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Gipfelsturm auf den Medvědín

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Prolog (oder die „Wand“) 

 

Unsere Autoscheinwerfer tasten sich durch die Nacht. Sie treffen auf ein massives Hindernis von gleichmäßiger Textur und dunkler Farbe. Es sieht aus wie eine glatte Wand. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass dieses Ding gar kein echtes Hindernis ist. Es ist die Zufahrtsstraße zu unserem Hotel. Sie bäumt sich in absurd steilem Winkel vor unserem Auto auf. Der Automotor brüllt unter seiner Haube einen Kampfschrei und schiebt die Fuhre einen halben Kilometer lang den Berg hinauf. Ich beginne mir ernsthaft Sorgen zu machen. Habe ich diese Gegend und dieses Hotel wirklich ausgesucht, mit der Vorstellung hier ein bisschen Fahrrad fahren zu können? Wie soll das gehen? Allein die Auffahrt aus dem Ortskern von Pec pod Sněžkou (Petzer) zu unserem Quartier wird ein Ding der Unmöglichkeit sein …

 


Ein Riesengebirgs-Abenteuer in 6 Teilen:

Teil 1: Gipfelsturm auf den Medvědín 
Teil 2: Spindlerpass Challenge 
Teil 3: Transit Krkonoše 
Teil 4: Der kleine Bruder des Ještěd 
Teil 5: Die Wand Teil II
Teil 6: Velké Finále

Dabei hätte ich doch vorgewarnt sein können. Schließlich treiben wir uns schon eine ganze Woche hier im Riesengebirge herum, einem Mittelgebirge, das so gern ein „richtiges“ Hochgebirge sein würde. Wenigstens den Titel „höchstes Gebirge der Tschechischen Republik“ trägt diese kleine Bergwelt ganz unbestritten. Das Riesengebirge heißt übrigens auf Tschechisch „Krkonoše“, was nichts anderes als der hiesige Name für den Berggeist „Rübezahl“ ist. Wörtlich müsste man also vom „Rübezahl-Gebirge“ sprechen. Wir sind also zu Besuch bei einem alten Berggeist!

 

Unser erstes Quartier steht in Špindlerův Mlýn (Spindlermühle). Das ist der touristische Hauptort hier und gleichzeitig ein Zentrum des Wintersports. Wintersport ist vielleicht nicht ganz das Richtige für den Monat August. Doch Špindlerův Mlýn schläft auch im Sommer nicht. Es herrscht ein Touristenzirkus der netten Art. Allerlei Bespaßungsbetriebe von der Hüpfburg über den Sessellift bis zum Tretrollerverleih preisen ihre Dienste und locken ein breites Publikum. Das wiederum wird von zahlreichen Restaurants versorgt, die zumeist über gemütliche Terrassen verfügen. Diese Terrassen sind abends dicht bevölkert und mit vielen bunten Lichtern illuminiert. Dazwischen rauscht die Elbe, die hier noch ein lustig sprudelnder Bach ist. Vielleicht möchte Špindlerův Mlýn ein wenig wie Davos in den Alpen oder wenigstens wie Zakopane in der Hohen Tatra sein. Zum Glück ist das nicht so! Im Grunde geht es hier eher beschaulich zu, doch es fehlt auch nichts.  


Gipfelsturm auf den Medvědín 

 

Gleich der erste Tag in Špindlerův Mlýn wird als Glückstag in die Urlaubsgeschichte eingehen. Bietet er mir doch gleich zwei Touren und sogar einen richtigen Berg! Alles beginnt damit, dass ich an der Rezeption unseres Hotels den Streckenplan eines örtlichen Mountainbike-Verleihers finde. Das ist allein schon deshalb erstaunlich, weil dieses Haus hauptsächlich Gäste der Kategorien „Stützstrumpf“ und „Kaffeekränzchen“ beherbergt. Nach dem Plan sollte es problemlos möglich sein, den Hausberg von Špindlerův Mlýn, den Medvědín (Schüsselberg oder Bärenberg) mit dem Bike zu erobern.

 

Unser Hotel liegt strategisch günstig und nimmt mir gleich die ersten Höhenmeter ab. In weiten Bögen fließt die Straße durch die höher gelegenen Ortsteile der kleinen Stadt. An einer Kreuzung, wo sich mehrere asphaltierte Straßen treffen, wird es ernst. Meine Route ist natürlich die steilste. Und diese Steigung wird mich mit ziemlich konstanter Hinterhältigkeit für die nächsten 2 Kilometer begleiten. „Das ist schon etwas anderes als die Müggelberge!“ schießt es mir durch den Kopf. Doch im Grunde habe ich es genau so gewollt. Bald ist ein halbwegs komfortables Tempo gefunden und ich rolle und schwitze so vor mich hin. Ein Anti-Sprinter, also eher der Typ für Ausdauersportarten war ich schon immer. Natürlich vergesse ich auch nicht, einen möglichst entspannten Gesichtsausdruck aufzusetzen, als ich unter dem gut besetzten Sessellift hindurchfahre. Erst als sich die Straße nach links wendet, ergibt sich ein interessanter Blick in das Elbtal. Erstaunlich, wie gewaltig tief diese Kinderstube der noch jungen Elbe doch ist. Hinter dem Flüsschen erhebt sich der mächtige Bergrücken des Riesengebirgskamms. Auf seiner Flanke liegt verteilt in weitem Abstand das Who-Is-Who der verschiedenen Bergbauden. Ganz links scheint das Tal zu Ende zu sein. Und genau dort auf der Kante glaube ich auch die markante Labská bouda (Labská bouda) zu erkennen.

 

Doch jetzt muss ich erst einmal weiter. Unvermittelt hört meine befestigte Straße auf und setzt sich als Schotterweg in beinahe entgegengesetzter Richtung fort. Dank der guten Gratis-Landkarte aus dem Hotel kommt diese Wendung für mich nicht überraschend. Jetzt ist auch die Steigung verschwunden. Im Gegenteil: Ein sanftes Gefälle verleitet zu rasanter Fahrt, was insofern risikolos ist, weil im August nicht mit Querverkehr von der Skipiste zu rechnen ist. Auch das Lächeln wirkt bei der erneuten Liftunterquerung schon viel ungezwungener als vorhin. Aber so ganz recht ist mir diese vorzeitige Abfahrt nicht. Schließlich bin ich noch längst nicht oben und die jetzt verjuxten Höhenmeter wollen anschließend erneut mit Schweiß bezahlt werden.



Schneller als gedacht komme ich in Oberschüsselbauden, besser bekannt als Horni Mísečky, heraus. Seine Existenzberechtigung scheint der kleine Skiort einzig aus der Tatsache zu ziehen, dass es eine direkte Sesselliftverbindung hoch auf den Medvědín gibt. Eben dieser Lift steht jetzt still und der Ort ruht im Sommerschlaf. Am Ende des Dörfchens gelange ich auf eine überdimensioniert wirkende Straße, die sich mit langen Rampen und engen Serpentinenkurven der Zlaté návrší (Goldhöhe) entgegenschraubt. Hier kommen mir ein paar Tretroller-„Piloten“ entgegen. Anscheinend werden diese Fahrzeuge an der oberen Liftstation des Medvědín vermietet und dürfen dann „just for fun“ die Bergstraße herunter gesteuert werden. Heute allerdings sind alle Rollerfahrer schneckenlangsam und dauerbremsend mit enorm verkniffenem Gesichtsausdruck unterwegs. Da frage ich mich, worin denn nun der Spaß eigentlich besteht. Ich verlasse die Bergstraße zwar schon in der zweiten Serpentinenkurve, doch ich glaube, sie wäre auch schon für sich ein interessantes Radfahrerziel. (*Dazu später mehr.) Ein ruppiger Weg aus Sand, Steinen und Asphaltresten lässt mich zusammen mit einigen Spaziergängern die letzten Höhenmeter auf den Medvědín erklimmen. Verschwitzt und ein wenig stolz genieße ich den Ausblick. Dieser Medvědín ist ja sogar knapp einhundert Meter höher als Norddeutschlands höchster Berg, der Brocken im Harz.

 

Obwohl es hier außerhalb der Skisaison eigentlich nicht viel zu tun gibt, lassen sich erstaunliche Menschenmengen mit dem Sessellift heraufkutschieren. Immerhin gibt es für die kleinen Menschen einen fantasievollen Spielplatz. Vornehmlich den Erwachsenen stehen eine Gaststätte, Liegestühle und schrecklich harte, hölzerne Hängematten zur Verfügung. Eine nette Idee sind riesige, aus Holz gezimmerte und mit Spielgeräten versehene Buchstaben

 

M E D V E D I N

 

am Rande der Skipiste. Stolz melde ich telefonisch meinen Sieg über den Medvědín in unser Hotelzimmer und überfalle meine liebe Frau Tina mit der Frage, ob sie mir nicht per Bike und Seilbahn auf den Berg folgen wolle. So schnell mag sie sich nicht entscheiden, aber unsere Verabredung für ein erfrischendes Bad im Talsperrensee steht! 

Für mich wird es Zeit, mich wieder auf den Weg zu machen. Beflügelt durch die angesammelte Höhenenergie wird es eine rasante Fahrt. Schade nur, dass es gerade keine Tretroller zum Überholen gibt. Hinter Horni Mísečky verziehe ich mich in den Wald. Obwohl ich nach wie vor nicht auf das Gefälle verzichten muss, zieht sich die Strecke ein bisschen in die Länge. Wenigstens kommt mir zur Abwechslung eine ganze Fahrradfamilie entgegen. Diplomatisch gesprochen sehen nicht alle Familienmitglieder besonders glücklich aus. Ich glaube, um kleineren Kindern das Radfahren zu verleiden, gibt keinen besseren Weg als diesen monotonen und schier endlosen Anstieg. Übrigens bekomme ich hier im Wald sogar noch eine gehörige Portion Matsch unter die Reifen. Da muss es wohl vor kurzem einen kräftigen Schauer gegeben haben. Als ich einige Minuten später am See ankomme, sehe ich zu Tinas Erheiterung gesprenkelt wie ein Dalmatiner aus. Das Badewasser im See ist frostig-kalt, aber trotzdem herrlich!


Fahrradfahren, Berg bezwingen, Schwimmen …  Was für ein wunderschöner Tag! Lassen wir ihn in irgendeiner netten Kneipe ausklingen …  

 

Stopp! Wieso ausklingen lassen? Es war doch von zwei Touren die Rede, oder? 

 

Ach ja, richtig! Als wir genug gebadet haben und mein Dalmatiner-Look notdürftig beseitigt ist, schwingen wir uns gleich wieder auf die Räder. Wir kurbeln zurück durch den Ortskern von Špindlerův Mlýn, dann am Sessellift vorbei immer weiter im Elbtal entlang. Laut Karte begleitet eine asphaltierte Straße die Elbe für eine Weile. In der Realität verkrümelt sich der Bach - von einem Fluss kann noch keine Rede sein - die meiste Zeit in den Wald. Die Fahrradstraße dagegen fühlt sich zäh an, als würde sie mit Klebstoff bestrichen sein. Schuld ist vor allem die sanfte, aber fortwährende Steigung, die sich optisch gar nicht wahrnehmen lässt. Vielleicht sind auch meine Kräfte auf Grund der Medvědín-Expedition vom Vormittag nicht mehr so überschäumend. Das sorgt jetzt immerhin für eine gewisse Chancengleichheit zwischen Tina und mir! Meine Frau fährt forsch voraus und lässt mir keine Gelegenheit zu trödeln. Es passiert mir nicht allzu oft, dass ich einem Fahrrad-Sperrschild entgegenfiebere. Doch heute ist genau das der Fall! Zu Fuß verspricht der verbleibende Weg entlang des Elbfalls nämlich deutlich interessanter als auf dem Rad zu werden.



Wir stiefeln einen Pfad entlang, der nach kurzer Zeit entschieden zu unwegsam ist, um überhaupt mit einem Fahrrad befahren zu werden. Verboten ist es sowieso. Die Schlucht um uns herum wird langsam immer enger und schließlich bleibt kein anderer Ausweg, als den Steilhang hinaufzuklettern. Der Pfad verläuft im Zickzack. Große umgestürzte Bäume und Felsbrocken säumen den Wegesrand, dazwischen niedriges Gestrüpp und Gras. Irgendwo rauscht die Elbe, die sich hier zu Tal stürzt. Das ist durchaus beeindruckend, jedenfalls wenn man nicht gerade die Niagarafälle erwartet. Hier ist die Elbe eben nur ein kleiner Bach. Besonders faszinieren mich die viele hundert Meter hohen, steilen Abhänge, die das Tal in die Zange nehmen. Wir sind uns ganz sicher, an einem Steilhang in der Ferne Gämsen zu entdecken, dabei heißt es doch, dass es diese Tiere im Riesengebirge gar nicht gibt. Ein paar Meter weiter schiebt sich die auffällige Gestalt der Labská bouda ins Bild. Oft hört man ja, die Baude wäre ein Schandfleck, der unbedingt abgerissen werden sollte. Ich bin da nicht so hart: Der Architekt, der das Haus in den späten 1960er Jahren gezeichnet hat, hat sich durchaus etwas dabei gedacht. Die kantige Betonstruktur ist versöhnlich mit Holz verkleidet und klebt wie ein Ausguck am Abhang. Obwohl sie Platz für 79 Gästezimmer mit bester Aussicht bietet, überragt sie das Bergplateau nicht. Blickt man von einem der umliegenden Gipfel, ist dieses große Hotel nur deshalb auszumachen, weil es sich farblich von der Umgebung abhebt. Aus einiger Entfernung betrachtet, verschmilzt es mit der umliegenden Landschaft. Nur wenn man direkt unterhalb auf dem Wanderweg steht, sieht man ein stolzes vielstöckiges Gebäude ganz im selbstbewussten Stil seiner Epoche. Eigentümlich ist, dass man das Haus über seine Dachterrasse betritt. Hier ist auch das Restaurant, während alle Zimmer kurioserweise in den unteren Ebenen liegen. Aus der Nähe betrachtet ist die Architektur dann doch nicht so mondän und großzügig, wie sie von weitem erscheint. Dort, wo man den Haupteingang vermutet, ist nur ein kleiner Kiosk. Vielmehr schleicht man durch eine Art Seiteneingang in das Haus, dass innen eng und verwinkelt wirkt. Doch zum Glück hat der Architekt doch noch einen Platz für eine zünftige Selbstbedienungsgaststätte gefunden. Unsere Rettung! Wir hauen bei Blaubeerknödeln mit Frischkäse(!) und geschmolzener Butter ordentlich rein und tanken Kraft für die Rückwanderung. Die verläuft dann später ohne besondere Vorkommnisse und wir freuen uns, am Abend die Füße hochlegen zu können.

 

 

Im Stillen wünsche ich dem originellen Gebäude der Labská bouda und echten Wahrzeichen des Riesengebirges viel Glück für die Zukunft. In Zeiten von Kostendruck und Naturschutz-Fundamentalismus wird es für dieses bemerkenswerte Bauwerk nicht leicht sein, zu überleben!



*PS:

 

Hier noch der angekündigte Nachtrag zur erwähnten Serpentinenstraße von Horni Mísečky zur Vrbatova bouda (Goldhöhenbaude): Die feine Straße wird Masaryk-Bergstraße genannt und wurde in den 1930er Jahren als Arbeitsbeschaffungsprogramm erbaut. Vermutlich gab es von Anbeginn auch militärstrategische Gründe für diese Straße. Jedenfalls baute die tschechische Armee am Ende der Straße einige Gebäude und die obligatorischen Bunker. 60 Jahre später diente diese Straße als Etappenziel für die Friedensfahrt (die Tour de France des Ostens) und heute kutschiert ein Linienbus lauffaule Touristen bis hinauf zur Baude. Im Grunde handelt es sich um eine Traumroute für Höhenmeterfresser auf dem Rad. Die richtigen Sportler fahren dann sicher die ganze Strecke von der Softeis-Bude im Ortskern von Špindlerův Mlýn über die auch von mir gefahrene Route nach Horni Mísečky und weiter über die Masaryk-Bergstraße bis zur Vrbatova bouda. Die Distanz beträgt bei dieser Streckenführung 12 Kilometer bei 780 Höhenmetern. Dazu kämen dann noch einmal 3 weitgehend flache (und auch mit dem Fahrrad legale) Kilometer bis zur Labská bouda.    

 


Weiter lesen:  Teil 2  Spindlerpass Challenge.

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