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Der kleine Bruder des Ještěd

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Meine Frau Tina ist ein Sportler. Sie liebt es zu skaten und sie fährt gern Fahrrad. Sie ist begeistert von Outdoor-Aktivitäten und bewundert die Natur. Aber es gibt ein kleines Manko: Sie kurbelt nicht so gerne mit dem Rad bergauf. Und ausgerechnet jetzt sind wir im Gebirge. Was kann man da tun?

Erst mal die Landkarten checken. Da fällt mir ganz in der Nähe eine seltsam gestrichelte Linie auf. Es könnte eine Radroute sein, doch die Markierung stimmt nicht ganz mit der Legende überein. Dann finde ich die Erklärung: „1. Bildungsradweg des Riesengebirges“ (1. Krkonošská cyklo naučná stezka). Das schlaue Internet weiß auch noch, dass es in gleichmäßigen Abständen interessante Erklärtafeln gibt und dass „unangenehme Anstiege vermieden werden“. Bingo! Ohne die „unangenehmen Anstiege“ wird das bestimmt eine schöne Tour für uns beide.


Ein Riesengebirgs-Abenteuer in 6 Teilen:

Teil 1: Gipfelsturm auf den Medvědín 
Teil 2: Spindlerpass Challenge 
Teil 3: Transit Krkonoše 
Teil 4: Der kleine Bruder des Ještěd 
Teil 5: Die Wand Teil II
Teil 6: Velké Finále

Weil sich unsere Unterkunft genau auf halber Höhe einer Skipiste befindet, wird es aber doch erst einmal steil. Logisch betrachtet könnte es entweder aufwärts oder abwärts gehen. Aber wie Murphy es nun einmal will, müssen wir heute natürlich bergauf. Die Halbzeit des Anstiegs markiert die Husova bouda (Koppenblickbaude). Sie verfügt direkt an der Straße über die bemerkenswerte Einrichtung einer Selbstbedienungs-Bierzapfanlage. So etwas Verrücktes gibt es auch in der Tschechischen Republik nicht an jeder Ecke. Andererseits ist der Ort strategisch günstig. Wanderer und Radsportler, die aus dem Tal kommen, haben hier schon so viele mega-steile Höhenmeter in den Knochen, dass sie sicher großen Durst haben. Besonders interessant ist die ausgehängte Bier-Preisliste. Neben einem Normalpreis von 30 Kč verspricht sie Freibier für Polizei, Feuerwehr und Nationalpark-Ranger, während vom amtierenden Staatspräsidenten ein saftiger Aufpreis verlangt wird. Schade, dass wir bierschwere Beine jetzt noch gar nicht gebrauchen können. Deshalb lassen wir diese ganz besondere Tankstelle links liegen. 

 

Endlich nähern wir uns dem Gipfelplateau „unseres“ Bergs, des Slatinná stráň (Moorlahn). Er ist unbewaldet und über seine weite Fläche verteilen sich einige ältere Häuser. Die sind viel zu groß, als dass sie irgendwann einmal einer kargen Landwirtschaft gedient hätten. Vielmehr sehen wir die Infrastruktur von 150 Jahren Tourismusgeschichte. Auch heute sind die Herbergen in Betrieb und manche von ihnen lockt mit einem öffentlichen Restaurant. Ich stelle mir vor, wie diese Bauden wohl im Winter aussehen. Bestimmt gibt es hier auf über 1000 Metern Höhe viel Schnee. Die offene Landschaft verschafft dem Wind dann ein leichtes Spiel, um meterhohe Schneewehen aufzutürmen und ganze Häuser darin zu verstecken.



Aber das mit dem Schnee ist heute nicht unser Problem. Eher könnte es die „liebe Sonne“ ein bisschen zu gut meinen. Jetzt, wo es kaum noch bergauf geht, haben wir schnell unseren Lehrpfad erreicht. Er umkreist in weitschweifigen 20 Kilometern den Gipfel des Černá hora (Schwarzenberg). Das ist der Berg mit dem Sendeturm, der wie eine verkleinerte Kopie des spektakulären Ještěd- (Jeschken)-Hotels aussieht. Da wir nicht wie vorgesehen an der Liftstation starten, bringen wir die ganze Didaktik des Lehrpfads durcheinander. Wir sausen durch eine waldreiche Landschaft. Gelegentlich stoppen wir der fantastischen Ausblicke wegen und manchmal auch für die Weiterbildung. 

 

(So viel Neues gibt es dann doch nicht: Auf dem Lehrpfad wird schlicht das übliche ökologische Evangelium heruntergebetet. Kein Wunder, denn die Autorenschaft liegt ja bei der Nationalparkverwaltung. Neugierig bin ich nur auf die Tafel Nummer 5, denn da soll es um „Die Geschichte des MTB-Sports“ gehen. Leider erweist sich die dort verbreitete Weisheit als eine Abschrift der Wikipedia und bezieht sich auf Kalifornien.)

 

Spätestens nach den ersten 5 Kilometern Lehrpfad merken wir, dass irgendetwas mit dem Weg nicht stimmen kann. Es rollt einfach zu leicht! Grundsätzlich ist gegen etwas Unterstützung durch Gefälle nichts einzuwenden. Aber auf einem Rundweg kann es nun einmal keine Höhengeschenke geben. Also warten wir auf das dicke Ende …  Das kommt dann unweigerlich in Form einer kilometerlangen Rampe. Immerhin schwitzen wir nicht allein und liefern uns ein kleines Schneckenrennen mit einem anderen Fahrrad-Pärchen. Auch die furchtbar ernst blickenden Dauerbremser auf Tretrollern im Gegenverkehr fehlen auf dieser Route nicht. In Gipfelnähe nimmt die Zahl der Touristen dramatisch zu. Das ist der Seilbahn-Effekt! Endlich sind auch wir - ganz ohne Liftunterstützung - ganz oben. 

 

Dankbar wirft sich Tina auf eine Picknickbank, während ich es mir nicht nehmen lasse, noch einen kleinen Abstecher zu dem kleinen Sendeturm machen. Der Turm selbst ist nicht zugänglich. Ungewollt witzig ist das Kunstwerk vor dem Turm. Die Plastik zeigt eine Frau, die ein nacktes kleines Kind in die Luft hält. Weil das Klima hier oben aber wohl eher etwas rau ist, könnte man die Frau für ausgesprochen herzlos halten. Ob das im Sinne des Künstlers war? (Der Hintergrund ist eher banal: Seinerzeit gab es die Verpflichtung, einen gewissen Prozentsatz der Bausumme für Kunst auszugeben. Eingekauft wurde dann vermutlich das, was gerade im Angebot war!)

 

Die Sensation unseres Lehrpfads braucht keine Infotafeln. Sie kommt unverhofft ganz zum Schluss. (Damit haben wir trotz oder gerade wegen unseres „Quereinstiegs“ sogar die bessere Dramaturgie erwischt.) Es sind sensationelle Ausblicke auf den Hauptkamm des Krkonoše und besonders auf die Schneekoppe. 

Nach dem „satt sehen“ fehlt nur noch das satt essen. Wir haben es uns verdient! Weil wir auf der Hinfahrt schon an der Parade der Restaurant-Bauden vorbeigefahren sind, fällt die Wahl jetzt leicht. Wir schlemmen auf einer sonnigen Terrasse und haben dabei den besten Ausblick auf vorbeiflanierende Touristen und die zugehörigen Touristenhunde. Auch das eine oder andere Touristenfahrrad ist dabei. Einen besseren Ausklang einer schönen Runde kann es nicht geben. Und was ein „unangenehmer Anstieg“ ist, muss eben noch einmal definiert werden.



Weiter lesen: Teil 5  Die Wand Teil II.

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