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Sibirien

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Wenn das Riesengebirge nichts mit mir zu tun haben möchte, wechsle ich eben in das benachbarte Isergebirge. Zwar gab es da vor einem Monat auch viel Schnee, aber das wird sich wohl erledigt haben, denn nun haben wir beinahe Mai!

 

Gestern im Riesengebirge hatte Rübezahl mir ja die kalte Schulter gezeigt.


Starten möchte ich auf jeden Fall in der Nähe von Nové Město pod Smrkem (Neustadt an der Tafelfichte), weil ich dort schon einige Wege kenne. Die kürzeste Anreise führt über Harrachov (Harrachsdorf ) und anschließend durch Polen.

 

Als ich per Auto durch die Gegend gondle, kommt mir eine Idee: Warum bleibe ich nicht gleich auf der polnischen Seite und starte meine Fahrradtour in Świeradów-Zdrój (Bad Flinsberg)? Ein feiner Parkplatz findet sich schnell am Rande des Ortes bei der Talstation des Skilifts. Schnee gibt es hier übrigens keinen mehr. Das ist schon einmal gut!

 

Gleich beim Parkplatz steht ein frisch eröffneter stählerner Aussichtsturm. Von oben habe ich einen weiten Ausblick nach Norden auf die schlesische Tiefebene. Schön, aber für eine Schneeprognose ist das die falsche Richtung. Aber auch der Blick in die Berge gibt Entwarnung. Von Schnee gibt es (fast) keine Spur. Da steht der Ausfahrt nichts mehr im Wege und ich bastle mir im Geiste meine Route für den heutigen Tag zusammen. Auf ausgewiesenen Mountainbiketrails würde ich die Berge nördlich umrunden, an Nové Město vorbei, bis ich in der Nähe von Hejnice (Haindorf) bin. Von dort käme ich auf der kurvenreichen Asphaltstraße recht bequem in die höheren Regionen des Isergebirges und zum Wittighaus (tschechisch Smědava). Da oben müsste ich weitersehen. Doch wenn irgend möglich würde ich die Bergkette und den Grenzfluss Iser möglichst weit im Süden - vielleicht in Jizerka (Klein Iser) - überqueren, so dass ich schließlich auf polnischer Seite zurück zum Ausgangspunkt käme. Das wäre eine schöne große Runde durch das ganze Gebirge ganz ähnlich der ursprünglich geplanten Riesengebirgstour. Nur wären das Geländeprofil und die Wetterverhältnisse hier bestimmt ein wenig zahmer als in den „großen“ Bergen nebenan.

 

Gleich hinter dem Parkplatz rockt der Mountainbike-Trail los. Er jagt mich quer durch den Wald, ohne dabei viel an Höhe zu gewinnen oder zu verlieren. Ich schlage Haken um Bäume, die scheinbar immer im Weg herumstehen und sause in kleine Talsenken nur um mit dem erzielten Schwung mit Ach und Krach über die eine oder andere dicke Baumwurzel zu holpern. Damit die Fahrt nicht zu gleichmäßig wird, sorgen so genannte Steingärten für zusätzliche Rüttelei. Fürs Auge (und fürs bessere Vorankommen) spannen sich niedliche Holzbrücken über kleine Bäche. Kurz gesagt, ich habe Spaß und meine Bedenken, dass die Strecke zu anspruchsvoll sein könnte, verfliegen ganz von selbst. Zuerst war mir nämlich etwas mulmig, weil diese Piste die Kennfarbe Schwarz (schwer) hat.

 

Nach dem tschechischen Grenzstein geht die Berg-und Talbahn nahtlos weiter. Nur die Streckenbezeichnungen, die in Polen meist nach dem nächsten Berg benannt sind, werden hier fantasievoller: Auf „Reichem Trost“ folgt ein „Asphaltiger Todeskampf“, danach gibt es ein „Geschenk des Glückes“, welches man vielleicht auf der „Straße der Beerdigung“ gut gebrauchen kann. (Bohatá Útěcha/ Asfaltová Agónie/ Nadílka Štěstí/ Smuteční Cesta) Ich gönne mir sogar noch eine Extrarunde um den Berg Měděnec. (Kupferberg) Vom Bergbau gibt es heute keine Spuren* mehr, aber die Landschaft legt hier noch einen Zahn zu: Buchenwälder, Lichtungen, Bäche …  Und mitten hindurch führt immer mein Trail, gewürzt mit Buckeln, Staub, Steinen und einem Schuss Schlamm. Herrlich!

  

*Wie ich später erfuhr, gibt es sehr wohl an den Berghängen noch einige versteckte Stolleneingänge des Kupferbergbaus.

 

Mein weiterer Weg führt mich zu einer schönen Holzhütte, der Hubertusbaude (Turistická chata Hubertka). Sie ist geschlossen, was man ihr nicht verdenken kann, denn die Skisaison ist vorbei und der erste Ansturm der Mountainbikefahrer ist frühestens in zwei oder drei Wochen zu erwarten. Von der Hubertusbaude ist es nur ein Katzensprung hinunter zur Wittighaus-Straße.



Am Rand der Passstraße verschnaufe ich erst einmal. Ich rufe alle meine Kräfte zum Apell, auf das sie sich versammeln. In der nächsten halben Stunde wird es schließlich um Höhenmeter gehen! Die Straße ist zwar asphaltiert, sogar fahrradfreundlich wenig befahren und mit ihren Serpentinenkurven auch nicht einmal langweilig. Doch hinauf muss ich trotzdem! Insgesamt sind rund 300 Höhenmeter zu bewältigen. Es liegt in der Natur eines Anstiegs, dass er seine Zeit einfordert. Ich lasse derweil einfach die Seele baumeln und die Gedanken herumschweifen, während die Beine völlig davon entkoppelt beschäftigt sind. Auch wenn es absurd klingt: Ich kann solche Anstiege absolut genießen! Nach einer finalen langen Geraden tauchen überraschend Häuser auf und mir wird klar, dass ich die Wegkreuzung am Wittighaus erreicht habe. Diese Ortsbeschreibung ist leider etwas irreführend. Das schöne alte Gasthaus wurde im vergangenen Jahr unter dubiosen Umständen abgerissen. Man munkelt von einem Luxusneubau, doch vorerst ist „Wittighaus“ nur noch eine Ortsbezeichnung. 

 

 „Da oben müsste ich weitersehen.“, schrieb ich vor einigen Absätzen. Genau das ist jetzt meine Position. Es ist Zeit, über die weitere Route nachzudenken. Als ich meine Blicke schweifen lasse, sehe ich auch sofort einen alten Bekannten. Es ist der Schnee! Auch hier liegt er an den Wegesrändern und auch auf der im weiteren Verlauf der für die motorisierte Allgemeinheit gesperrten Straße. Damit hatte ich echt nicht gerechnet!

 

Meine Idee, über die Iserska Straße direkt nach Jizerka vorzustoßen, gebe ich auf. Zwar glänzt dieser Weg auf den sichtbaren nächsten Metern im satten Schwarz des Asphalts. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass hier durchgehend geräumt wurde. Außerdem müsste es bis nach Jizerka noch ein paar Meter aufwärts gehen, was die Schneesituation verschärfen könnte.

 

Größere Chancen rechne ich mir aus, wenn ich die Schranke ignoriere und der Hauptstraße einfach weiter folgte. Hier sind allerdings noch einige größere Schneeflächen zu sehen. Nach meiner Vorstellung sollte es aber nun beständig abwärts gehen, wodurch sich das Schneeproblem schnell lösen würde. Außerdem hätte ich auf diesem Umweg die Gelegenheit, mir den zerborstenen Staudamm anzusehen. Von ihm habe ich schon im Abenteuerroman „Der Pfad des Mutes“ von Miloš Zapletal gelesen. Dieser Staudamm stand schon lange vor dieser Tour auf meiner To-Do-Liste. Von diesem technischen Denkmal würde ein direkter und ausgewiesener Fahrradweg nach Jizerka führen. Sollte dieser unpassierbar sein, ließe sich mein Umweg auch weiter verlängern. Nur auf Autostraßen käme ich auch über Polubný (Bad Wurzelsdorf ) nach Jizerka.

 

Auf den nächsten Kilometern bekomme ich zu spüren, was passiert, wenn man gründliches Kartenstudium durch grenzenlosen Optimismus ersetzt. Im Isergebirge verhält es sich nämlich so: Ist man erst einmal auf einer gewissen Höhe angekommen, wird sich für einige weitere Kilometer an dieser Höhenlage wenig ändern. Konkret heißt das: Egal welche Straße man vom Wittighaus nimmt, die 800 Meter Höhe werden in der nächsten halben Stunde kaum unterschritten. Und damit bleibt auch der Schnee. Im Gegenteil: Auf meiner gesperrten und nicht geräumten Straße werden die Schneefelder nun immer zahlreicher und dicker. Bald ist die ganze Straße bedeckt. Der Schnee ist weich und schmierig. Da es nun nicht mehr bergauf geht, kann ich die Hindernisse mit etwas Schwung angehen. Prompt gerate ich ins Schlingern und benötige manchmal die ganze Breite der Straße, um nicht zu Fall zu kommen. Wenigstens muss ich nicht schieben! Vor Autos brauche ich mich auch nicht zu fürchten, denn die kämen durch die weiße Pampe gar nicht durch! Ganz langsam geht es immer weiter abwärts. Dadurch keimt die Hoffnung auf, dass gleich hinter der nächsten Kurve der Schnee aufhören würde. Die Kurve kommt und gibt den Blick frei, natürlich auf weiteren Schnee! So geht das einige Mal und ich frage mich, wo all diese Schneemassen hergekommen sind. Schnell wird jedenfalls klar, dass auch im Gebiet der Talsperren die Farbe Weiß dominieren wird.

 

Im Süden des Isergebirges gibt es mehrere Talsperren und Stauseen. Einige von ihnen sind schon recht alt. Und mit einem der Staudammprojekte war ein großes Unglück verbunden. Aber der Reihe nach: Ende des 19. Jahrhunderts gab es in den Tälern am Fuß des Isergebirges einige Flutkatastrophen. Einmal war sogar Reichenberg (Liberec) überschwemmt. Deshalb beschloss man -nach deutschem Vorbild - die Flüsse aufzustauen und damit den Wasserstand zu regulieren. Als erstes entstand im Jahr 1906 die Talsperre Bedřichov an der Schwarzen Neiße. Der Stausee soll heute sehr idyllisch sein, liegt aber leider nicht auf meinem Weg.

 

Das zweite Projekt waren die Staudämme an der schwarzen und weißen Desse. Beide Talsperren waren sozusagen Zwillingsschwestern, die sogar durch eine unterirdische Rohrleitung miteinander verbunden waren. Beide wurden im Jahr 1915 fertig und bewährten sich beim Frühjahrshochwasser 1916. Am 18. September 1916 geschah schließlich das Unfassbare. Der Staudamm an der Weißen Desse wurde vom Wasser fortgerissen. Von der Entdeckung eines kleinen Rinnsals, dass durch den Wall sickerte bis zum totalen Kollaps vergingen keine 2 Stunden! Der Wasser- und Schlammschwall riss im Tal 100 Häuser mit sich und 62 Menschen kamen zu Tode. In der Folge ließ man sicherheitshalber auch aus dem benachbarten Staubecken an der Schwarzen Desse das Wasser hinaus und inspizierte den Staudamm gründlich. Als keine Fehler gefunden wurden, entstand der heutige Stausee „Souš“ ein zweites Mal. Nach einer kleinen touristischen Blüte in den 1960ern ist dieser See seit Jahren für den Trinkwasserschutz großräumig abgesperrt, aber sein Staudamm verrichtet immer noch unauffällig seinen Dienst.

 

Nur der Vollständigkeit halber sei der Stausee „Josefův Důl“ erwähnt. Er ist der größte und wurde erst 1982 fertiggestellt. Auch er ist als Trinkwasserschutzgebiet eine Sperrzone.

 

Wenn ich von den Talsperren auf meinem Weg sprach, meinte ich die Anlagen an der Schwarzen und Weißen Desse. Der zerborstene Staudamm ist im Gelände immer noch in jenem Zustand erhalten, der sich nach dem Unglück ergeben hatte. Nur die Natur hat sich in Gestalt großer Bäume einen Teil des Sees zurückgeholt. Heute ist die Staudamm-Ruine eine Touristenattraktion und macht auch mich sehr neugierig.

Doch mit dem Fahrrad werde ich ganz bestimmt nicht zu diesem Ort vordringen können. Der verkrustete Schnee hat den Weg für Mountainbikes unpassierbar gemacht. Aber wozu habe ich meine Beine? Ein letzter Blick auf die Landkarte bestätigt mir eine erträgliche Entfernung. Mit dem Gedanken: „Dann wird das eben eine Bike & Hike Erfahrung“, mache ich mich auf den Weg.

 

Seit den Recherchen zu meinem Buch „Bike & Hike Elbsandsteingebirge“ bin ich erst so richtig auf diesen Geschmack gekommen: Das Fahrrad und die Wanderstiefel ergänzen sich prächtig! Für das Fahrrad sprechen eindeutig Reichweite, Fahrspaß und sportlicher Ehrgeiz. Welcher Wanderer kann schon Strecken von 50, 70 oder gar 100 Kilometer bewältigen und sich damit gleich mehrere spannende Ziele an nur einem Tag erschließen? Mit dem Fahrrad ist das kein Problem! Das Bike schneidet hier sogar besser ab als jedes Motorfahrzeug, denn es meistert trickreiche Abkürzungen und entlegene Waldpfade. Wenn diese Pfade traumhafte Mountainbike-Trails sind, wie ich sie heute Morgen erlebt habe, weicht das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. Im Fall von Wildzäunen, Bahndämmen und sonstigen Hindernissen wird der Radfahrer sekundenschnell zum Fußgänger mit Roll- oder Tragegepäck. Die Rückverwandlung geht genauso rasch. Doch die wirklich spannenden Orte erreicht man nur zu Fuß. Kein Fahrrad der Welt ist geländegängig genug, um dahin zu kommen, wo sich Füße geschickt über Stock und Stein (oder eben Schneefelder) tasten und nicht selten Hände unterstützend zupacken müssen. Dem Bike & Hike Erlebnis stehen nur zwei Dinge im Weg: Der Stolz des Fahrradfahrers und ein möglicher Mangel an einem ordentlichen Fahrradschloss. Letzteres habe ich eingepackt und die Sache mit der Radlerehre habe ich längst abgehakt. Nein, ich muss nicht jeden einzelnen Meter radeln!

 

Nach einer guten halben Stunde erreiche ich das Gelände des zerborstenen Damms. Mir bietet sich ein surreales Bild. Auf einer Waldlichtung, kilometerweit von jeder menschlichen Siedlung entfernt, steht inmitten einer seltsam modellierten Hügellandschaft ein schlanker gemauerter Turm. Der Turm ist eine Ruine. An der gähnenden Fensteröffnung weit oben hängen die Reste eines verrosteten Balkons. In Verbindung mit der klaren Luft, dem strahlenden Sonnenschein und den noch zaghaften Vorfrühlingsfarben der Natur ergibt sich eine perfekte Kulisse, die aus einem Phantasy-Film stammen könnte. Selbst der Schnee, der sich noch nicht ganz aus der Ebene zurückgezogen hat, passt gut ins Bild. Um die Spannung zu dämpfen, die sich in Erwartung einiger Gnome oder Elfen auf der Turmspitze ergibt, murmelt friedlich das Bächlein der Weißen Desse durch das Gelände. Aber wer weiß, bei Berücksichtigung gängiger dramaturgischer Tricks in Film und Fernsehen, könnte das auch die Ruhe vor der großen Schlacht sein!

 

In den folgenden zehn Minuten mache ich eine Runde, um die ausgedehnten wasserbaulichen Anlagen zu besichtigen. Als der große Kampf der Phantasy-Figuren dann immer noch ausbleibt, sich im Gegenteil weder Mensch noch Tier zeigt, begebe ich mich auf den Rückweg zu meinem Bike. Der Weg kommt mir länger vor als vorhin, aber verlaufen kann ich mich hier nicht. Endlich sehe ich am Eingang der Waldschneise mein Fahrrad geduldig auf mich warten. Gut so, ich bin genug durch den Schnee gestapft.



Den direkten Weg von nach Jizerka, dem ich von hier mit dem Rad folgen wollte, kann ich vergessen. Ja, auch dort ist alles voller Schnee  :-( 

 

Kurzentschlossen bleibe ich eben auf der Straße. Diese schnelle Entscheidung addiert gleich einmal 7,5 Kilometer und einen fetten Anstieg zu meiner Route dazu. Gut, dass mir das in diesem Moment nicht so ganz klar ist! Vorerst geht es weiter in einem wilden Wechsel von trockenem und nassen Asphalt und matschigen Schneefeldern, die sich zum Glück meist ganz am Fahrbahnrand umfahren lassen. Dafür sorgen dort Pfützen für eine leichte Wasserkühlung meiner Rückseite. Inzwischen fahre ich immer am Ufer des Souš Stausees, also der aufgestauten Schwarzen Desse, entlang. Dieser Damm hat ja im Gegensatz zu seiner Schwester bis heute gehalten. Die Dammkrone ist -dem damaligen Zeitgeist entsprechend- sehr dekorativ mit allerlei Türmchen gestaltet. In der Nähe der Talsperre versperrt eine weitere Schranke meinen Weg. Dahinter bin ich wieder auf öffentlicher Straße. Besonders verblüfft mich, dass gleich hinter der Schranke auch der Winter vorbei ist.

 

Hier gibt es keinen Schnee und kein Eis mehr! Stattdessen trockener Asphalt, grüne Wiesen und in den Gärten die Blütenpracht des Frühlings. Gleich unterhalb des Stausees kuschelt sich die Siedlung Černá Říčka (Schwarzfluss) in einer Mittelgebirgslandschaft mit ausgesprochen bergiger Umgebung mit steilen Hängen und tiefen Tälern. Ich schraube mich unter Aufsicht der Sonne, die es nun schon etwas zu gut mit mir meint, den Berg hinauf in den Nachbarort Polubný. Auch hier sehe ich freundliche Häuser, Frühlingsblumen und Menschen, die auf Bänken sitzend die Sonnenstrahlen genießen. Hier beginnt die Straße nach Jizerka, die verkehrstechnisch eine Sackgasse ist. Zu meiner Freude geht es jetzt nur noch wenig bergauf, aber diese Straße fühlt sich endlos lang an. Fast schnurgerade geht es leicht auf und ab. Links und rechts der Straße ist je eine schlammige Traktorenspur, links dazu noch eine Telegrafenleitung, dahinter kommt Wald. Und links und rechts der Straße gibt es auch wieder Schneeflächen. (Ich weiß, das wird langsam langeilig!) Jizerka, also Klein Iser, muss immer schon so etwas wie das Ende der Welt gewesen sein. So ist es wohl nicht verwunderlich, dass sich hier ganz besondere Menschen angesiedelt hatten …

 

Nach dieser Einleitung werden wahre Kenner des Isergebirges auf ein paar Worte zum berühmten Misthaus in Jizerka warten. Ich will ihnen den Gefallen tun, auch wenn ich glaube, dass diese Geschichte schon mindestens einmal zu oft erzählt und verklärt wurde. Deshalb hier nur kurz: Im abgelegensten Teil der damaligen Tschechoslowakei - also hier - erwarb der Bergsteiger, Naturmensch, Aussteiger und Dissident Gustav Ginzel für 345 Kronen einen alten und heruntergekommenen Viehstall. Der Exzentriker entkernte das Gebäude auf ungewöhnliche Weise, baute es zu einem privaten Kuriositätenkabinett aus und betrieb darin eine Art inoffizielle Pension für Rucksacktouristen und andere subversive Elemente. Besonders unter ostdeutschen Hippies der 1980er wurden Ginzel und sein Misthaus schnell zum Kult. Heute erzählt eben jene Generation mit leuchtenden Augen die Geschichten von damals. Glaubt man ihnen, so war Ginzel ein Held und das Misthaus das konspirative Exil aller Guten und Edlen …

 

Auf meiner Tour habe ich das Misthaus in Jizerka nicht besucht. Wozu auch? Es ist ein ganz regionstypisches, normales Bauernhaus. Außerdem gibt es das alte Misthaus gar nicht mehr. Es ist inzwischen einmal komplett abgebrannt. Ostdeutsche Träumer spendeten für den Wiederaufbau. Doch der alte Ginzel fühlte sich in dem originalgetreuen Neubau nie mehr richtig zu Hause. Als er bald darauf starb, wurde das Misthaus verkauft und ist heute ein ganz profanes privates Wochenendhaus. Doch das Misthaus-Gefühl kann ich trotzdem ein wenig nachempfinden. Es ist das Gefühl, hier auf den hoch gelegenen Wiesen des Isergebirges außerhalb der engen Regeln der Gesellschaftsordnung zu leben, im Einklang mit einer meist rauen und bisweilen lieblichen Natur. Besonders im Winter muss dieses Leben aber recht hart gewesen sein.

 

Zurück zur Gegenwart: Welche Härten erwarten mich jetzt? Das Wenige, was ich über die Strecke, die jetzt vor mir liegt, weiß, lässt sich in drei Sätzen sagen:

 

(1) Über einen unwegsamen aber kurzen Waldpfad werde ich zu einer Holzbrücke kommen, die über die Iser und damit nach Polen führt.

(2) In Polen gibt es ausgewiesene Radrouten nach Świeradów-Zdrój (Bad Flinsberg), die aufgrund der Schneeverhältnisse aber schwer passierbar sein könnten.

(3) Insgesamt sind es ab der Brücke nur noch ca. 5 Kilometer bis zum Ziel, die ich im schlimmsten Fall schieben müsste.

 

Der letzte Satz ist eine Mischung aus Irrtum und Selbstbetrug. Tatsächlich sind es in Polen noch 14 Kilometer und 250 Höhenmeter (nur aufwärts gerechnet) Waldweg bis zu meiner Schlafhöhle. Disponierte ich jetzt noch um und würde mich ausschließlich für geräumte Autostraßen entscheiden, wäre ich nicht nur umsonst nach Jizerka geradelt, ich hätte jetzt noch 46 Straßenkilometer und 750 Höhenmeter* über Harrachov und Szklarska Poręba (Schreiberhau) vor mir. Das ist wirklich keine Option! 

 

*Natürlich habe ich diese Zahlen erst nachträglich ausgerechnet. Aber die Größenordnungen werden mir schlagartig beim Blick auf die Karte klar, während ich auf dem Parkplatz in Jizerka pausiere.

 

Es gibt keinen sinnvollen Ersatzplan. Es gibt kein zurück. Jetzt hilft nur noch Optimismus!

Um mich aufzumuntern zeigt mir der Einstieg in meine finale Abenteuerroute sein freundlichstes Gesicht. Ein gut geschotterter Weg führt im weiten Bogen über eine große Wiese. Weit und breit gibt es nicht den kleinsten Schneerest, nicht mal eine Pfütze ist zu sehen. Das ändert sich naturgemäß im Schattenreich des Waldes. Aber der Schnee ist hier durch tausende Wanderstiefel gut komprimiert, so dass ich insgesamt recht beschwerdefrei durch den Wald holpern kann. Aber wie wird es dort, wo sich die Höhenlinien auf der Karte eng aneinanderdrängen und ein schmaler Pfad in Richtung Staatsgrenze vordringt? Hier muss ich eine neue Fortbewegungsart erfinden. Biking (Fahrrad fahren) habe ich heute ja schon reichlich praktiziert. Auch Hiking (Wandern) probierte ich schon aus. Nun kommt noch „Bike Walking“ dazu! Oder ganz profan: Fahrrad schieben. Die vielen Höhenlinien auf meiner Karte erweisen sich als starkes Gefälle und ich bin mir beinahe sicher, dass ich diesen Weg auch unter optimalen Bedingungen nicht hätte fahren können. Ehrlich gesagt, war mir das schon bei der Planung klar und ich hatte diese 500 Meter Schiebestrecke schon einkalkuliert. Trotzdem ist es abenteuerlich, auf einem festgetretenen Grat aus gefrorenem Schnee zu balancieren, während ich das Monsta-Bike als eine Art Super-Rollator und Balancierhilfe Meter für Meter über Stock und Stein vorwärts schiebe.

 

Hurra, die Brücke kommt in Sicht! Sie ist aus starkem Holz erbaut und in bester Ordnung. Vor meinem dystopischen Auge hatte ich schon ein reißendes Hochwasser gesehen, das über einen Trümmerhaufen aus Holzbalken tost. Nein, diese Brücke ist perfekt! Überhaupt zeigt sich die Landschaft traumhaft. Munter plätschert der Bach (oder ist es schon ein Fluss?) über die vielen Steinbrocken seines breiten Bettes. Die Sonne hat schon ihren Goldfilter eingeschaltet, der davon kündet, dass auch dieser Tag einmal zu Ende gehen wird. Sie sorgt für ein Kaleidoskop an Lichtreflexen auf dem Wasser. In der Mitte steht diese Brücke als solide Beobachtungsplattform auf einen tiefen, grünen Wald rundherum. Gebäude, Straßen und Motorfahrzeuge sind in diesem kleinen Kosmos nicht vorgesehen. Auch Mitmenschen sind mir schon länger nicht mehr begegnet. Wüsste ich nicht, dass ich noch einen ungewissen Weg vor mir habe, wäre dies ein Ort, um stundenlang dem Wasser zuzusehen. Raum und Zeit wären dann vergessen.

 

Die Realität holt mich mit der Frage ein, ob ich mich hinter der Brücke nach links oder rechts wenden sollte. Und warum gibt es hier überhaupt keine Grenzsteine? Kurz darauf wird klar, dass es noch eine zweite Brücke geben muss. Erst sie überquert die Iser und bildet die Grenze. Immer noch schiebend erreiche ich gleich darauf auch diese zweite Brücke. Sie liegt kaum weniger idyllisch, ist aber etwas größer. 

 

Nun bin ich also schon in Polen. Der Radweg ist gut ausgeschildert und erweist sich sogar als befahrbar. Eventuell könnte man ihn mit einem Bächlein verwechseln. Über seinen groben Kies rinnt eine Menge Wasser. Leider bleibt es nicht dabei. Schon habe ich es wieder mit dicken und dünnen Schneeplacken zu tun. Meist sind sie durch den Wechsel von Frost- und Tauwetter von ausreichend fester Substanz, also genügend tragfähig. Einmal jedoch sacke ich krachend mit dem Hinterrad hinunter und bleibe unvermittelt stecken. Die Eisscholle lag wohl etwas hohl. War jetzt das Eis zu dünn oder der Fahrer zu dick? Das ist nicht mehr zu klären! Zum Glück sind Rad und Reifen nichts passiert und ich kämpfe mich weiter. Quer zu meinem Pfad kreuzt der Forstweg, der mich nach Świeradów-Zdrój zurückbringen soll. Er ist eine Art Hauptmagistrale für Wanderer und Radfahrer durch das polnische Isergebirge. Gerade sehe ich noch zwei Paar Nordic-Walking-Stöcke mit ihren Menschen in die entgegengesetzte Richtung verschwinden. Auch sie haben noch einen weiten Weg vor sich, denn wenn es ein Superlativ von „abgelegen“ gäbe, wäre dieser Ort genau hier.

 

Meine Aufmerksamkeit gilt nun ganz dem Zustand dieser „Magistrale“ und ihrer Befahrbarkeit. Und ich werde tatsächlich auf ganzer Linie enttäuscht. Obwohl diese Forststraße recht offen liegt und einiges an Sonne abbekommen müsste, gibt es durchgehend krustigen, von Kratern überzogenen Schnee. Ich sehe Fahrspuren eines Motocross-Motorrads. Den wilden Schlenkern seiner Reifenfährte nach zu urteilen, war es auch für die PS-starke Maschine nicht einfach, den Fängen des Winters zu entkommen. Diese nicht mehr ganz weiße „Schneepracht“ vor mir reicht kilometerlang oder jedenfalls so weit ich gucken kann. Und das ist ziemlich weit. An Fahren ist für mich nicht zu denken und auch ein lockeres Schieben - mit einer Hand am Lenker und ein Liedchen pfeifend - wird es wohl nicht werden. Zu allem Übel sind auch die Wasserflaschen leer und ich traue mich nicht, vom reichlich vorhanden Bachwasser zu trinken. Das alles wird doch wohl nicht in ein veritables Motivationstief führen?! Die Rettung könnte eine bisher übersehene und perfekt geräumte Autostraße ganz in der Nähe sein. Mit gebremster Euphorie sondiere ich noch einmal meine Möglichkeiten. Nein, eine solche Straße gibt es nicht! Es bleibt bei der Diagnose: Ich muss durch dieses weiße Zeug durch! Schlimmstenfalls müsste ich wohl drei Stunden schieben, bis ich aus dem Gröbsten heraus wäre. Was soll’s …



Ganz so übel läuft es dann aber doch nicht. Nach vielleicht 20 Minuten Fußmarsch erreiche ich eine große Schutzhütte und genau ab diesem Punkt rollt es wieder! Dieser Unterstand ist ganz neu und aus groben Holzstämmen gebaut. Sogar an Liegeflächen für eine Notübernachtung hat der Architekt gedacht. Das wäre ein verlockendes Angebot, aber ohne einen dicken Schlafsack auch keine Option für mich heute!

 

Gleich hinter der Schutzhütte öffnet sich die Landschaft zu einer großen Wiesenfläche, die in Wahrheit eines dieser hochgelegenen Moorgebiete ist, für die das Isergebirge bekannt ist. Der Name der Wiese ist „Hala Izerska“. Im Zuge der Polonisierung nach dem zweiten Weltkrieg ist die profane „Iserwiese“ (Wiese, polnisch Łąka) immerhin zu einer Alm aufgestiegen (Alm, polnisch Hala)! Am heutigen Tag sieht man dieser Hochebene nicht an, warum sie auch als polnisches Sibirien bezeichnet wird. Doch an diesem Ort liegt der kälteste Punkt Polens und angeblich vergeht kein Monat, bei dem das Thermometer nicht unter null Grad fällt.

 

Ich komme jetzt gut voran. Die Wege sind nun schneefrei und um mich herum sehe ich große Flächen mit gelb getrocknetem Gras. Einzelne Bäume unterbrechen die Wiese und irgendwo dahinten muss die Iser fließen. Die Landschaft wirkt still und friedlich. Aber wenn im Winter eisige Stürme über diese Hochebene jagen, dürfte sich das Leben hier oben weit weniger freundlich gestalten. Und Leben gab es hier wirklich einmal. Ich befinde mich nun auf dem Territorium der früheren Gemeinde Groß Iser. Die Streusiedlung war gar nicht so klein und hatte zu besten Zeiten 43 Häuser mit insgesamt 400 Einwohnern. Dazu kamen drei Kneipen, zwei Schulen und ein Feuerwehrhaus. Somit war das schlesische Groß Iser wirklich das größere Gegenstück im Vergleich zu Klein Iser (also Jizerka) auf der tschechischen Seite. Die Lage auf einer Hochebene, die weit verteilten Anwesen und auch die Abgeschiedenheit von der Außenwelt sind für beide Orte gleichermaßen charakteristisch. Doch während sich Jizerka heute zu einem Zentrum für Outdoor-Enthusiasten entwickelt hat, erlitt Groß Iser ein anders Schicksal. Wieder einmal ist es die hässliche Geschichte der Vertreibung der Bewohner in Folge des zweiten Weltkriegs. Warum anschließend das Dorf von der Landkarte ausradiert wurde, lässt sich nicht mehr ergründen. Eine Neubesiedelung fand nicht statt und sämtliche Gebäude wurden bis auf die Grundmauern abgebrochen. Nur die ehemalige Schule blieb erhalten, weil die polnischen Militärs eine Unterkunft und Kommandozentrale benötigten.

 

Die Schule steht heute noch. Ein wenig abseits des Wegs kann ich das Gebäude sehen. Wie man hört, zog dort in den 1990er Jahren eine junge polnische Familie ein und versucht seitdem mit wenig Geld und viel Engagement einen Pensionsbetrieb zu organisieren. Sie selbst beschreiben ihre Chatka Górzystów so: 

 

„Hier gibt es keinen Komfort und Menschen, die Luxus mögen, werden diesen Ort sicherlich nicht mögen. Strom kommt aus einem großen Urlaub oder gar nicht (was viele Leute als Pluspunkt sehen), Kerzen oder Fackeln dienen als Beleuchtung, und man muss sich in den Öfen verbrennen. Die Übernachtungspreise sind niedrig, und die Atmosphäre hier belohnt alle Unannehmlichkeiten. Es gibt auch einen Platz für ein Lagerfeuer, einen Waschbach, eine Touristenküche wenn jemand gerne kocht, und natürlich die berühmten Pfannkuchen zum Essen.“

 

Ich finde das hört sich spannend an! Vielleicht entsteht hier gerade so eine Art Misthaus des 21. Jahrhunderts!

Die Fahrt durch die Hala Izerska hat mir wieder Auftrieb gegeben. Den kann ich auch gut gebrauchen, denn zwischen mir und meinem Ziel hat sich noch ein letzter Höhenzug aufgestellt. Der Sattel zwischen der Victoriahöhe (Świeradowiec, 1002 m) und dem Tiefengrundkamm (Podmokła, 1001 m) lässt sich zwar gnädig auf 970 Metern herab. Doch das bedeutet trotzdem, dass ich noch einmal an die 120 Meter hinauf muss.

 

Würde ich jetzt wieder etwas von Waldstraße, Schneefeldern und Schieben schreiben, wäre es wahrscheinlich langweilig. Deshalb lasse ich das. Irgendwie kann ich mein Ziel jetzt schon riechen und so nehme ich kleine Hindernisse auch gar nicht mehr richtig wahr. Am höchsten Punkt erfreut noch ein wahres Hexenhäuschen von Schutzhütte das Auge und dann geht es endlich bergab. Zuerst erfordern noch Spurrinnen und Schnee die Konzentration, doch mit jedem Meter bessert sich der Straßenzustand. Ein letzter Anstieg kurbelt noch einmal den Kreislauf an und dann rolle ich schon direkt dem großen Parkplatz entgegen, auf dem mein Domizil parkt. Endlich geschafft …

 

Blut, Schweiß und Tränen? Nein, so schlimm war es nicht. Aber dass ich es an einem 28. April noch mit so viel Schnee zu tun haben würde, habe ich mir nicht träumen lassen! Auf jeden Fall habe ich an einem Tag so viel gesehen, dass dieser Text eine lange Geschichten geworden ist … 



Epilog

Mein dritter und letzter Tag im Isergebirge ist eindeutig der ruhigste. Gemütlich nehme ich noch den einen oder anderen Trail der Umgebung von Świeradów-Zdrój in Angriff, lasse meinen Körper regenerieren und den Geist die gewonnenen Eindrücke sortieren. Meine Erlebnisse waren so vielfältig, dass ich heute sogar eine Art Nachwort schreiben will:

 

Das Isergebirge ...

… steht ganz im Schatten seines großen Bruders, des Riesengebirges. Die Gipfel im Riesengebirge sind weit höher und dort liegen auch die bekanntesten Skiorte der Tschechischen Republik. Auch die Bauden (bewirtschaftete Berghütten) im Riesengebirge sind legendär. Ihre Anzahl pro Quadratkilometer dürfte die der Alpen noch übertreffen. Obwohl das Riesengebirge ein großer Touristenrummelplatz ist, ist es gleichzeitig Nationalpark. Ausgerechnet mit dem „Nationalpark“-Argument werden weitere Besucher angelockt, was den ursprünglichen Naturschutzzielen zuwiderlaufen dürfte. Gleichzeitig zieht der Nationalpark eine Reihe von Regeln und Verboten nach sich, die vor Ort (mindestens bei Mountainbikern) für lange Gesichter und Frust sorgen.

 

Im Vergleich dazu ist das Isergebirge ein stilles und stressfreies Gebirge. Seine Gipfel ähneln zu groß geratenen Hügeln und sind bis über ihre Kuppen bewaldet. Nur vereinzelt treten spektakuläre Felsen zu Tage. Die Berghütten lassen sich an einer Hand abzählen. Dabei habe ich jeden abgelegenen Bierverkauf schon großzügig mitgerechnet. Auch die Sporttradition des Isergebirges konzentriert sich auf vergleichsweise ruhige Disziplinen. Hier sind Langlaufski und Langstreckenwandern zu Hause.

 

Gerade dieses Mauerblümchendasein hat große Vorteile. Die Natur lässt sich ohne den lärmenden Touristentrubel viel mehr genießen. Die Logik dahinter ist ganz einfach: Keine Skipisten und keine Lifte bedeuten auch keine Wintersportmetropolen wie nebenan in Špindlerův Mlýn. Ohne Wintersportorte keine Hotelkomplexe und viel weniger Touri-Volk, das sich per Lift in die Berge schaufeln lässt. (Ach ja, Lifte gibt es ja hier nicht!*)  Und dadurch, dass das Isergebirge nicht unter Nationalparkrecht fällt, lassen sich auch Dinge realisieren, die nebenan im Riesengebirge undenkbar wären, wie zum Beispiel die Mountainbike-Trails …

 

*  Einige kleinere Schlepplifte gibt es in der Nähe mancher Gebirgsdörfer schon. Sie dienen aber wohl eher der Kinderbespaßung als „ernsthaftem“ Wintersport.

 

Die Mountainbike-Trails …

… sind einfach genial! Die Mountainbike Trails sind Naturzerstörung! Ja, was denn nun? 

Ist es vielleicht so, dass diese Trails als sportliche Modeerscheinung gerade aus dem Boden sprießen, genau wie die alpinen Skipisten im 20. Jahrhundert? Und wird man diese Geländefahrrad-Strecken in ein paar Jahren als großen Frevel an der Umwelt begreifen, so wie der ganze Skizirkus heute oft sehr kritisch gesehen wird? Schwer zu sagen …  

 

Fakt ist, dass in den letzten Jahren in Polen und in Tschechien eine ganze Reihe von Mountainbike-Routen entstanden sind. Zu meiner Verblüffung ist sogar Dänemark geradezu gespickt mit spaßigen Trails.  Sieht man genauer hin, hat sich aber auch hier ein Wandel ergeben. Heute geht es nicht mehr um abfahrtsorientierte „Bikeparks“ im Umfeld alpiner Skizentren, die die Auslastung der Lifte bis weit in den Sommer hinein sichern sollen. Vielmehr handelt es sich um weitläufige Areale mit schmalen naturnahen Pfaden, die nur gelegentlich durch überhöhte Kurven aus aufgeschütteter Erde und gut drapierte Steine gewürzt wurden. In der Summe sind die Höhenmeter praktisch immer Null, denn es sind Rundkurse und mechanische Hilfsmittel gibt es nicht. Für diese Trails muss kein einziger Baum gefällt werden und es wird so gut wie kein Fremdmaterial in den Wald geschafft. Steine, Wurzeln und Felsbrocken sind ja zur Genüge vorhanden. Im Grunde ist der Eingriff in die Natur gering und selbst die Bau- und Unterhaltskosten dürften sich in Grenzen halten. Grenzenlos ist dagegen der Spaß beim Biken! Ehrlich gesagt, bis vor zwei Monaten hätte ich mir das gar nicht vorstellen können. (Im März rollte ich mit Monsta-Bike in Dänemark zum ersten Mal auf einen solchen Trail.) 

 

Einwurf: Warum gibt es so etwas eigentlich nicht bei uns in Deutschland? Haben wir zu viele Vorschriftenhuber oder bremsen die Öko-Fundamentalisten? Werden vielleicht lieber rollatorengerechte asphaltierte Radwege gebaut, aus Angst, jemand könnte sich verletzen? 

 

Die 60 Kilometer Fahrstrecke hier im Isergebirge, von denen ich wohl 1/3 kennenlernte, toppen jedenfalls alles, was ich bisher gesehen habe. Der „Singltrek pod Smrkem“ hier wurde aber auch von einem Star-Traildesigner geplant. Sein Name ist Dafydd Davis und er stammt aus Wales. Er arbeitet nach dem einfachen Motto: „The right trail, in the right place, in the right way.“, und das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Als Bonus ist dieser Trail sogar grenzüberschreitend. Damit bin ich beim nächsten Thema:

 

2 Länder …

… besuchte ich in den vergangenen drei Tagen. Dabei habe ich die Grenze zwischen Polen und der Tschechischen Republik mehrmals täglich auf dem Fahrradsattel, zu Fuß oder im Auto überquert. Ich betrieb also meinen ganz privaten kleinen Grenzverkehr. Das ist natürlich eine gute Gelegenheit, Eindrücke zu sammeln, Entwicklungen zu beobachten und Vergleiche zu ziehen. 

 

Warnung: Ich gebe zu, ich bin schon immer ein bekennender Fan Tschechiens! So läuft mein ganz privater Ländervergleich Tschechien - Polen durchaus Gefahr, in Schlagseite zu geraten.  

 

Das Böhmische Land zieht mich seit Jahren magisch an. Ich liebe seine vielen Gebirge, die unzähligen Burgen und historischen Gebäude sowie das vorbildliche Netz aus Wander- und Fernradwegen. Mich begeistert der tschechische Erfindergeist, der nicht auf fremde Rezepte vertraut, sondern Probleme aus eigener Kraft löst. Mir scheint, dass viele Tschechen wahre Naturmenschen sind und manchmal dabei einen kleinen Hang zum Mystischen entwickeln. Besonders kommt das für mich in der Tramp-Kultur zum Ausdruck, aber auch in den wundervollen Märchenfilmen oder den phantasievollen Szenen des tschechischen Computerspiels „Samorost“. Das gute Bier darf natürlich nicht vergessen werden, genau wie die Kaffehauskultur, deren Ausläufer in Form cremiger Törtchen bis in die Supermarktregale reichen. Wahrscheinlich werde ich jetzt für verrückt erklärt, aber das tschechische Fahrzeugdesign der 1960er Jahre begeistert mich immer wieder aufs Neue. Aber sieht nicht das Führerhaus eines Škoda 706 RT-Kippers wie das freundliche Gesicht von „Bob dem Baumeister“ aus, nur diesmal mit Schiebermütze und aufgeregt hochgezogenen Augenbrauen? Ach, ich schätze, ich bin ein wenig verliebt in das Tschechische Land …

 

Und was ist mit Polen? Auch in Polen war ich in den letzten Jahren oft. Ich war beeindruckt von dem weiten Land Pommerns und dem noch weiteren Himmel darüber. Ich paddelte auf einsamen Flüssen und erlebte die Berge der hohen Tatra. Nicht zu vergessen: Das eine oder andere Glas des unvergleichlichen Grasovka-Vodkas lief mir durch die Kehle! Doch lange Zeit wurde ich trotzdem nicht richtig warm mit den östlichen Nachbarn. Die allgegenwärtigen Werbetafeln und Leuchtreklamen erschienen mir zu grell. Die Atmosphäre im Land kam mir wie ein Rummelplatz vor und selbst die polnische Sprache klang für mich eher hart und abweisend. (Verstanden habe ich hier wie auch in Tschechien nur ein paar Brocken.)

 

Und jetzt? Jetzt hat sich meine Sicht ein wenig verschoben. Ich erlebe Polen als ein Land der Macher, ein Land der Initiative und ein Land voller Energie! Beispiel Świeradów-Zdrój: Die Bautätigkeit ist einfach überwältigend. Nicht nur wird an jeder Ecke gewerkelt, es existieren schon eine Reihe nagelneuer und sehr ansprechender Hotel- und Kurhausbauten.  Ein faszinierender Sky-Walk-Turm entstand vor einigen Jahren, ein futuristischer großer Aussichtsturm kam gerade dazu. Die alten Kurgebäude wirken sehr gepflegt und auf der Promenade herrscht geschäftiges Leben. Auf dem Mountainbiketrail überfuhr ich am Mittwoch eine alte, aber solide Holzbrücke. Nur eine Flatterbandabsperrung deutete an, dass hier etwas im Gange ist. Nur zwei Tage später stand an gleicher Stelle eine nagelneu gezimmerte Brücke!

 

Ja, liebe Tschechen, diese Energie vermisse ich bei euch. Der tolle „Singltrek pod Smrkem“ ist eine geniale Ausnahme, doch sonst sind die meisten schönen Dinge im Grunde Resultate alter Zeiten. Die sichtbare Bausubstanz wird von Jahr zu Jahr ein wenig schlechter, alteingesessene Ausflugsgaststätten schließen reihenweise oder brennen unter dubiosen Umständen ab. Derweil kassieren Staat und Gemeinden schamlos: Da gibt es kaum einen Parkplatz (egal wie abgelegen), der keine 100 Kronen Gebühr kostet und natürlich die Autobahnmaut, ohne die eine Fortbewegung im Land fast ausgeschlossen ist.

  

Wenn es noch eines Symbols bedarf: Das tschechische Misthaus ist Geschichte, dafür wurde in Polen die Chatka Górzystów eröffnet … 

 

Fehlt nur noch der Schlusssatz: Ich wünsche den Tschechen und den Polen (wie auch uns) die Kraft und die Energie, sich ihr Leben aufzubauen und ihre Träume zu verwirklichen!

 

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