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Rübezahls Rache

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Eigentlich sollte dies eine richtige „Heldentour“ werden.

 

Eine extragroße Runde, 2x über den Kamm des Riesengebirges, 2 Länder, viele Mountainbike-Trails, über 2000 Höhenmeter und an die 80 Kilometer lang.

 

Auf solche Ideen kommt man eben, wenn man zu lange zum Stillsitzen am Schreibtisch verdonnert ist …

 

Nun ist das Riesengebirge bekanntlich exzellent mit entlegenen Berggasthöfen ausgestattet und praktisch jede dieser Bauden verfügt über eine Webcam. Der Blick auf diese Webcams ein paar Tage vor der Reise ist allerdings ernüchternd: In den höheren Lagen gibt es Schnee, soweit das Auge reicht! Was nun?


Ist das das Aus für meine große Runde? Meine Restvernunft sagt „Ja“! Eine einzige unpassierbare Strecke würde den schönen Plan zerstören und, was noch viel schlimmer ist, mich in größere Schwierigkeiten bringen. Könnte ich ausschließlich Autostraßen benutzen, wäre die kürzeste Rundtour um das Riesengebirge 125 ätzende Kilometer lang.

 

Aber ist es da oben wirklich so krass? Könnte es nicht sein, dass die Kameras jeweils genau auf den letzten Restschnee ausgerichtet sind, allzeit bereit mir eine heile Winterwelt vorzugaukeln? Das muss ich wohl selbst erkunden!

 

Sicherheitshalber stelle ich mich darauf ein, im Riesengebirge kleinere Brötchen backen zu müssen. Konkret gibt es zwei Optionen: Von Špindlerův Mlýn (Spindlermühle) hinauf zur Spindlerbaude. Das ist eine anstrengende, aber ansonsten sichere Sache, denn diese Straße ist nachweislich schneefrei. Die abenteuerliche Variante wäre ebenfalls von Špindlerův Mlýn hinauf nach Horní Mísečky (Oberschüsselbauden) zu fahren und von dort die Masaryk-Straße in Angriff zu nehmen, die mich zur Goldhöhenbaude oder sogar zur Elbfallbaude bringen könnte. Ob die Schneeverhältnisse diese Tour zulassen ist unklar, aber einen Versuch wäre es wert!

Ich beginne mit dem Abenteuer! Die sichere Spindlerbaude bleibt mir als Plan „B“ oder als Extraoption, um die Restenergie aus dem Körper zu saugen. Da die ganz großen Heldentaten abgesagt sind, ergibt sich noch ein schöner Nebeneffekt. Ein halber Tag sollte genügen und ich muss nicht so früh aufbrechen.

 

Špindlerův Mlýn ist mir vertraut. Es ist ein Ort der Erinnerungen, könnte man sagen. Das sind vor allem Erinnerungen an den herrlichen Sommer 2020, als die Tschechen den Corona-Terror einfach nicht mitmachten und wir damit das heimische Pandemie-Gefängnis für ein paar Tage vergessen konnten. (Andere Erinnerungen sind schon mehr als 30 Jahre alt und zeugen von wenig ruhmreichem Herumrutschen auf Skiern mit einer Horde gleichgesinnter Studenten.) 

 

Špindlerův Mlýns Ortsmitte dämmert im Nachwinterschlaf, kein Grund sich hier lange aufzuhalten. Ich krame meine Ortskenntnis aus dem Oberstübchen und finde auch gleich die steile Abkürzung, die mich aus dem Zentrum direkt vor die Tür des Hotels „Montana“ bringt. Von Montana aus fahre ich weiter hinauf. Ich komme an der Bobbahn vorbei und danach an dem großen Hotelkomplex „Harmony“. Dessen Geheimnis ist von außen nicht zu sehen. Direkt unter der Hotelanlage im Betonstil der 1980er Jahre gibt es vier zusätzliche Etagen, die im Ernstfall als „Regierungsarbeitsplatz bei den Streitkräften des Staates“ dienen sollten. Ich finde, die Anlage des Regierungs-Atombunkers in einem bekannten Urlaubsort und Skiparadies war viel stilvoller als die Verstecke der DDR-Regierung im trostlosen märkischen Sand. Die Kombination mit einem Luxushotel offenbart den Sinn fürs Praktische, denn für den Fall, dass der Krieg kurzfristig abgesagt werden sollte, konnte ein wenig Komfort sicher nicht schaden.



Jetzt bin ich im Hinterzimmer von Špindlerův Mlýn angekommen und bis jetzt habe ich noch keinen Krümel Schnee gesehen. Ich hoffe, dass das auch so bleibt!

 

An dieser Stelle ist ein kleiner Ausflug in örtliche Geografie erforderlich. Bei flüchtiger Betrachtung liegen Špindlerův Mlýn und Horní Mísečky nur einen Steinwurf auseinander. Doch das „Horní“ (Ober-) hat es in sich. Konkret sind es 300 Höhenmeter, die überwunden werden wollen! Damit ist die direkte Verbindung zwischen den Orten keineswegs eine Gerade, sondern eine Art Rundweg, der sich erst schneckenförmig dem Gipfel des Medvědín (den deutschen Namen Schüsselberg kennt sowieso niemand) entgegenschraubt, um dann eben den kurzen Sprung nach Horní Mísečky zu wagen. Auf halbem Weg entschließt sich diese Wegschnecke urplötzlich, die Drehrichtung zu ändern. Das führt naturgemäß zu einer jähen 180 Grad Wendung. Genau diesen Weg will ich nehmen. Theoretisch ist alles klar!

 

Die Praxis besteht zunächst aus gut rollendem Asphalt mit mäßiger Steigung. Bei dem Ausschank „U Zubra“, der außerhalb der Ski-Saison geschlossenen ist, begegnet mir der erste Schnee. Und prompt stecke ich in der weißen Masse fest. Allerdings ist dieses Schneevorkommen nicht sehr verwunderlich, denn genau hier quert die Ski-Abfahrtspiste. Im weiteren Verlauf sehe ich wieder den schwarzen Straßenbelag, aber auch einige Schneezungen lecken immer wieder über die Straße. Auch wenn ich regelmäßig kurz steckenbleibe, komme ich gut voran und vor allem immer weiter hinauf! Bald habe ich eine schöne Fernsicht über das Elbtal auf den Riesengebirgskamm. Ich versuche mich an der Zuordnung der wenigen Gebäude, die auf der Bergflanke zu sehen sind. Dort, unmittelbar gegenüber müsste die Erlenbach-Baude sein und ganz links kann ich sogar die charakteristische Elbfallbaude entdecken.

 

Weiter geht’s! Immer wieder tauchen Schneefelder auf und immer wieder verliert mein Monsta-Bike den Grip. Erstaunlich dick sind jetzt auch die Schneeberge neben der Straße und mir dämmert, dass ich mein Vorwärtskommen ausschließlich einem Räumfahrzeug zu verdanken habe, dass vor einiger Zeit die Straße vom Schnee befreit haben musste. Es erscheint mir fraglich, ob die Raupe auch den Abschnitt nach dem Wendepunkt gefahren ist. Und richtig: Als der Weg auf ca. 1100 Metern Höhe unvermittelt die Richtung wechselt, gibt es nur noch Schnee satt. Für die Schneeräumer war hier Feierabend. Für meine Exkursion zur Goldhöhenbaude ist damit nun auch „Feierabend“. Die erste Mission ist gescheitert, ich kehre um. Immerhin ist die Schwerkraft jetzt so gnädig, mich meist irgendwie durch die Schneefelder hindurchzuschieben, so dass ich kaum abspringen muss.

 

Und jetzt? Ich beschließe, die vorwitzigen Regentropfen zu ignorieren, die hier gerade vorstellig werden, und nutze die nächste Gelegenheit, Kurs auf den Spindlerpass zu nehmen. In der Nähe der (geschlossenen) Liftstation zum Medvědín überhole ich ein Gruppe Jugendlicher Touristen. Sie müssen irgendetwas ganz Schlimmes verbrochen haben, dass man sie außerhalb der Skisaison (eigentlich außerhalb jeder Saison) in die Urlaubsverbannung nach Špindlerův Mlýn schickte. Nicht einmal Mountainbikes haben diese armen Menschen! Dagegen kann ich mich auf dem Sattel fast wie ein König fühlen. Bald bin ich mit mir und der langen Anstiegsrampe allein. Die Serpentinenkurven liegen weit auseinander. Schnee gibt es hier nicht, Autos kaum. Meter um Meter klettere ich in etwas besserer Schrittgeschwindigkeit aufwärts. Keine Ahnung, wieviel Zeit schon vergangen ist und wie viele Spitzkehren noch vor mir liegen.

 

Zur Abwechslung werde ich von einem drahtigen Mann auf einem Rennrad überholt. Sowohl der Herr, als auch sein Fahrrad dürften schon während des Arbeiter-und-Bauern-Staates in der Blüte ihres Lebens gestanden haben. Das hindert sie nicht, immer noch ein Team zu sein und diesen Berg hinauf zu pfeffern. Respekt! Natürlich rede ich mir ein, dass ein Rennrad - egal wie alt - immer schneller als mein Monsta mit seinen Fatbike-Genen ist. Aber ich muss mir eingestehen, dass der Senior wohl auch die besseren Beine hat!

 

Das Ende des Waldes kommt dann doch überraschend. Gleich danach folgt eine kleine Siedlung. Eine Serpentinenkurve später stehe ich schon vor der Erlenbach-Baude. Hier kann ich meiner Frau, die zu Hause geblieben ist, eine kleine Überraschung bereiten. Ich schicke ihr schnell den Link zu der hier befindlichen Livecam, stelle mich in Position und winke heftig. Und tatsächlich: Dank des Internets lässt sich mein Gestikulieren mit 15-sekündiger Verzögerung weltweit und auch in unserem Wohnzimmer abrufen!

 

Bis zum Spindlerpass sind es zwar noch weitere 50 Höhenmeter, aber das Ziel ist so nahe, dass alle Anstrengungen vergessen sind. Mein Plan B hat zum Glück funktioniert und ich stehe vor der Spindlerbaude auf knapp 1200 Metern Höhe! Außerhalb der geräumten Flächen gibt es noch Schnee, sogar viel Schnee. An manchen Stellen türmt er sich meterhoch. An eine Weiterfahrt nach Polen, so wie ich es mir ursprünglich gedacht hatte, ist überhaupt nicht zu denken!

 

Ich schieße schnell die obligatorischen Erinnerungsfotos, futtere die mitgebrachten Butterbrote und genieße für einen Moment die Stille, die Weite und die imposanten Berge um mich herum. Eine Wolke am Himmel sieht dann recht verdächtig nach Gewitterwolke aus und ich nehme diese Erscheinung als Zeichen für den Aufbruch. Die Abfahrt ist erwartungsgemäß schnell, kalt und ereignislos. Schon Minuten später rolle ich durch das verwaiste Špindlerův Mlýn. Anhalten lohnt immer noch nicht, denn es scheint wirklich alles geschlossen zu sein. Nach einem Zwischenstopp beim Supermarkt bin ich bald bei meiner Schlafhöhle. Auch wenn Rübezahl mich heute nicht überall durchlassen wollte, bin ich im Grunde genommen mit meinem (Halb-)Tageswerk recht zufrieden.

 

Morgen versuche ich den Schneemassen zu entkommen. Ob das gelingen wird?


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