Auf einer meiner letzten Reisen verschlug es mich auf die Mountainbike-Trails im tschechischen Klíny. Mit Vorfreude und Enthusiasmus stürzte ich mich in das Gewirr der schmalen Wege. Doch ich wurde durch garstige Steine und Wurzeln übel malträtiert und schließlich regelrecht vom Fahrrad geschubst. Was für eine Enttäuschung! Äußerliche Blessuren gab es keine (außer einem blauen Fleck), aber das eigene Ego geriet völlig außer Balance. War meine Fahrtechnik im Gelände wirklich so schlecht? Oder hatte ich nur vergessen, dass es auf Singletracks eben rau aber herzlich zur Sache geht?

 

Jetzt werde ich den Pfad „Tewa“ zu meiner Rehabilitation unter die Räder nehmen. Er gehört zu dem riesigen Routenkomplex des „Singltrek pod Smrkem“ und er beginnt gleich hier am Parkplatz. Kommt meine Welt wieder in Ordnung oder werde ich vom Trail-Glauben abfallen?

 

Noch mit steifen Gliedern biege ich vorsichtig auf die 1 Kilometer lange schmale Spur ein. Da sind Steine, der Pfad ist ausgewaschen und Wurzeln rütteln mich durch. Geschicklichkeit ist in engen Kehren gefragt und im richtigen Moment auch Kraft oder ein bisschen Schwung. Schnell finde ich mich wieder zurecht. Die Strecke rockt, sie knufft mich, wirft mit Dreck nach mir und treibt mir doch ein breites Grinsen ins Gesicht! Als ich nach wenigen Minuten zum Parkplatz zurückkehre, bin ich zwar für heute das erste Mal durchgeschwitzt, aber mit mir und der Welt wieder versöhnt!

 

Für mich bleibt das Fazit: Mountainbike-Trail ist eben nicht gleich Mountainbike-Trail. Nicht jeder Bikepark kann das Glück haben, von einem Meister-Designer wie Dafydd Davis gestaltet worden zu sein. Und die „Singltreks pod Smrkem“ sind die schönsten Trails, die mir bisher unter die Räder gekommen sind! (Nur die Einstufung der Schwierigkeitsgrade ist reichlich „wohlwollend“. Gerade bin ich auf einer schwarzen Strecke gefahren. Schwarz heißt „schwer“, was mir zwar schmeichelt, aber kaum realistisch ist!) 

 

Nun bin ich schon wieder am Ausgangspunkt. Ich packe schnell noch etwas Proviant zusammen und mache mich auf den Weg zu meiner großen Runde. Sollte ich meine Tour mit einer Besichtigung der adretten Innenstadt von Świeradów-Zdrój beginnen? Vielleicht ein bisschen Schaulaufen auf der Kurpromenade mit Trinkbrunnen, Käffchen und Kuchen?

 

Nein, denn ich habe heute etwas Besseres herausgesucht: Es gibt einen feinen Singletrail (Schon wieder!), der sich in verwirrenden Schlenkern und Bögen quer durch den Wald zum Skywalk durchschlägt und damit das Ortszentrum bereits hinter sich lässt. Auch dieser Trail, den ich heute zum ersten Mal ausprobiere, begeistert mich. Mit Schlangenlinien und sanften Buckeln wärmt er mich zunächst sanft auf. Dann wird meinem Auge Abwechslung geboten, weil die breite Skipiste gekreuzt wird.

 

Natürlich ist die Wintersportsaison längst vorbei, aber die Kabinenseilbahn schaufelt das ganze Jahr hindurch fußlahme Touristen zur „Schronisko na Stogu Izerskim“ (Heufuderbaude). Hinter dem Skiareal verschwindet der Trail im Wald. Die Strecke wird etwas wilder und viel einsamer. Ist es wirklich wahr, dass ich immer noch im Ortsbereich von Świeradów-Zdrój bin? Um mich herum wirkt die Landschaft nun schon wie ein Märchenwald. Dazu passt die hölzerne Brücke, die mir über das Bächlein Świeradówka hilft. Das kleine Gewässer hat ein derart tiefes Kerbtal ins Gelände gefressen, dass mir beim Anblick der gegenüberliegenden Steilwand Angst und Bange wird. Wie soll ich dort wieder hinaufkommen? Doch selbst hier erweist sich die Trassierung des Trails als ausgesprochen geschickt. Natürlich kostet der Anstieg Mühe, doch er lässt sich wider Erwarten ohne Halt bewältigen und schon sehe ich die futuristische Konstruktion des Skywalks durch das Geäst schimmern.


Die Gondelbahn zur Heufuderbaude fährt auch ohne Schnee.
Die Gondelbahn zur Heufuderbaude fährt auch ohne Schnee.

Wilder Wald: Kaum zu glauben, dass ich immer noch in Bad Flinsberg bin!
Wilder Wald: Kaum zu glauben, dass ich immer noch in Bad Flinsberg bin!

Mit diesem Skywalk hat sich Świeradów-Zdrój eine ausgesprochene Touristenattraktion zugelegt. Es ist eine futuristische Eisenkonstruktion von 62 Metern Höhe mit einem spiralförmigen Spazierweg hinauf. Mit dazu gehören Extras wie ein gläserner Balkon in der obersten Etage und schwindelerregend frei hängende Krabbelgänge und Nester, welche aus stabilen Seilen geflochten sind. Dann gibt’s noch ein begehbares Netz mit nichts als Luft nach unten und um alles noch zu toppen, eine 105 Meter lange Rutsche! Nicht zu vergessen: Der Ausblick von ganz oben ist sensationell! 

 

Auch wenn für das Bauwerk ein selbstbewusster Eintrittspreis gefordert wird, sind stets ganze Völkerschaften beim Beklettern des filigranen Stahlträgergewirrs zu beobachten. So herrscht auch heute um den Skywalk herum ein jahrmarktsänlicher Trubel. Natürlich bin auch ich schon einmal auf diesen Turm aufgestiegen, aber heute liegen meine Vergnügungen eher auf der Ebene der Straße. Genau genommen rollt mein Monsta mit mir gerade am Skywalk mit all seinen Touristen vorbei.


Skywalk
Skywalk

Jetzt ist es Zeit, erst einmal tief Luft zu holen! Um möglichst wenig Kilometer auf der Landstraße zu verbringen, habe ich mich entschlossen, so weit wie möglich Nebenwege zu benutzen. Streng genommen ist dieser Nebenweg gerade vor mir für die nächsten 500 Meter eigentlich Teil der Auffahrt auf die 1124 Meter hohe Tafelfichte (Smrk) und ihre anderen 1000er Kollegen. Und jetzt möchte ich daran erinnern, dass dies die steile Seite des Isergebirges ist! Die Straße ist also gnadenlos aufsteigend und besteht zu allem Überfluss aus einem schäbigen groben Pflaster. Da hilft mir nur, mir selbst immer wieder das eine Mantra zuzumurmeln: „Es sind für mich heute nur 500 Meter!“ Ich tröste mich auch mit dem Gedanken, dass die armen Pferdchen früher sicher auch diese Straße nehmen mussten, um das hoch gelegene Dorf Izera (Groß Iser) zu versorgen.

 

(Aus Erfahrung weiß ich, dass die Weiterfahrt nach oben gleich nach diesen 500 Metern erträglicher würde. Na gut, auch da gäbe es die Höhenmeter nicht geschenkt, aber sie würden nach der nächsten Kreuzung auch nicht mehr böse in die Beine beißen. Für heute ist das allerdings graue Theorie, denn an diesem Tag will ich den Aufstieg an einer ganz anderen Stelle wagen.)

 

Die Abfahrt hinunter zur Sudetenstraße erfolgt auf bestem Asphalt umso rasanter. Die Anstrengung ist rasch vergessen, aber die erreichten Höhenmeter sind damit auch schon wieder weg.

Insider wissen, dass die Sudetenstraße ein Bauwerk aus der Nazi-Zeit ist. Und ohne dass ich mich dagegen wehren könnte, spielt in meinem Kopfkino ein Film mit Stiefelknallen, Befehle schnarrenden Unteroffizieren und donnernden Kanonen. Wohl nicht nur bei mir stellt sich bei Objekten aus dieser Zeit schnell eine Faszination ein, die an ein verbotenes, wohlig kribbelndes Gruseln erinnert. Und damit hat die Fantasie freien Raum, alle möglichen geheimen militärischen Legenden zu erfinden.

 

Bleiben wir lieber bei den Fakten: Jene Abschnitte der Sudetenstraße, die überhaupt gebaut wurden, errichtete man in den Jahren 1932-1938. Ohne Zweifel befanden wir uns hier mitten im Frieden und unzweifelhaft in deutschem Reichsgebiet. Armeeeinrichtungen waren weit und breit auch nicht zu finden. So scheint mir eine militärische Planung eher zweifelhaft.

 

Die Straße wurde jedoch modern und großzügig angelegt, wahrscheinlich weil man für die nächsten Jahre eine Massenmotorisierung erwartete. Durch einen geschickten Verlauf versuchten die Konstrukteure, die Schönheit der Landschaft zu betonen. Im Grunde wurde die Sudetenstraße dadurch zu einer Art schlesischer „Alpenstraße“. Ganz profan dürfte sie also ein Infrastrukturprojekt gewesen sein. Bestimmt konnten mit diesem Projekt wichtige Politiker auf Staatskosten ihr Image aufpolieren. Außerdem ließen sich der Tourismus und die lokale Wirtschaft fördern und bei der Gelegenheit brachte man auch gleich die Arbeitslosenzahlen herunter. (Ein Schelm, wer das mit einigen aktuellen EU-Projekten vergleicht!)

 

Bleiben die sagenumwobenen Dynamitkammern in den Stützmauern der spektakulären Todeskurve. Durch sie ließe sich der Verkehrsweg einfach in die Luft sprengen und damit unpassierbar machen. Solche Einrichtungen sind aber kein besonderes Phänomen der Nazis. Mindestens bis weit in den kalten Krieg wurden alle wichtigen Verkehrsbauten „zur Sicherheit“ mit einem Selbstzerstörungsmechanismus ausgestattet. Wahrscheinlich ist das bis heute so.

 

Für mich bringt die Sudetenstraße heute einen erfreulich mäßigen Autoverkehr und eine ebenfalls mäßige, aber lange Steigung mit sich. Auch das Wetter hat sich leider in die (Mittel-)Mäßigkeit verabschiedet. Während heute Morgen noch Sonnenstrahlen und Wolkenfetzen einen strahlend schönen Tag erhoffen ließen, ist jetzt alles grau. Wenigstens regnet es nicht. Auf beiden Seiten der Straße erstreckt sich Wald und rechts sind die steilen Hänge des Isergebirges zu erahnen. Monoton fließen die Kilometer unter meinen Fahrradreifen hindurch. Sie tun das immer schön langsam: Einer nach dem Anderen. Irgendwann gelange ich - viel später als der Optimist in mir vermutet hatte - an die „Iserkreuzung“ (Rozdroże Izerskie).

 

Heute ist die Kreuzung nur ein Wanderparkplatz und eine Wegmarke, die anzeigt, dass der Anstieg endlich ein Ende hat. Man kann aber am Straßenrand ohne weiteres die Grundmauern eines großen Gebäudes finden, sowie die Reste einer gemauerten Umfriedung. 

An diesem Ort stand ein zunächst 1880 und dann nach einem Feuer im Jahr 1911 noch einmal errichtetes Gasthaus. Sein Name war „Ludwigsbaude“. Es heißt, dass man hier Reitpferde ausleihen konnte und Sänftenträger ihre Dienste anboten. Selbstverständlich bekam man in der Ludwigsbaude auch ein Zimmer und etwas zu Essen. Die Karrierestationen der Baude nach dem Krieg sind schnell aufgezählt: 1950 präventives Kindersanatorium, dann Sommerlager, 1982 Arbeiterunterkunft des Forstbetriebs und erst 2008 der Verkauf des zur Ruine gewordenen Hauses an einen Investor. 2013 schließlich der Abriss.

 

Hier an der Iserkreuzung verlasse ich die Sudetenstraße und radle auf einem Forstweg hinunter nach Piechowice (Petersdorf). Die Route war vor dem Bau der Sudetenstraße eine wichtige Verbindung nach Bad Flinsberg. Sie führt durch den Wald und begleitet dabei den Fluss Mała Kamienna (Plessna), in dem im Mittelalter sogar Gold gefunden wurde. Laut der Beschreibung soll der Wald hier besonders schön sein, doch für mich ist der Abschnitt vor allem eine schnelle Talfahrt, dazu nebelgrau und zunehmend lausig kalt. Letzteres habe ich natürlich auch selbst verschuldet, weil ich mich schon kilometerlang weigere, zu stoppen und mir einen Pullover unter die Windjacke zu ziehen. Immerhin erhasche ich aus dem Augenwinkel noch den Blick auf ein Arbeitspferd, das nicht friert, weil es schwer schuften muss. Es ist gerade dabei, einen Baumstamm aus dem Wald zu ziehen.

 

Dann sind schon die ersten Häuser von Piechowice erreicht. Zu Hause hatte ich einen komplizierten Plan ausgetüftelt, wie ich von hier über verschiedene Haupt- und Nebenstraßen hinauf in die Berge kommen könnte. Meine Idee war, den Höhengewinn so erträglich wie möglich zu gestalten und Schiebestrecken mit Sicherheit zu vermeiden. Doch schon an der ersten Kreuzung werden meine Pläne Makulatur. Bestärkt durch das Hinweiszeichen eines Radwegs (von dem ich im Grunde gar nicht weiß, ob er in meine Richtung führt) biege ich rechts ins Ungewisse ab. Der Mut wird belohnt! Zwar bekomme ich gleich zu Beginn eine grenzwertige Steigung unter die Räder. Und auch die folgende Strecke braucht Kraft und Ausdauer. Aber sie führt zur Belohnung durch einen schönen Buchenwald. Gelegentlich gewährt sie mir sogar beeindruckende Talblicke auf Piechowice. Die verblasste Fahrrad-Piktogramme an den Bäumen lassen außerdem vermuten, dass ich nicht der erste bin, der hier mit dem Fahrrad fährt.

 

In der Nähe des Bahnhofs Szklarska Poręba Dolna (Niederschreiberhau) komme ich am verlassenen Hotel „Horzyont“ vorbei. Das anscheinend erst kürzlich sanierte Haus hat eigentlich eine traumhafte Lage mit weitem Talblick. Jetzt ist es aber schon schwer von Vandalismus gezeichnet. Mir fällt das deshalb besonders auf, weil so etwas in Polen ein seltener Anblick ist. Denn egal, wo man sonst auch hinschaut: Das Land scheint zu prosperieren und schicke Neubauten schießen überall aus dem Boden wie Pilze nach einem warmen Sommerregen.

Hinter der Eisenbahn geht es weiter aufwärts. Zum Schluss wird der Forstweg ausgesprochen steinig und dicke Felsbrocken schauen aus dem Weg. Ich versuche ihnen auszuweichen, gebe -weil es immer noch steil ist- kurz noch einmal richtig Gas und stehe sogleich vor einer interessanten Aussichtsplattform. Schade, dass sie keinen Namen hat. Sie hätte ihn verdient und ich stelle mir vor, dass dieser Name ein besonders fantasievolles Wortspiel sein müsste. Bei der Aussicht handelt es sich nämlich um ein Designobjekt. Es ist ein geschwungener Laufsteg, der sich vom Wanderweg kommend waagerecht vom Berg wegbewegt. Wegen der Böschung befindet sich sein äußeres Ende schon auf der Höhe der Baumwipfel und konsequenterweise wird einer der Bäume kreisförmig vom Steg umschlossen. In der Aussichtsrichtung können keine Bäume mehr die Sicht einschränken. Genau in dieser Blickrichtung liegt der Kamm des Riesengebirges, wo sich gleich mehrere 1400er und 1500er Gipfel aneinanderreihen. Weil diese Berge in Luftlinie kaum 10 Kilometer entfernt sind, sieht das Gebirge sehr beeindruckend aus. Korrekt muss ich sagen: „Es müsste beeindruckend aussehen.“ Denn die Erkenntnis, dass dort große Berge sind, verdanke ich nur einer Informationstafel und meiner Ortskenntnis. Leider hüllt sich das Riesengebirge heute in graue Suppe.


Das Piktogramm beweist es: Hier hinauf kann man Fahrrad fahren!
Das Piktogramm beweist es: Hier hinauf kann man Fahrrad fahren!

Die Aussichtsplattform ist ein Designobjekt ...
Die Aussichtsplattform ist ein Designobjekt ...

... mit Fernblick in graue Suppe.
... mit Fernblick in graue Suppe.

Die Aussichtsplattform an der Todeskurve der Sudetenstraße bietet im Grunde den gleichen Ausblick wie der namenlose Baumwipfelpfad. Also theoretisch. Praktisch hängen dort ja graue Wolken. Ich erreiche die Todeskurve über einen steilen und steinigen Weg nach 1 ½ Kilometern und weiteren 100 Höhenmetern. 

Wie bitte? Ich bin den ganzen Berg hinaufgekurbelt, um jetzt doch wieder nur an der Sudetenstraße zu landen? Stimmt, das hätte ich wirklich einfacher haben können, wenn ich bei der Iserkreuzung einfach auf Geradeauskurs geblieben wäre! Aber ist nicht der Weg das Ziel?

 

An diesem Ort begibt sich die Sudetenstraße in eine Haarnadelkurve mit 180 Grad-Wendung, wobei sie einen unbedeutenden Felsen umrundet. Auf diesem Felsen befindet sich heute ein Aussichtsbalkon, der den gleichen Blick bieten müsste, wie der Baumwipfelpfad vor einer halben Stunde. Auch die Straße ein paar Meter tiefer genießt diese Aussicht: Es ist ein beeindruckendes Panorama auf die Bergspitzen des Riesengebirges, die hier an ihrer Nordseite einen größeren Teil des Jahres sogar schneebedeckt sind. Und dieser überraschende und schöne Ausblick dürfte so manchen Fahrzeugführer abgelenkt haben, was beim Autofahren natürlich recht gefährlich werden kann. Daher kommt wohl der Name „Todeskurve“.

 

Aus den schon erwähnten meteorologischen Gründen gibt es heute in der Ferne nichts zu sehen. Dafür bekomme ich ganz ungeplant ein Spektakel auf der Straße und dem kleinen Parkstreifen geboten. Ein deutscher Klub von Militärfahrzeugbesitzern hat den heutigen defacto-Feiertag für eine Ausfahrt genutzt. Und nun parken hier all die olivgrünen Kuriositäten in Reih und Glied an der Todeskurve. In trauter Einigkeit stehen da jede Menge russischer UAZ (Улья́новский автомоби́льный заво́д) oder GAZ (Горьковский автомобильный завод) neben dicken amerikanischen Humvees. (Die zivile Version heißt Hummer H1. Das erste davon hergestellte Exemplar kaufte ein gewisser Herr Arnold Schwarzenegger.) Ein hier abgestellter Willys-Jeep dürfte schon den 2.Weltkrieg miterlebt haben, während andere Fahrzeuge so neuzeitlich aussehen, dass man an ein Versehen bei der Ausmusterung glauben könnte.

 

Die Verbindung von „Todeskurve“ und Kriegsgerät wirkt für mich schlüssig, wenn auch ein wenig makaber. Überhaupt erscheint mir der gebündelte Auftritt der vielen Armeefahrzeuge angesichts der andauernden Ereignisse in Polens östlichem Nachbarland erschreckend aktuell. 

Genau genommen wäre sogar die Waffenbrüderschaft zwischen dem Russen (UAZ) und dem Amerikaner (Humvee) in jenem östlichen Möchtegern-NATO-Land denkbar, dass angeblich für die Freiheit des Westens kämpft. Dass meine Synapsen dann auch noch eifrig und unbewusst die Verbindung: „Sudetenstraße - Nazis - Krieg - Armeelaster“ schalten, kann ich einfach nicht verhindern. Immerhin aber ist diese Gedankenkette absolut sinnfrei.  

Mit allerlei Getöse und schwarze Rußwolken ausstoßend, löst sich die rollende Raritätensammlung schließlich auf, formiert sich zu einer Marschkolonne und verschwindet aus meinem Blickfeld.


Auf zur Todeskurve! ...
Auf zur Todeskurve! ...

... wo unvermutet ein Rudel Armeelaster parkt.
... wo unvermutet ein Rudel Armeelaster parkt.

Ich verschwinde auch, nämlich in die entgegengesetzte Richtung auf einem asphaltierten Forstweg, der mich meinem nächsten Ziel näherbringen soll. Die Straße vermittelt das demütigende Gefühl, durch eine zähe Masse zu fahren. Oder ist gar der Reifen platt? Nichts von beidem trifft zu. Es ist nur die sanfte, kaum erkennbare Steigung, die nun auf meine langsam nachlassenden Kräfte trifft. Jedenfalls habe ich gerade das Gefühl, deutlich an Fahrt zu verlieren. Ganz falsch kann dieser subjektive Eindruck nicht sein, denn ich werde mit Karacho von einem Paar - Mann und Frau - Mountainbikern überholt. Ihre sich entfernenden Rückseiten bestimmen in der nächsten Minute meinen Blick. Da fällt mir etwas Merkwürdiges am Rucksack des Bikers auf. Der Rucksack hat Ohren! Und an den Ohren hängt doch ein Hundekopf! Tatsächlich, in dem Rucksack des Radfahrers sitzt wirklich ein Hund und schaut neugierig in die Gegend. Jetzt biegen die Radler links in den Wald ab. Dort ist nämlich ein angelegter Mountainbike-Trail und der Hund in seinem Rucksack darf die wilde Fahrt seiner Leute hautnah miterleben!

Genau diesen Trail habe auch ich mir ausgesucht. Beim Studium meiner Landkarten hatte ich diese mir unbekannte Strecke entdeckt und will sie nun ausprobieren. Dass sich diese Trails hier auf merkwürdige Weise von selbst vermehren, ist mir schon aufgefallen! Aber ob die Geländebahn mit dem legendären „Singltrek pod Smrkem“ mithalten kann?

 

Ja, sie kann! Es ist eine lustige und kurzweilige Fahrt mit wilden Schwüngen und kleinen Herausforderungen den Berg hinunter. 

Dass kurz darauf auf einem Forstweg wieder Höhe gemacht werden muss, ist keine Überraschung. Das gehört einfach dazu!

 

Es folgt ein Verbindungsstück aus Asphalt entlang der Bahnlinie nach Harrachov. Weil ich diesen Teil des Weges schon kenne, spule ich ihn ohne große Emotionen ab, denn gleich danach folgt schon wieder ein Leckerbissen. Es ist ein gut gemachter Trail mit mehreren süßen Holzbrücken, einem Wechsel aus Wald und offener Landschaft und den üblichen kleinen Hindernissen. Ein paar notwendige Steigungen sind so geschickt eingebaut, dass ich die erforderliche Kraftanstrengung gar nicht bemerke. So stark bin ich auf die engen Kurven, Wurzeln und Steine konzentriert!

 

Und dann stehe ich auch schon auf dem Neuweltpass. Er markiert praktisch die Grenze zur Tschechischen Republik. Mit 886 Metern Höhe stellt er gleichzeitig eine der bequemsten Möglichkeiten dar, die Sudeten zu überqueren. Doch bei knapp 900 Höhenmetern ist im Isergebirge eben auch nicht mehr viel Luft nach oben. So richtig lange quälende Anstiege sind nun kaum noch zu erwarten.

Ursprünglich wollte ich heute auf der polnischen Seite des Isergebirges bleiben. Die Idee war, mich auf dem nördlichsten Höhenzug bei der Wysoka Kopa (Grüne Kuppe, 1126 Meter) entlang zu hangeln und mich dann vorbei an den anderen 1000ern bis zum Smrk (Tafelfichte, 1124 Meter) durchzuschlagen. Doch die nasskalten Nebelschwaden, die sich schon hier auf Passhöhe herumtreiben, lassen das Unterfangen wenig pläsierlich erscheinen.


Dieser Rucksack hat doch Ohren!
Dieser Rucksack hat doch Ohren!

Der Neuweltpass wirkt heute nicht sehr einladend.
Der Neuweltpass wirkt heute nicht sehr einladend.

Ein neuer Plan muss her! Hier ist er: Ich radle fix auf der autofreien Asphaltbahn zur Hütte „Orle“, überquere die Iser und führe meine Runde über das tschechische Jizerka (Klein Iser) fort. Den Smrk könnte ich auch von der tschechischen Seite in Angriff nehmen.

Gesagt, getan! Schon nach ein paar Minuten bin ich an der kleinen Siedlung um „Orle“. Sie wirkt heute etwas ausgestorben, obwohl das Gasthaus wohl geöffnet ist. Das pittoresk wirkende Gebäude ist erstaunlicherweise solide aus groben grauen Steinen gemauert, während hier in den Bergen sonst üblicherweise mit Holz gebaut wurde. 

Das dieses Haus aber etwas ganz Besonders sein muss, signalisiert schon das repräsentative Eingangsportal mit seinem Glockentürmchen. Die Erklärung ist einfach: Dies war einst kein einfaches Waldarbeiter- oder Forsthaus, sondern eine Glashütte, die gleichzeitig den Mittelpunkt der kleinen Siedlung Karlsthal darstellte. Eigentlich logisch, dass man bei den Temperaturen, die eine Glasschmelze erreicht, ungern mit Holz baute.

Gleich nach der alten Glashütte biege ich links in einen buckligen Weg ab, nachdem ich noch schnell einem schwer angeheiterten polnischen Wandersmann die Richtung zum Gasthaus weisen konnte. (Mir war gar nicht bewusst, dass man auch in Polen den Vatertag feiert. Allerdings war der auch schon gestern!)

 

Jetzt stehe ich am Ufer der Iser. Die Iser ist hier ein wilder Fluss. Genauer gesagt hat sie ein wildes, breites Flussbett aus gewaltigen Steinblöcken. Heute gluckert und plätschert sie lustig über die Hindernisse, aber ich denke, zur Zeit der Schneeschmelze strudelt es hier kräftig mit Gischt und weißem Schaum. 

Eine edle, von der EU bezahlte Brücke bringt mich über diesen Fluss und schon bin ich in Tschechien. Gleich hier verkündet eine Art Verkehrsschild, dass die „cyklista“ (Fahrradfahrer) irgendetwas beachten sollen. Ich wollte immer schon einmal nachschlagen, worum es geht. Aber eigentlich kann ich es mir schon denken: Bestimmt sollen die Radfahrer auf diesem steinigen und meist gut besuchten Abschnitt schieben. Pah, schieben …  Das kommt gar nicht in Frage! Es heißt doch Fahr-Rad und nicht Schieb-Rad!

 

Nun, das mit dem Fahren ist gar nicht so einfach. Der Weg ist ganz schön steil. Quer angebrachte Entwässerungsrinnen mit groben Steinpackungen machen die Sache besonders knifflig. Natürlich versuche ich alles, um die Herausforderung zu meistern und im Sattel zu bleiben. Aber ach …  Einmal gelingt es nicht und dann darf ich doch ein Stück schieben …


"Orle", früher eine Glashütte, heute ein Gasthaus
"Orle", früher eine Glashütte, heute ein Gasthaus

Es dürfte Jahreszeiten geben, in denen die Iser weniger friedlich ist!
Es dürfte Jahreszeiten geben, in denen die Iser weniger friedlich ist!

Irgendwann lässt der Anstieg nach. Ein kurzes Stück später öffnet sich der Wald und das malerische, weit verstreute Dorf Jizerka liegt vor oder fast schon unter mir. Jizerka ist heute praktisch ein reines Touristendorf, aber es ist ein Touristendorf der unaufgeregten Sorte! 

 

Auf einer weiten Wiese verteilen sich die altertümlichen Bauernhöfe. Die Richtung, aus der ich komme, stellt praktisch die Hintertür des Dörfchens dar. Die Gaststätten und Erfrischungsstationen liegen alle nicht hier, sondern an der Hauptstraße, wo sich auch die meisten Rad- und Wandertouristen bewegen. 

Ich schleiche also an der Rückseite von Jizerka vorbei, lande schließlich auch auf der „Isergebirgs-Magistrale“ und mache mich auf den Weg zur Smědava-Baude (Wittighaus). Auf dieser Straße ziehen noch die letzten Gehöfte des Dorfs an mir vorbei und ich kann die schönen Holzhäuser aus nächster Nähe bewundern. Das vorletzte Haus auf der rechten Seite müsste das Misthaus sein.

 

Misthaus.

 

Es gibt nun zwei Möglichkeiten, wie sie, meine lieben Leser reagieren. Wahrscheinlich finden sie es merkwürdig, dass im vorigen Absatz nur dieses eine Wort „Misthaus“ steht. Vielleicht wundern sie sich auch über den eigenartigen Begriff, denn Mist mag ja nun wirklich niemand im Haus haben.

Wenn jetzt in ihnen vage Erinnerungen an eine wilde Jugendzeit hervortreten und sie sofort den Namen „Gustav Ginzel“ assoziieren, dann …

 

Ja, dann sind sie in der DDR groß geworden und waren in den 1980er Jahren etwa 16 bis 20 Jahre alt. (Ich habe gerade alte Fotos angesehen. Es scheint, dass man im Gegensatz zu heute einfach früher erwachsen war, oder sich so fühlte!) Als junger Mann trugen sie damals vielleicht längere Haare. Und egal ob Junge oder Mädchen: Im Urlaub zogen sie mit großer Kraxe auf dem Rücken auf Wanderschaft. (Für die Außenstehenden: Die „Kraxe“ ist ein Gestellrucksack.) Mit Sicherheit hatten sie eine Tendenz zur Rebellion.

 

Für alle, die nur „nádraží“ (zu Deutsch „Bahnhof“) verstehen, möchte ich die Dinge etwas ordnen: Gerade radle ich am sogenannten „Misthaus“ vorbei. Das Haus ist, wie alle Häuser in Jizerka, ein altehrwürdiges und schönes Holzhaus. Ich wäre beinahe achtlos vorbeigefahren, wenn es nicht fotogerecht in einem Meer von Osterglocken stehen würde. Irgendjemand, vielleicht sogar noch Gustav Ginzel, muss auf dieser Wiese tonnenweise Blumenzwiebeln verbuddelt haben! Und dann fällt es mir ein: Ach ja, das ist das Misthaus!

 

Gustav Ginzel kaufte im Jahr 1963 das damals schon stark verfallene Haus für gerade einmal 350 Kronen. Als er das Haus erwarb, war das Gebäude voller Mist, denn es wurde schon jahrelang als Stall genutzt, wobei man sich wegen des baldigen Abrisses das Ausmisten sparte. Daher kommt der Name Misthaus. Ginzel selbst war Selfmade-Geologe, Bergsteiger, Skiläufer, Höhlenforscher, Naturschützer, Buchautor, inoffizieller Pensionsbetreiber und vieles mehr. Kurz gesagt, er war ein Lebenskünstler! Heute würde man ihn vielleicht als einen verrückten Freigeist oder Querdenker bezeichnen. Einerseits übte er eine magische Anziehungskraft auf Denker und Intellektuelle jeglicher Couleur aus. Es heißt, dass schon zu kommunistischen Zeiten Václav Havel (der spätere Staatspräsident), Karol Wojtyła (der spätere Papst), Lothar de Maizière (die Blockflöte), sowie Redakteure der sowjetischen Prawda-Zeitung und des tschechischen Fernsehens Gäste in seinem Haus waren. Gleichzeitig eckte Ginzel in der realsozialistischen Gesellschaft permanent an, redete zu viel (und dabei viel zu staatskritisch), wurde damit zum Beobachtungsobjekt der Staatssicherheit und später sogar zum Häftling.

 

Fakt ist, dass das Misthaus spätestens Mitte der 1980er Jahre zum Wallfahrtsort für abenteuerlustige Jungerwachsene aus Ostdeutschland wurde. Sie ließen für den Urlaub das geregelte DDR-Leben hinter sich, um die Exotik einer Auslandsreise mit dem verbotenen Kribbeln politischer Dissidenz zu verbinden.

Die Anziehungskraft des Misthauses erlosch mit der Wende zu Beginn der 1990er Jahren. Gustav Ginzel war jetzt nur noch ein alter schrulliger Mann. Irgendwann, Ginzel war gerade im Ausland, brannte das Misthaus ab. Das heutige Haus ist nur eine Kopie, die seine treuen Fans finanzierten. Der alte Herr wurde mit seinem Neubau und vor allem mit der neuen Zeit nicht mehr warm. Er verstarb bald. Wie man hört, ist das Misthaus heute ein privates Wochenendhaus.  


Das Misthaus in einem Meer von Osterglocken.
Das Misthaus in einem Meer von Osterglocken.

Ein letzter Blick ins Dorf Jizerka.
Ein letzter Blick ins Dorf Jizerka.

Inzwischen bin ich natürlich am Misthaus vorbeigeradelt. Aber weit kam ich nicht. Am Ende des Ortes Jizerka zog meine Straße zermürbend lange aufwärts. Gerade senkt sie sich ein Stück, um per Holzbrücke die Kleine Iser (Jizerka) zu überwinden. In diesem Moment gibt die Straße den Blick auf ihren weiteren Verlauf frei. Natürlich weist die Richtung wieder himmelwärts und leider sieht dieser Anstieg ziemlich lang und zäh aus. Da beschließt mein Körper spontan (und doch wenig überraschend) in den Streik zu treten. Er verbündet sich mit dem willenlosen Geist und schon lehnt mein Monsta-Bike am Brückengeländer. Und ich kann nichts anderes tun, als unentschlossen herumzustehen.

 

Immer wenn andere Fahrradfahrer vorbeikommen, bemühe ich mich möglichst interessiert auf den kleinen plätschernden Bach zu schauen. Nicht das noch jemand anhielte und dem alten Mann (also mir) helfen wollte! Und tatsächlich radeln hier gerade ziemlich viele sportliche Biker vorbei, denn die Verbindung zwischen Jizerka (dem Dorf) und Smědava (der Wegkreuzung) scheint eine Art Transitautobahn für Fahrradtouristen zu sein. 

Es gibt aber einen Teil in mir, der auch in dieser Situation Rat weiß. Und dieser Teil sorgt dafür, dass plötzlich auf dem Brückengeländer ein Bambina-Schokoriegel liegt. Aufmunternd grinst mich die Kuh von der Verpackung an! Ich glaube, sie zwinkert mir sogar zu. Gut, ich muss wohl niemandem erklären, was man mit einem Schokoriegel macht …  Jedenfalls gibt es keinen besseren Energieschub! Der klebrig-süße Geschmack im Mund ist noch nicht verklungen, da sitze ich schon wieder auf dem Sattel und nehme den Berg mit ganz neuem Schwung. Die anschließende Abfahrt in Richtung Wittighaus ist reine Formsache, wobei ich die bekannte Ausflugsgaststätte gar nicht erreiche, weil ich knapp vorher rechts abbiege. Richtig, ich parke ja in Polen, da ist langsam wieder Nordkurs angesagt.

 

Jetzt bekomme ich das Isergebirge pur: Für den Radfahrer sind das vor allem lange, breite Wege mit gutmütigen Steigungen und passenden Gefälleabschnitten. Die Fahrbahnoberfläche -teils Schotter, teils Asphalt- ist fest und erlaubt schnelles Fahren. Nichts wirkt kompliziert und es stellt sich bald das Gefühl einer friedlichen Weite und Einsamkeit ein. Es scheint, dass sich sogar die Zeitwahrnehmung verändert. 

 

Während die Räder rollen und die Tretkurbel gleichmäßig rotiert, spielen Stunden und Minuten einfach keine Rolle mehr! Es ist kein Wunder, dass das Isergebirge zum Eldorado der Gravelbiker geworden ist, denn hier kann man ungestört richtig Strecke machen! (Gravelbikes sind Rennräder mit schottertauglichen Breitreifen.)

Ich sause also durch Wäldchen und an Wiesen vorbei. Kleine Teiche tauchen auf und Schilder, die amtlich auf die nahe Staatsgrenze hinweisen. Und dann wieder kommen neuer Schotter, etwas Wald und freundliche Landschaft. An einer Kreuzung mit Schutzhütte, deren Namen ich als „Am Arsch der Welt“ missdeute, brauche ich einen kurzen Navigationsstopp. Gut so, denn wäre ich einfach weitergedüst, hätte ich mich grandios verfahren! Dann wäre ich nach geraumer Zeit wieder in Jizerka herausgekommen. Wie ich inzwischen weiß, hätte der Umweg durchaus seinen Reiz gehabt, doch heute bin ich nicht mehr auf Extrakilometer erpicht.

 

Das mit dem „Arsch der Welt“ will ich kurz erklären: Auf tschechisch heißt das „v predeli světa“. Dieser einsame Ort hier nennt sich jedoch nicht „prdel“, sondern „předěl“. Ich hoffe, meine tschechischen Leser verzeihen mir, dass ich mit den ganzen Háčeks durcheinandergekommen bin! Dieser „předěl“ hier bedeutet anscheinend völlig harmlos „Wasserscheide“.

 

Dann erscheint rechts an meinem Weg die „Himmelstreppe“. Die Himmelstreppe ist ein steiler Wanderweg von einem Kilometer Länge, der direkt auf den Smrk (Tafelfichte) führt. Ich kenne die Steilstrecke schon von einem früheren Ausflug. Oben gäbe es einen schönen Aussichtsturm und den eigenen Stolz, es auf den höchsten Gipfel des tschechischen Isergebirges geschafft zu haben. (Mein gelangweiltes Hirn improvisiert dazu schnell einen Dialog: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der höchste im Isergebirgsland?“ „Herr Smrk, ihr seid der höchste hier, doch die Wysoka Kopa in Polen ist noch zwei Meter höher als ihr!“) 

Zurück zur Himmelstreppe: Sie würde einen Aufstieg um immerhin 200 Höhenmeter erfordern und sie ist keinesfalls fahrradtauglich. Um mit Monsta hinauf zu kurbeln, müsste ich einen ordentlichen Umweg in Kauf nehmen, erst einmal 50 Meter hinunter und gleich danach auf Forstwegen 250 Meter aufwärts. 

 

Nein, das ist mit meiner heutigen Restmotivation nicht mehr zu machen! Ich tröste mich damit, dass der Gipfel ohnehin im Dunst tiefliegender Wolken stecken würde, was sogar der Wahrheit entspricht. Mein letzter Blick die Himmelstreppe hinauf ist jedoch auch ein bisschen wehmütig. Denn eigentlich hatte ich den Besuch des stählernen Aussichtsturms auf dem Smrk als grandioses Finale für meine heutige Tour fest eingeplant! In meiner eigenen Vision hatte es dafür über mir auch einen blauen Himmel mit strahlendem Sonnenschein gegeben.

Als Ausgleich kann ich dafür nun den Berg hinunterrasen, ohne dafür in die Pedale treten zu müssen. Etwas Aufmerksamkeit verlangt nur noch die Wegkreuzung „U Červeného buku“ (Bei der Rotbuche), wo ich mir bei Strafe eines fiesen Anstiegs locker einen Umweg von einigen Mehrkilometern einbrocken könnte.

 

Nach meinen vielen Touren innerhalb des vergangenen Jahrs fühle ich mich im Isergebirge schon fast zu Hause. Es hat sich das schöne Gefühl eingestellt, sich zurechtzufinden und nur noch selten einen Blick auf die Landkarten zu benötigen. Deshalb weiß ich, dass gleich noch etwas ganz Feines auf mich zukommt. Für die letzten Kilometer habe ich mir nämlich vorgenommen, wieder einige Strecken des „Singltrek pod Smrkem“ zu nutzen. Insgeheim freue ich mich schon auf den Trailspaß und selbst der Verstand gibt grünes Licht, denn auch objektiv gesehen, gäbe es kaum eine sinnvolle Alternativroute. Was spricht dagegen, diesem Plan noch einen eigentlich unnötigen Kilometer Geländebahn hinzuzufügen? Richtig, nichts!


Zum Schluss noch schnell auf den Trail!
Zum Schluss noch schnell auf den Trail!

Deshalb strample ich schnell ein paar hundert Meter aufwärts, um mich mittels einer 180-Grad-Kurve in den „Novoměstská Strana-Trail“ einzufädeln. Dieser Singltrek knufft, schubst und schaukelt mich direkt zum Trailcenter „U Kyselky“. Das ist die örtliche Bier- und Servicestation für Mountainbiker. 

Während mein Monsta-Bike über Steine, Wurzeln und Rampen rockt, steigt meine Laune in den Himmel! Da stört mich auch der halbstarke Poser nicht, der hinter meinem Rücken mit blockierendem Rad hart in die Eisen geht. 

Will er mir etwa damit sagen, dass ihm der lahme alte Sack (also ich) auf die Eier Nerven geht? Aber ehrlich, was gehen mich an diesen schönen Tag und auf diesem traumhaften Trail schon die Beschwerden an fremden Körperorganen an!

 

„U Kyselky“, also die Kneipe, lasse ich im wahrsten Sinne des Wortes links liegen. Sofortiger Trailspaß ist besser als das mögliche Glas Kofola! 

 

Dass ich kurz darauf vor lauter Begeisterung einer Fahradfamilie hinterherzuckele und mit ihnen gemeinsam an einer Kreuzung falsch abbiege, bleibt nur eine kleine Episode. Zum Schluss ist es nur noch ein kurzes Stück Straße und ich bin wieder an meinem kleinen Auto. Es wird mir für die Nacht wieder gemütliche Pension und zünftige Bierstube in einem sein.

 

Da stellt sich nur noch die Frage: Wohin geht es morgen?



Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in polnischer oder tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!

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