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Burgen sammeln

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Als die Sonne am nächsten Tag beginnt, meine Behausung und mich gründlich durchzuwärmen, werde ich wach. Ich bin schon ganz aufgeregt, denn heute ist meine Burgenrunde dran! Dazu werde ich mit dem Auto ein Stück weiter in das Böhmische Mittelgebirge fahren. Erst einmal hole ich natürlich das verschobene Bad nach, genieße einen dampfenden Kaffee und packe meine sieben Sachen.


Auch hier in Tschechien, genau wie bei uns, will die Corona-Hysterie einfach nicht zu Ende gehen. Und so haben sich die Behörden wieder einmal etwas Neues und ganz besonders Schlaues ausgedacht. Diesmal haben die Bürokraten beschlossen, dass man für den Aufenthalt in der Tschechischen Republik einen Covid-Test und eine digitale Registrierung benötigt. Nur Kurzbesucher sind von der Regelung befreit. Natürlich möchte ich, der Fahrrad-Freigeist nicht gegen amtliche Auflagen verstoßen. Aber ich habe auch keineswegs die Absicht, mich bei irgendeiner Behörde anzumelden. Deshalb muss ich mein böhmisches Abenteuer eben in drei Kurzreisen aufteilen. 

 

Zu diesem Zweck lenke ich an diesem Morgen mein Autogespann zurück über die deutsche Grenze, wende an der nächsten Kreuzung und reise für weitere maximal 24 Stunden in die Tschechische Republik ein. Fast schon schade, dass ich bei Ein- und Ausreise mangels Kontrolle keinen amtlichen Stempel in den Pass bekomme! Doch insgesamt, glaube ich, hätte meine Lösung auch dem braven Soldaten Švejk gefallen!

 

Die heutige Tour startet zu Füßen einer Königin. Sie heißt Milesovka (Milleschauer) und ist mit 836 Metern Höhe die stattlichste Erscheinung im ganzen Königreich des Böhmischen Mittelgebirges. Genau genommen finde ich einen unauffälligen Parkplatz in einer Waldschneise gleich hinter dem Ort Milesov (Milleschauer). Die Vorbereitung meiner heutigen Rundfahrt geht wie immer schnell und keine 5 Minuten später sitze ich schon im Sattel. Da meine Tour mit einem sanften Anstieg beginnt, habe ich Zeit, mich umzusehen und die Landschaft zu bestaunen. Was sind das nur für herrliche Berge! Ein Vulkankegel neben dem anderen sprießt aus dem Boden eines hügeligen Landstrichs. Alle diese Berge tragen einen Pelz aus satt grünem Wald und mancher von ihnen auf seiner Spitze eine Burg. Das Land dazwischen ist meist Wiesen- oder Ackerland mit hineingestreuten Dörfern. Schroffe Felsen und harte Formen gibt es nicht, die Landschaft wirkt sanft und fröhlich. Ich wäre nicht erstaunt, wenn hinter der nächsten Bergkuppe der Gestiefelte Kater aus Grimms Märchen am Straßenrand sitzen würde. Er würde jedem der vorbeikäme glaubhaft versichern, dass dieses schöne Land dem Grafen von Karabas gehören würde. (Und der treudoofe König würde das sogar glauben!) 

 

Und erst die Straßen! Ich habe es extra auf der Landkarte ausgemessen: Über 150 Kilometer kleine und hügelige Asphaltstraßen mit wenig Autoverkehr gibt es in diesem Gebiet allein westlich der Elbe. Diese Straßen sind allerfeinste Fahrradstraßen! Ihre Anstiege sind auf fast spielerische Weise herausfordernd, gleichzeitig erlaubt der Belag ein hohes Tempo. (Bitte nicht falsch verstehen: Der Straßenbelag ist nicht überall perfekt, aber schnellfahren kann man trotzdem!) Eine Hand voll Autos stören überhaupt nicht und die Landschaftskulisse ist einfach hinreißend. 

 

Inzwischen habe ich die kleine Steigung erklommen und ein Feldweg zweigt ab. Ein Rudel geparkter Škodas verrät, dass hier etwas von touristischer Bedeutung sein muss, doch einen Wegweiser gibt es nicht. Aber richtig: Genau hier geht es zu meiner ersten Burg für heute. Sie trägt den Namen Ostrý, deutsch Scharfenstein. Es heißt von ihr, unsere Vorfahren hätten die erste Befestigung direkt in den Schlund des erloschenen Vulkans gebaut. Die natürlichen Kraterwände aus Basalt ersparten so den Bau einer Mauer. Eine richtige kleine Burg entstand wohl erst im Jahr 1433. Schon 100 Jahre später - die Festung gehörte inzwischen einem Mitglied der Familie von Wallenstein - wurde die Anlage nicht mehr genutzt. (Der berühmte Feldherr von Wallenstein war zu dieser Zeit auch noch lange nicht geboren.) Eine interessante Geschichte ereignete sich erst viel später. Ein ortsansässiger Maurer pachtete um 1780 die verfallene Burg, um dort ein Gasthaus zu errichten. (Super Idee!) Die Kneipe diente aber wohl in erster Linie der Tarnung, denn nachts begab sich der selbst ernannte Wirt auf Schatzsuche. Gefunden hat er wohl nichts von Wert, doch heutige Archologen sind immer noch böse auf ihn, denn sie finden hier auch garantiert nichts mehr!

 

Aus meinem Feldweg ist mit der Zeit ein schmaler Waldpfad geworden. Monsta-Bike und ich umkreisen die Burg und je mehr wir den Berg erklimmen, umso unwegsamer wird es. So kommt der Moment, wo ich mein Fahrrad an einen Baum schließen und den Weg zu Fuß fortsetzen muss. Große Steinbrocken liegen herum. Die Felsen um mich herum weisen interessante senkrechte Strukturen auf, gerade so als wäre die aus der Erde strömende Lava erst gestern erstarrt. Ich gelange über eine rustikale Treppe zu einem grob gemauerten Torbogen. Das Basaltgestein links und rechts ist so malerisch mit Farnen bewachsen, dass ich mir vorkomme, als hätte ich gerade einen Tempel der Maja entdeckt. Ich gehe, nein ich schreite durch das Tor, werde an einer Felswand entlang geleitet und bin schon auf der oberen Plattform der Anlage. Außer dem Eingangsbereich, ein paar wenigen Mauerresten und einem Kellergewölbe ist von der ursprünglichen Bausubstanz nichts mehr erhalten. Dafür gibt es auch hier oben eine romantische Feuerstelle und Platz genug für einen Schlafsack. Und es gibt einen traumhaften Ausblick. Natürlich, der mächtige Milleschauer-Berg drängt sich ein wenig in den Vordergrund, aber auch die vielen anderen Kegelberge in der Umgebung ziehen mich in ihren Bann. Wie muss es erst ausgesehen haben, als sie alle Feuer, Rauch und Lava ausgespien haben?! 

 

Ich versuche meine weiteren Reiseziele zu identifizieren. Da vorn, mehr zu erahnen als zu sehen, das müsste die Burg Oltářík sein. Viel weiter links, in Richtung Třebenice thront die Burg Košťálov auf ihrem eigenen Kegelberg und weit entfernt - als vorgeschobener Posten in der Tiefebene - lässt sich die markante, zweitürmige Form der Hazmburk ausmachen. 



Wenig später hoppelt mein Monsta-Bike mit mir den Burgberg wieder hinunter und schon hat mich die Landstraße wieder. Eine Folge von Alleebäumen, Dörfern, Kuppen und Kurven rauscht an mir vorbei. Dann kommt schon rechts der Waldweg zur Oltářík-Burg. Der Pfad und die kleine Rasthütte an der Waldkreuzung begrüßen mich wie alte Bekannte. Kein Wunder, wir sind alte Bekannte! Vor drei Jahren haben meine liebe Frau Tina und ich auf einem Kurzurlaub das Böhmische Mittelgebirge entdeckt. Meine Vorliebe für alte Burgen ist ja nicht neu. Und damit ist klar, dass ich vor 3 Jahren schon die eine oder andere Burg erkundet hatte. Oltářík gehörte dazu. Ich finde das gar nicht langweilig. Vielmehr genieße ich ab und zu das Gefühl, auf vertrauten Pfaden unterwegs zu sein.

 

Natürlich wirft mich der steile Pfad hinauf zur Burg irgendwann aus dem Sattel. Doch ich weiß, bis zu der alten Ruine ist es nun nicht mehr weit. Wieder parke ich mein Fahrrad kurz unterhalb der Burg und lege die restliche Strecke zu Fuß zurück. Diese Burg ist im Grunde genommen winzig. Mehr als ein vieleckiger Raum, kaum größer als ein geräumiges Wohnzimmer, passte einfach nicht auf das kahle Plateau des Bergs. Zwei gegenüberliegende Mauerecken mit einigen Fensteröffnungen sind erhalten. Sie markieren die Außenmauern der Burg. Ausgerechnet der Torbogen des Eingangs, der so altersschwach ist, dass er eine kräftige Unterstützung aus neuzeitlichen Balken benötigt, ist historisch nicht korrekt. Dort war einst eine geschlossene Wand. Dafür betrat man das Gebäude durch einen Eingang, der sich genau dort befand, wo heute eine Mauerlücke klafft.

 

Auch diese Burg entstand in den 1430er Jahren. Aus dem Hussiten-Anführer Jakoubek von Vřesovice war ein reicher Gouverneur und Besitzer großer Ländereien geworden. Zur Verteidigung seiner Reichtümer waren Burgen erforderlich. So entstand wahrscheinlich auch diese Burg. Schon 1450 ging sie an Jan von Polen. Der verkaufte sie 1468 an Zajícové z Hazmburka, von dem noch die Rede sein wird. Die kleine Festung war nie eine repräsentative Anlage und diente in erster Linie dem Schutz des nahen Gutes Třebenice. Gerade 100 Jahre nach ihrer Entstehung war die Burg bereits verlassen.

Bleibt die Frage nach dem seltsamen Namen: „Oltářík“. Der deutsche Name „Woltarik“ ist reine Lautmalerei und keine Hilfe. Auch die Übersetzung „Altarbild“ scheint wenig Sinn zu ergeben. Doch vielleicht ist die Endung -„řík“ einfach nur eine Verkleinerungsform. Dann hieße die Burg „kleiner Altar“. Vielleicht erkannten die mittelalterlichen Menschen in der Form der Burg einen Altar. Betrachtet man die geringe Größe der Burg, ist die Verkleinerung gar nicht so unpassend.

 

Das Beste an dieser Burg ist neben dem Stolz, sich wieder einmal aus eigener Kraft hier heraufgekurbelt zu haben, die Aussicht. Oltářík liegt im Gegensatz zur Ostrý-Burg beinahe am Rand des Böhmischen Mittelgebirges. Das Land geht hier in eine weite Tiefebene über, in der es nur vereinzelte Nachzügler unter den Kegelbergen gibt. Entsprechend weit ist der Blick und das Flachland scheint tief unten zu liegen. In der Ferne grüßt der tschechische Nationalberg Říp aus dem Dunst. Die vielen Lastwagen und Autos da unten auf der Staatsstraße 15 sehen wie Ameisen aus, die rastlos und unermüdlich ihrem Weg folgen. Doch noch mehr beeindruckt der Blick auf die Hazmburk, die auf ihrem eigenen steilen Berg stolz und mächtig aus der Ebene herausragt wie eine Insel aus dem Meer. Spontan beschließe ich, dass sie - die Hazmburk - die nächste ist, die ich besuchen werde.

 

Ich knipse hier noch ein paar Fotos, steige zu meinem Fahrrad herunter und versuche dann leichtsinnig eine Abkürzung. Die steile Strecke rollt sich wirklich gut herunter! Doch dann überzeugen mich dichte Brennnesselsträucher von der Sinnlosigkeit meines Unterfangens. „Mist, ich muss wieder zurück!“, schießt es mir durch den Kopf! So komme ich noch zu einem ungeplanten Bergauf-Training mit meinem Bike als Zusatzlast. Dabei kann ich mich heute über Bewegungsmangel wirklich nicht beklagen.

 

Die 10 Landstraßenkilometer bis Klapý lasse ich einfach rollen. Zunächst gibt mir die Talfahrt ordentlich Schwung, dann folgen kleine ebene Sträßchen und zwei oder drei Dörfer der ereignislosen Art. Bäume sind hier am Fuß des böhmischen Mittelgebirges rar und damit auch der Schatten. Da macht sich die Sonne, die nun doch noch zu Kraft gekommen ist, langsam bemerkbar. Im Moment stört mich das nicht sehr, denn viel leisten muss ich gerade nicht. Kurz vor Klapý gibt es einen langgezogenen Fischteich, der genau in der Sichtachse zur Hazmburk liegt. Das Bild, das sich ergibt, sieht aus, wie von einem Kunstmaler sorgsam komponiert. Wasser und Schilf führen den Blick genau in die entscheidende Richtung: Dort in Zentralperspektive befindet sich ein mächtiger Berg, auf dessen Gipfel die Hazenburk dominiert. Sie wirkt -obwohl eine Ruine - stark und gleichzeitig wohlproportioniert. Fanfarenstoß und Paukenschlag! Wäre dieses Bild ein Musikstück, wäre die Burg das tosende Finale. 

 

Jetzt werde ich die Hazmburk bezwingen. Auch hier sind mir die Örtlichkeiten vertraut. Zuerst geht es eine steile Betonrampe hinauf zum Besucherparkplatz. Eine Menge Autos sind ein Hinweis darauf, dass die Hazmburk eine richtige Touristenattraktion ist. Dagegen waren meine anderen Burgen eher geheime Steinhaufen, die sich mit einem kleinen Trick vor aufdringlichen Touristenhorden schützen. Der Trick wirkte übrigens schon vor 600 Jahren: Es ist ein steiler und unwegsamer Aufstieg. Bei der Hasenburg funktioniert das nicht. Ihr Zugang ist etwas breiter und weniger steil. Das heißt nicht, dass man nicht ins Schwitzen kommen würde, denn einige Höhenmeter wollen auch hier bewältigt werden. Die Besucher scheint das nicht zu stören. Sie kommen einfach in Scharen.

 

Die Steigung zieht sich in die Länge. Die Beine sind gut beschäftigt und mein Gesicht ist wegen der vielen Touristen bemüht, möglichst lässig auszusehen. Da habe ich Zeit, die Frage zu klären, ob es nun „Hazmburk“ oder „Hasenburg“ heißt:

 

Der Name der Burg war ursprünglich ganz anders, nämlich „Lichtenburg“. Die Festung entstand auch viel früher als ihre kleineren Kollegen in der Umgebung. Das war um das Jahr 1250 herum. Sowohl die Bauzeit als auch Größe und Form der Anlage sind vergleichbar mit den Burgen Rýzmburk (Riesenburg) am Fuß des Erzgebirges oder Bezděz (Burg Bösig) am Rande der Daubaer Schweiz (Dubské Švýcarsko). Damals baute man gern einen langgestreckten Grundriss mit zwei Türmen, von denen der untere die Zufahrtsstraße schützte, während der andere die letzte Zuflucht war. 1335 erwarb Zbyňka Zajíc z Valdeku die Anlage und jetzt wird es bezüglich von „Hazm“ oder „Hasen“ interessant. Der Mann hieß nicht nur „Hase“ (Zajíc), er trug das wendige Tier auch in seinem Wappen. Mehr noch, der Hase wurde sein Markenzeichen! So nannte man die Burg ab sofort „Hasenburg“, wahrscheinlich galt Deutsch gerade als „cool“. Mit der Rechtschreibung war man im Mittelalter bekanntlich nicht besonders zimperlich und für tschechische Zungen ist die Schreibung „Hazmburk“ einfach viel plausibler als „Hasenburg“. Zajíc ging übrigens sogar noch einen Schritt weiter. Jetzt als Besitzer einer stolzen Burg änderte er auch seinen eigenen Namen in Zajícové z Hazmburka. Wie schon berichtet kaufte er später noch einige kleinere Burgen, wie zum Beispiel Oltářík.

 

Die Hazmburk blieb über Jahrhunderte im Familienbesitz. Sie war eine starke Burg und entwickelte sich prächtig. So entstanden neben den charakteristischen Türmen auch ein Wassergraben und drei neue Palastgebäude. Auch wenn die Hussiten mehrfach versuchten, die Burg zu belagern, eingenommen wurde sie nie. Sie galt sogar als besonders sicher, so dass hier zwischen 1440–1448 ein kostbares liturgisches Gewand aus dem Prager Kloster Strahov aufbewahrt wurde.

 

Natürlich hat so eine mächtige Burg auch ein kleines Geheimnis: Es ist der Burgkeller. Wer ihn findet, entdeckt darin riesige Fässer mit ausgezeichnetem Wein. Die Fässer werden von drei alten spöttischen Männern geschützt. Der Wein darf gekostet werden, aber nur wenn man den Herren verspricht, nichts zu verraten. Wer das Versprechen bricht, stirbt wenige Tage später in einem Gefühl schwerer Verwirrung. Übrigens: Es gibt auch einen bislang unentdeckten unterirdische Geheimgang zur Burg Košťálov! (6½ Kilometer Luftlinie entfernt) Und auch übrigens: Ich lebe noch und fühle mich nicht sonderlich verwirrt.

 

Apropos Wein: Wein gibt es hier wirklich in Form eines kleinen Weinguts auf dem Südhang. Der Winzer scheint ein fröhlicher Mann zu sein. Heute sitzt er auf der Treppe seiner Hütte in der Sonne und spielt sich selbst auf der Blockflöte ein Lied.

 

Viele Ausflügler schnaufen mit mir den Burgberg hinauf oder trödeln schon wieder hinunter. So entspannt und fröhlich wie der Winzer schaut kaum jemand. Vielmehr hat es bei manchem den Anschein, dass so ein Familienausflug harte Arbeit ist! (Diese Beobachtung habe ich schon häufiger gemacht!)

 

Die Größe der Burg ist wirklich sehr beeindruckend. Die langgestreckte Form erinnert an ein Schiff, das durch den Ozean pflügt. Da ist die Versuchung groß, sich wie Kate Winslet im Film „Titanic“ mit ausgebreiteten Armen an den vermeintlichen Bug der Burg zu stellen, ein wenig zu träumen und einfach die Weite rundherum zu genießen. 



Doch lange halte ich mich nicht auf. Ich habe einfach den Unruhegeist in mir und möchte lieber der „einsame Reiter“ auf der Landstraße sein, als einer von hundert Touristen. Natürlich überschätze ich meine Ortskenntnis wieder einmal maßlos. Ich lande erneut am großen Parkplatz, statt in den Obstplantagen an der nördlichen Flanke des Bergs. Zwei sonnenheiße Zusatzkilometer mit spürbarem Anstieg sind die gerechte Strafe.

 

Auf einem Feldweg geht es strikt nach Norden, zurück in die Berge. Und zurück ist auch dieses Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit. Ja, wirklich, auch wenn die Beine schon etwas müde werden. Das hohe Gras auf dem Weg riecht nach Sommer und „guter alter Zeit“. Ein Mädchen mit ihrem Hund kommt mir entgegen. Sie hat wirklich kein Handy in der Hand! Dafür lächelt sie mich freundlich an und sogar der Hund nimmt scheinbar zufrieden sein „Sitz“-Kommando entgegen. Direkt hinter mir liegt unübersehbar die Hazmburk auf ihrem Berg. Vor mir in einem Nest aus schattenspendenden Bäumen liegt die uralte „Glückliche Mühle“ (Lucký mlýn). Auf alten deutschen Karten wird sie als Wiesenmühle bezeichnet, was auf Tschechisch eigentlich Luční mlýn heißen müsste. Wer weiß, wie die „Wiese“ zu ihrem englischen „Glück“ kam.

 

Etwas weiter vorn kann ich ein endloses Mohnfeld mit weißen Blüten sehen und auf den Berggipfeln dahinter entdecke ich auch schon mein nächstes Ziel. Es ist die Ruine der Burg Košťálov. Zu ihr hinaufzugelangen, ist noch einmal harte Arbeit. Immerhin 300 Höhenmeter verzeichnet die Karte von der Mühle bis zur Burg. Die meisten der Höhenmeter fallen auf dem kurzen Streckenabschnitt zwischen dem Dorf Jenčice und der Burg an. Schon in dem kleinen Ort komme ich wegen der Steigung so langsam voran, dass auch die trotteligsten Hofhunde das Erfolgserlebnis haben, mich zu bemerken und anschließend gründlich zu verbellen. 

 

Die Dorfstraße verliert sich in einem mit großen Steinen gespickten, unwegsamen Waldweg. Er ist nicht weniger steil als die Straße. Doch solange der sagenhafte unterirdische Gang zwischen den Burgen noch nicht gefunden wurde, ist dieser Weg nun einmal die direkte Verbindung zur Burg Košťálov. Die harte Steigung und die vielen Steine drohen langsam unangenehm zu werden. Gerade im rechten Moment kommt die Erleichterung in Form einer asphaltierten Fahrradstraße mitten durch den Wald. Den aufgestellten Schildern nach zu urteilen, hat irgendein EU-Fördertopf daran mitgewirkt. Natürlich führt die Asphaltstraße nicht bis zur Burg hinauf. Vielmehr zweigt wieder einmal ein schmaler Pfad ab, der immer steiler wird, während er den Gipfel immer enger umkreist. Einmal mehr verliere ich kurz unterhalb der Burg den Kampf gegen die Steigung und werde zum Fußgänger.

 

Die Pferde des Burgherren konnten das sicher besser. Und damit stecken wir schon mitten in der Geschichte von Košťálov. Der Burgherr dürfte nämlich nur ganz selten hier oben gewesen sein, als die Burg im 14. Jahrhundert in ihrer Blüte stand. Denn die Burg Košťálov wurde nicht von ihrem Besitzer sondern von einem Burggrafen verwaltet. Sein Name war Aleš von Slavětín. Wenn man sich so einen Verwalter leisten konnte, musste die Anlage bedeutend gewesen sein. Doch erstaunlicherweise ist heute weder bekannt, wem die Burg zuerst gehörte, noch zu welchem Zweck sie errichtet wurde. Immerhin weiß man, dass 1372 der Blitz einschlug und Aleš knapp mit dem Leben, aber mit verbrannten Stiefelspitzen davonkam. Im späten 15. Jahrhundert dann teilten sich 3 Brüder aus der Familie Kaplíř von Sulevic die Burg. Wer die Platzverhältnisse hier oben kennt, kann sich vorstellen, dass es wie in einem Reihenhaus zugegangen sein muss. Für übergroßen Reichtum spricht das nicht, aber die Kaplířs waren auch eine große Familie mit vielen Nachkommen.

 

Und jetzt bin ich schon am Ziel. Die Burg kündigt sich mit einer Art Vorplatz an. Er ist locker mit Büschen bewachsen, hat eine Feuerstelle und böte auch genügend Platz zum Biwakieren. Die eigentliche Burg liegt noch einige Meter höher auf einem Felsen. Sie ist kaum größer als die Burg Oltářík, doch hier sind die Mauern aus grobem Stein viel besser erhalten. Sie bilden das Viereck des Hauptgebäudes. Einige der bis heute vorhandenen Fensteröffnungen wirken so, als würde ihr tragender Sturz gleich morgen zusammenbrechen. Ein paar Pflanzen, die so genügsam sind, dass ihre Wurzeln mit trockenen Mörtelkrümeln als Sediment auskommen, haben sich auf den Mauern angesiedelt. Die ganze Ruine sieht sehr romantisch aus und sie lässt sich auch nach Belieben erkunden.

  

Mein Lieblingsplatz ist weit oben auf einer Mauerecke, von wo sich ein gewaltiger Ausblick - fast schon eine Vogelperspektive - auf die Burg und die umliegende Landschaft bietet. Sogar auf die mächtige Hazmburk in einiger Entfernung blicke ich ein wenig herab. Immerhin liegt sie ganze 50 Meter tiefer.

Jetzt muss ich ein Geständnis machen: Diese Burg Košťálov ist meine Lieblingsburg hier im Böhmischen Mittelgebirge. Es ist die Mischung, die mich magisch anzieht: Da ist die fantastische Aussicht. Da ist aber auch die weitgehend erhaltene Gebäudestruktur, die die Fantasie nicht überfordert, sich eine lebendige mittelalterliche Burg vorzustellen. Ein Kassenhäuschen oder gar einen Souvenirshop gibt es nicht. Auch keine Sitzbänke, Zäune oder Geländer. Dadurch wirkt die ganze Anlage unberührt, wild und ein wenig mystisch. Genau das richtige für mich!

 

Jetzt sitze ich hier angelehnt an die sonnenwarme Burgmauer. Ich bin verschwitzt, durstig, ausgepowert und erschöpft. Aber ich bin so glücklich! Was kann es Schöneres geben als an diesem herrlichen Fleck unter dem weiten Himmel zu sitzen mit einer starken, 700jährigen Burg im Rücken?

  

Und doch werde ich melancholisch. Ist es womöglich für eine lange Zeit das letzte Mal, das ich an diesem schönen Platz sein kann? Um meine Gesundheit und Fitness habe ich keine Bange, auch nicht vor dem chinesischen Virus. Aber, wir leben in wilden Zeiten. Corona hat den Mächtigen einen Vorwand geliefert, die Freiheit in eine Art Gnadenakt zu verwandeln, seltsame Vorschriften zu erlassen und Grenzen nach Belieben zu öffnen und zu schließen. Gar nicht zu reden von den unberechenbaren Zwangsmaßnahmen aller Art. Nein, das sind nicht mehr die verheißungsvollen 90er und Nuller Jahre der unbegrenzten Möglichkeiten, in denen das Portemonaise immer leer, aber die Freiheit dafür unendlich war! Heute erlebe ich überall Hysterie und Angst, die auf die Willkür zugleich unfähiger wie machtbesessener Obrigkeiten trifft. Auch international scheinen die Karten neu gemischt zu werden und jetzt wird auch mir bange: Ich fürchte, aus den wilden Zeiten könnten noch ziemlich hässliche Zeiten werden …

 

Vielleicht ist es besser, sich statt dieser düsteren lieber ein paar ganz praktische Gedanken zu machen: Wie komme ich zurück zu meinem Auto? Nehme ich auf dem Weg noch den rauchenden Berg Boreč oder Skalka, die Burg für Faule* mit? Wo werde ich heute schlafen? Und - so viel Vorplanung traut mir eigentlich niemand zu - welche Strecke werde ich morgen radeln?

 

Der Weg zurück zu meiner Basisstation erweist sich als unkompliziert und überschaubar. Sicher, die müden Beine werden noch den einen oder anderen Hügel wegstecken müssen. Die Beine sollten sich aber nicht beklagen, schließlich haben sie sich zuvor wochenlang im Home-Office erholt! Immerhin fordern sie ein Mitspracherecht. So lasse ich Boreč und Skalka für heute beiseite und sehe beide nur aus der Entfernung an. Der Berg raucht sowieso nur im Winter. (Genau genommen hält sich in seinem Inneren die Wärme des Sommers, die in der kalten Jahreszeit durch verzweigte Kanäle als warme Luft austritt.) Und die kleine Burgruine wäre nur etwas für meine Burgenstatistik, denn sonderlich reizvoll erscheint sie mir nicht. Ihr bemerkenswert gut erhaltener Turm, der leider nicht begehbar ist, ist das Einzige, was sie zu bieten hat. Dabei liegt sie nicht sonderlich romantisch mitten im Dorf Vlastislav. Angesichts der schönen und großen Kegelberge in der Umgebung, sieht der unbedeutende Steinhaufen, auf dem sie steht, zudem recht ärmlich aus.  (* Deshalb also „für Faule“: Eventuelle Bezwinger der Burg mussten sich nie einen Berg hinaufbemühen!)

 

Während ich auf dem Bike also wieder über feine Landstraßen gleite, plane ich die Nacht und den morgigen Tag. Ich werde mein Gespann wohl wieder nach Cinovec an den schon bekannten See lenken. Das widerspricht zwar der alten Wildcamper-Weisheit, nie zweimal hintereinander am gleichen Ort zu rasten, aber der Platz ist ruhig und einfach ideal. In diesem Land ist mein Škoda-Auto mit dem grauen Anhänger an Unauffälligkeit ohnehin nicht zu toppen. Auch dem bewährten Švejk-Trick morgen früh, dem Kurzbesuch in Deutschland, steht damit nichts mehr im Weg.

 

Meinen kühnen Tourenplänen für morgen werde ich wohl gehörig die Flügel stutzen müssen. Wollte ich wirklich die geplante 100+ Kilometer Runde fahren, müsste ich die Sonne bestechen, länger zu scheinen. Ein ordentliches Blutdoping a la Tour de France wäre wohl auch sinnvoll. Ach nein, das alles macht zu viel Arbeit und beweisen muss ich mir doch auch nichts … 



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