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Die steile Seite des Erzgebirges

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In meinem Bauch kribbelt es. Endlich bin ich wieder auf Reisen! Das kleine braune Auto hat die „Rollende Räuberhöhle“ - meine unkomplizierte Unterkunft in Form eines Lastenanhängers mit grauer Plane - an den Haken genommen. Wir schnurren auf der Autobahn entlang und natürlich ist auch mein Reisekumpel Monsta, das Mountainbike mit den fetten Reifen, wieder mit von der Partie. 

Die Expedition führt uns in das südliche Nachbarland, die Tschechische Republik, denn ich bin ganz vernarrt in die drei „B“:


Böhmen, Berge und Burgen. War da nicht noch ein viertes „B“? Ach ja, gegen ein gelegentliches Bierchen hätte ich natürlich auch nichts einzuwenden. Drei Tage habe ich geplant und drei Regionen möchte ich erkunden. „Drei Regionen, die so verschieden sind wie Farben der Tschechischen Fahne!“ kommt es mir etwas pathetisch in den Sinn. Zuerst - also noch heute - ist die Erzgebirgsregion (Krušné Hory) an der Reihe. Das müsste die Farbe Blau sein, denn das Erzgebirge wirkt aus der tschechischen Tiefebene wie eine unbezwingbare, dunkle und bläulich schimmernde Wand.

 

Die Farbe Rot steht für Leidenschaft und Kampf. Wer würde da nicht an Ritter und Knappen denken, an Lanze, Fahnen und Schwerter? Das Böhmische Mittelgebirge ist die Heimat unzähliger Burgen und zieht mich allein schon deshalb magisch an. Morgen werde ich eine Menge Burgen sammeln, wie andere Leute Pilze!

 

Bleibt die Farbe Weiß und mein dritter Reisetag. Die Daubaer Schweiz ist so etwas wie ein weißer Fleck auf meiner bisherigen radtouristischen Landkarte. Geplant habe ich eine Riesenrunde mit einer ganzen Reihe von Sehenswürdigkeiten. Aber was genau wird mir dort begegnen?

 

Wie schon gedacht, erreiche ich an diesem Juli-Mittwoch erst am Nachmittag den Grenzort Zinnwald, tschechisch Cinovec. Sogleich mache ich mich auf die Suche nach dem kleinen Badesee, dessen Uferwiese ich schon im Internet als Lagerplatz ausgekundschaftet hatte. Schnell parke ich das Gespann, habe mich in Sekunden umgezogen und sitze schon im Sattel. Mein erstes Ziel ist das Mückentürmchen. Es ist auf einer schmalen Landstraße zu erreichen. Diese Straße ist lieblich und hügelig und es gibt kaum Autoverkehr. Dafür habe ich einen wunderbaren Blick auf Wald und Wiesen und eine Weide mit einer Herde brauner Kühe. Das Erzgebirge ist hier auf seiner Hochfläche alles andere als eine dramatische Landschaft und damit im Grunde genau der richtige Einstieg für meine Fahrradtour. Dass der anvisierte Mückenturm auf etwa 800 Metern Höhe liegt, mag dabei ungemein sportlich klingen. Doch weil ich nun schon auf dem „Dach“ des Erzgebirges gestartet bin, hält sich die Herausforderung in Grenzen. Im Augenblick ist also nur ein kurzer Anstieg zu bewältigen. Wer mich ein wenig kennt, weiß, dass die Betonung auf „im Augenblick“ liegt.

 

Aber was ist dieses Mückentürmchen für ein Haus? Zunächst ist es ein recht markantes Gebäude, dass hier auf dem höchsten Punkt des Gebirgskamms steht, gerade an der Stelle, wo sich das Erzgebirge entschließt, sich steil in das Böhmische Becken zu stürzen. Zu Zeiten als in der Region das begehrte Zinnerz und andere Mineralien aus dem Berg geschürft wurden, befand sich im turmartigen Dach des Hauses eine Glocke. Sie meldete den Bergleuten den Beginn und das Ende der Schicht. Heute ist das Mückentürmchen ein Wirtshaus und seine Terrasse ist legendär für ihren fantastischen Ausblick. Auch wenn ich nicht einkehre, genieße ich die weite Sicht. Tief unten liegt die Industriestadt Teplice. Sie wirkt aus dieser Perspektive ein wenig wie eine Stadt auf einer Modelleisenbahn-Anlage. Und die spitzen Kegel des Böhmischen Mittelgebirges gleich dahinter sehen aus, als wären sie von einem Kinderbuch-Illustrator gezeichnet. Ich freue mich schon, dass ich morgen dort sein und mit Monsta-Bike um diese Berge Haken schlagen werde!

 

Heute habe ich aber etwas anderes vor. Ich werde mich noch eine Weile auf dem Kammweg entlang hangeln, um dann auf einem geeigneten Weg die Flanke des Erzgebirges hinunter zu surfen. Danach mache ich mich wieder an den Aufstieg. Ein einfacher und klarer Plan, oder?

 

Der Kammweg erweist sich als buckliger Feldweg. Sanft kommt er vom Hügel des Mückentürmchens herunter und führt vorbei an Wiesen und einer weiteren Rinderherde. Eine Gruppe junger Menschen in Wanderstiefeln kommt mir fröhlich plaudernd entgegen. Etwas weiter entfernt pflückt eine rüstige Rentnerin einen Strauß Feldblumen. Ja, es ist Hochsommer. Es ist Ferienzeit und es scheint eine unbeschwerte Gelassenheit zu herrschen - kein schlechtes Gefühl in diesen hysterischen Zeiten. Wenn man es ganz genau nimmt, hat dieser Juli seine heißesten Tage bereits hinter sich, aber das kann mich als Radfahrer nur freuen!

 

Endlich kommt der ersehnte Abzweig in die Tiefe. Der Weg ist steinig, aber fahrtechnisch keine große Herausforderung. Weil ich bergab trotzdem kein Risiko eingehe, verwandeln meine Scheibenbremsen die schöne Höhenenergie auf meinen Befehl in nutzlose Wärme. Viel zu tun habe ich nicht. Dafür scheinen die wenigen Wanderer, die mir jetzt entgegenkommen, ganz schön schwitzen zu müssen. Für einen winzigen Augenblick denke ich daran, dass ich später diesen Berg wieder hinaufstrampeln muss. 



In einer scharfen Kurve deutet sich schon der zweite Wegpunkt meiner heutigen Tour an. Es ist die Ruine der Burg Kysperk (Geiersburg), die in 450 Metern Höhe und damit eher im unteren Drittel der Bergflanke steht. Die Burg ist nur in Fragmenten erhalten. Doch das, was die Zeiten überdauert hat, lässt auf beträchtliche Ausmaße schließen. Wie ein riesiger spitzer Zahn ragt eine einzelne Mauerecke aus dem Waldboden. Ein ganzes Stück weiter finden sich weitere Gebäudestrukturen. Und zur Bergseite laden intakte Kellergewölbe, in denen ganz sicher ein paar alte Geister wohnen, zu einer gruseligen Expedition ein.

 

Ich lehne mein Monsta-Bike an eine dieser uralten Mauern und mache mich zu Fuß auf Entdeckungstour. Eine recht frische Feuerstelle weckt romantische Gefühle. Hier würde kaum etwas dagegen sprechen, einfach seinen Schlafsack auszurollen und die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Das ist für mich jetzt aber nur Theorie, denn mein Schlafsack liegt gut verstaut oben in der Rollenden Räuberhöhle und ich habe mich bei weitem noch nicht genug ausgetobt. Die anschließende kurze und abermals holprige Fahrstrecke ins Tal ist schnell absolviert und das Städtchen Krupka (Graupen) schließt mich in seine Arme.

 

Krupka war wohl schon immer eine Stadt des Bergbaus. Durch die Zinngewinnung wurde die Stadt bereits im 13. und 14. Jahrhundert wohlhabend. Die heutigen Gebäude sind aber nicht so alt, weil sich im Laufe der Geschichte einige Großfeuer ereigneten. Trotzdem gibt es eine innerstädtische Burg, eine ziemlich große Kirche ohne Turm von 1669 und einen historischen Marktplatz, der sich an einer Stelle befindet, wo die Straße schon steil den Bergen entgegenstrebt. Deshalb ist dieser Platz auch kein Viereck sondern nur ein etwas breiterer Abschnitt der Straße. Doch gerade hier finden sich neben dem Rathaus noch ein paar altertümliche Gebäude und natürlich eine Heiligen-Statue. (Diesmal ist es nicht der allgegenwärtige heilige Nepomuk, sondern der heilige Xaverius, eine Art multikultureller Heiliger, der sich zu Lebzeiten durch die halbe Welt missionierte.)

 

An diesem Marktplatz bin ich aber noch nicht. Zunächst radele ich an grauen Hausfassaden und gut besuchten Gastwirtschafts-Terrassen vorbei. Dann komme ich an eine Kreuzung, die mir unmissverständlich klar macht, dass es nun ernst wird und ab sofort stramm bergauf geht. Ich hole tief Luft, tausche die dicke Softshell-Jacke gegen ein leichtes Shirt und nehme die Steigung in Angriff. Einige Höhenmeter später mache ich einen kurzen Abstecher zur Burg. Die Zufahrt erfolgt über eine romantische Brücke, doch dahinter deuten Absperrungen und Planen auf eine Baustelle hin. Ich drehe wieder ab, grüße den Heiligen Xaverius und lasse schwitzend bald die letzten Häuser Krupkas hinter mir.

 

Würde ich der Straße weiter folgen, käme ich dutzende Serpentinenkurven später genau wieder am Mückentürmchen heraus. Diese Straße hat, so hörte ich, unter Rennradfahrern Kultstatus! Doch die direkte Auffahrt ist nicht mein Plan. Vielmehr möchte ich mich über schmale Forstwege langsam dem Gebirgskamm entgegen kurbeln. Noch zu Hause habe ich dazu einen Routenplan ausgetüftelt, der sich jetzt bewähren muss. Gleich als ich die Landstraße verlasse, wird es entlang eines Bächleins mächtig steil. Ein Querweg ein paar hundert Meter später schafft Erleichterung. Er steigt nur langsam und verläuft eher parallel zum Berg. Jetzt fahre ich auch unter dem Drahtseil der Seilbahn hindurch. Das nagelneue Verkehrszeichen, das vor den Gefahren durch diesen Lift warnt, zeigt eine neuzeitliche Gondel. Aber ich weiß es besser! Dieses Stahlseil trägt ganz gewiss keine hypermodernen Kabinen. Vielmehr hängen an ihm normalerweise lustig bunt gestrichene Gestelle aus Eisenrohren. Sie stellen jeweils einen Doppelsitz dar, bei dem die nebeneinandersitzenden Mitfahrer nicht nach vorn, sondern quer zur Seite schauen. Sogar über niedliche, keck nach oben geschwungene Blechdächer verfügen die kleinen Gondeln. Die ganze Konstruktion ist High-Tech aus den 1950er Jahren und war zu ihrer Eröffnung die längste Bahn dieser Art in Europa. Der längste Sessellift der Tschechischen Republik ist sie noch heute! Neben Ausflüglern und Touristen befördert die Bahn in der heutigen Zeit auch faule Mountainbiker, die es vorziehen, jegliche körperliche Anstrengung zu vermeiden. Ich vertraue da lieber auf die eigenen Kräfte. Ohnehin ist nicht klar, ob die kleine Seilbahn derzeit im Einsatz ist. Zu dieser Stunde jedenfalls weist nichts auf einen Betrieb hin.

 

Dafür gerät mein Routenplan langsam in Schieflage. Das Problem ist, dass mein Weg inzwischen nicht mehr sanft bergauf verläuft, sondern ein deutliches Gefälle aufweist. Dadurch rollt es zwar gut, aber so komme ich wohl kaum zurück auf den Bergkamm. An einer Waldkreuzung habe ich die Wahl langsam, aber sicher wieder ins Tal zu trödeln oder eine Steigung in Angriff zu nehmen, die derart brutal ist, dass an Fahren nicht zu denken ist. Ich entscheide mich für einen dritten Weg, der mich ein Stück weiter hinaufführt, sich aber nach einer Lichtung überraschend verliert. Ohne elektronische Navigation wäre ich wieder einmal aufgeschmissen. Das treue digitale Helferlein verrät mir jedoch, dass einige Meter höher ein brauchbarer Weg verlaufen müsste. So komme ich nicht darum herum, mein Gefährt ein Stück durch weglosen Wald den Abhang hinaufzuschieben. Dabei entdecke ich eine auffällige, kraterartige Vertiefung. Das müsste eine Pinge sein. Sie entstand wohl dadurch, dass ein alter Bergwerksstollen eingestürzt ist und die Erde von oben nachrutschte. Dass es hier Pingen gibt, ist überhaupt nicht erstaunlich. Dieser Berg wurde schließlich im Laufe der Jahrhunderte durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Wäre ich auf meinem Waldweg vorhin aufmerksamer gewesen, hätte ich auch mehrere verschlossene Stolleneingänge sehen müssen. Wie man hört, ist der eine oder andere Schacht auch offen und lädt zu abenteuerlichen Entdeckungstouren ein. (Reizvoll wäre das schon, aber für eine solche Expedition fehlen mir heute Zeit, Vorbereitung und natürlich bergmännisches Wissen.)

 

Mein Handy und die treue Karte von Mapy.cz haben nicht gelogen. Der mit hohem Gras bewachsene Fahrweg bringt mich ein schönes Stück weiter und vor allem nach oben. Meine nächste Zwischenstation kann nicht mehr weit sein. Es ist der malerische Kesselsee an der Bergflanke. Etwas entsetzt bin ich, als ich das kleine Gewässer plötzlich etwa 50 Höhenmeter unter mir in der Sonne glitzern sehe, heißt das doch, dass ich für diese 50 Meter umsonst geschuftet habe.  Auch lässt sich der See gar nicht so leicht erobern, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dicke Büsche von Brennnesseln haben sich in den Weg geschoben und machen die Fahrt zu einem besonderen Balanceakt auf schmaler Spur, bei dem jede Abweichung schmerzhaft bestraft wird. So ganz schlecht meistere ich diese Herausforderung nicht.

Der See entschädigt für die vorangegangenen Unannehmlichkeiten. Malerisch wird er von steilen Bergflanken umschlossen und wirkt wie eine liebliche Oase in wilder Natur. Zu diesem Eindruck tragen auch der urige Steg und die romantische, aus grobem Holz gezimmerte Schutzhütte bei. Während ich kurz raste und die Landschaft genieße, beobachte ich ein Wanderer-Pärchen, dass gerade den kleinen See für sich entdeckt. Anschließend bekommen sie gar nicht genug davon, zahlreiche Bilder von sich und der Hütte und dem See auf ihre Handychips zu speichern.

 

Natürlich ist der romantische Bergsee noch lange nicht das Ende der Steigung. Doch immerhin weist der Weg nun keine Rätsel mehr auf. Somit ist nun weniger der Kopf als der Körper gefragt. Namentlich die Beine bekommen gut zu tun. Mit ein wenig Ausdauer komme ich endlich aus dem Wald heraus und finde mich auf einer der Wiesen unterhalb des Mückentürmchens wieder. Auch hier wartet noch mal eine Steigung und ich muss zugeben, dass mein Kräftespeicher langsam auf „Notreserve“ schaltet. Doch der Mückenturm ist immerhin der höchste Punkt der Strecke, so dass mir nun ein ausgesprochen erholsamer Straßenkilometer bevorsteht. Die folgende Landstraße zieht sich ein wenig in die Länge und auch die Kühe scheinen schon schlafen gegangen zu sein. Obwohl, oder gerade weil ich auf dieser Fahrt mit Scheinwerfer und Rücklicht ausgerüstet bin, erreiche ich pünktlich vor dem Einbruch der Dämmerung meinen Badesee. Das erfrischende Bad verschiebe ich aber lieber auf morgen früh, doch eine schöne Dusche (Diesen Luxus bietet mein rollendes Hotel!) lasse ich mir nicht nehmen!

Bald verkrieche ich mich in meine Räuberhöhle und falle zufrieden in einen tiefen Schlaf …


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