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Die verschwundene Brücke

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Als ich damit begann, Pläne für diese Tour zu schmieden, stand wie immer die Frage nach einem eigentlichen Ziel im Raum. Das Land Dänemark war schnell gesetzt. Diese Entscheidung war einfach: In den letzten Monaten war jede Fahrradtour für mich auch eine Flucht vor den irrsinnigen behördlichen Regelungen in Verbindung mit Covid19. So wählte ich stets die Nachbarländer mit den geringsten Restriktionen, was mich an Orte führte, die ich auf Grund der Topografie, Landschaft oder Voreingenommenheit sonst nie in Betracht gezogen hätte. Ich besuchte Schweden und Ungarn und bin jetzt eben in Dänemark, um das Wunder des hiesigen „Freedom-Days“ zu erleben.

 

Dänemark ist bekanntlich bis auf eine Ausnahme eine Inselrepublik. Da ich unbedingt die teure Fähre einsparen wollte, kam nur Jütland in Betracht. Ausgerechnet Jütland! 


Jütlandreise
 
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Die verschwundene Brücke - Silkeborg

Spätestens seit die Olsenbande versuchte, in dieser Gegend ein paar Millionen zu erbeuten, weiß doch jeder, dass es sich bei diesem Landstrich um eine öde Prärie handelt, die von ein paar wenigen wunderlichen Menschen besiedelt ist. (Angeblich denken einige Kopenhagener bis heute so …) 

 

So bin ich erst einmal ratlos: Was lässt sich hier überhaupt per Fahrrad erkunden? Wäre es nicht besser ein Rennrad mitzunehmen, als das Reise-erprobte Monsta-Mountainbike. Wer nun schon die Reiseberichte der letzten Tage gelesen hat, weiß dass mir zuerst die Nord- und dann die Ostsee in die Quere gekommen sind, bevor ich schließlich auch noch das jütländische Binnenland unter die Räder nehmen könnte. Doch so weit sind wir in dieser Rückblende noch nicht: Da sitze ich noch vor der Landkarte und scrolle ratlos und etwas rastlos durch das Land. Endlich fällt mir eine dünne grüne Linie auf, verbunden mit dem offenbar niederländischen Kommentar „fiets-highway Silkeborg-Horsens“. Ganz offensichtlich scheint das ein Bahntrassenradweg zu sein. Und da die Städte alleine schon 40 Kilometer Luftlinie auseinander liegen, müsste sich daraus doch ein schöner langer Rundkurs schneidern lassen. Um diese Strecke herum würde es auch jede Menge „Berge“ geben, jedenfalls die höchsten Erhebungen, die Jütland zu bieten hat. Ein paar reizvolle Binnenseen könnten für nette Kontraste sorgen. Dazu käme noch das technische Denkmal einer alten stählernen Eisenbahnbrücke. So war eine erste Idee geboren. Und jetzt, am letzten Tag meiner Dänemark-Reise nehme ich das Binnenland unter die Räder. Und heute wird wirklich Strecke gemacht! Ich werde jede Menge „echte“ Kilometer auf realen Straßen und Wegen verschiedener Kategorien in Angriff nehmen und dabei eine große Runde drehen. Heute gibt es zur Abwechslung mal keinen Bikepark! 

 

Zuerst wache ich aber an einem wunderbaren Platz auf. Eine große Wiese senkt sich zur spiegelglatten Oberfläche eines Binnensees hinunter. Ein malerisch in das Wasser hineinragender Steg gibt der Idylle optisch den letzten Schliff. Dieser Platz ist eine offizielle Badestelle und gleichzeitig der Biwakzeltplatz der Stadt Silkeborg. Auch ein paar Blockhaus-Schlafunterstände verstecken sich angrenzend unter den Bäumen. Trotz leichter nächtlicher Minus-Temperaturen zeltet dort vorne ein Pärchen am Ufer. Noch gestern Abend hatten sie an einem Lagerfeuer musiziert. Diese Nachkommen der Wikinger sind schon echt hart!

 

Auch wenn es eine Badestelle gibt, baden will ich nicht und so setze ich mich eben aufs Fahrrad! Die Straßenfahrt ist nach den Strand- und Bikepark-Ausflügen ungewohnt. Immerhin sind nur wenige Fahrzeuge unterwegs und gleich nach der Stadtgrenze habe ich die Straße für mich allein. Es geht durch einen Wald. Eine sanfte, aber recht nachhaltige Steigung bringt mich auf Betriebstemperatur, was an diesem kühlen Morgen recht angenehm ist. Auf dem Scheitelpunkt des Hügels fällt mir eine kleine Informationstafel auf. Unter einem Fahrradsymbol steht „Du er på toppen“, was wohl als eine Art Schulterklopfen für den bewältigten Anstieg zu verstehen ist. Dann steht da allerdings auch noch 98 Meter. An jedem anderen Ort hätte ich dieses Schild als einen ironischen Scherz gedeutet, aber wir sind in Dänemark und hier ist das ganz ernst gemeint. Süß!

 

Immerhin verleiht mir das Berglein den Schwung für eine Fahrt durch ein Hügelland aus Dörfchen, Feldern und Tannenbaumplantagen. Im Ortskern von Ry radele ich an einer sehenswerten Wassermühle vorbei und schon hat mich die Landstraße wieder. Mit mir sind heute eine Menge Rennradfahrer auf den Straßen unterwegs. Klar, sie sind durchweg schneller. Aber mir fällt auf, dass beim Rennradfahren offenbar eine international universelle Gesetzmäßigkeit gilt: Ein grimmiges Gesicht ist Plicht. Merke, ein Rennradfahrer lacht nie!

An einem Ort mit auffälliger großer Kirche wechsle ich auf eine kleinere Landstraße, aus der für mich später eine asphaltierte Hoppelpiste durch eine Art Sumpflandschaft und noch später ein Sandweg wird. Macht nichts, ich fahre ja Mountainbike! Mein Ziel ist der Sukkertoppen (Zuckerhut), ein „Berg“ von immerhin 108 Metern, von dem es eine herrliche Aussicht geben soll.



Wie sich herausstellt, ist der Gipfel mit dem Rad nicht zu erreichen. Alle Wege sind sorgfältig mit entsprechenden Verbotsschildern ausgestattet. Aber ich habe ja noch meine Füße! Ich gönne dem Monsta-Bike eine Pause und mache mich auf die Socken. Um ehrlich zu sein: Dieser steile Anstieg wäre mit dem Rad gar nicht zu schaffen gewesen. Weiter oben werden einige seltsam krumm gewachsene Bäume und der Ausblick auf eine große blaue und inselreiche Wasserfläche geboten. Das Gewässer sieht aus wie ein Fjord, ist aber in Wahrheit der Mossø, ein großer See im Binnenland. 

 

Nachdem die Augen sich am Aussichtspunkt sattgesehen haben und der Magen mit dem mitgebrachten Proviant beruhigt wurde, steige ich den Berg hinunter und bin wieder abfahrbereit. Für einige Kilometer folgt meine kleine Straße einem lieblichen Flusstal. Im Örtchen Voervadsbro verabschiedet sie sich leider und ich muss mit dem Radweg einer Schnellstraße vorliebnehmen. Ich will nämlich unbedingt noch ein paar Kilometer nach Süden vordringen. Es gilt, die Hauptsehenswürdigkeit der Bahntrasse -„Den genfundne Bro“- auf keinen Fall zu verpassen. Da wäre es ausgesprochen blöd erst hinter diesem technischen Denkmal auf die Strecke einzuschwenken.

Bei Sandvad kann ich die öde Hauptstraße endlich verlassen und komme schnell an einen „Bahnübergang“ ohne Gleise, aber dafür mit einer asphaltierten Spur. Jetzt steht dem Eisenbahnspielen nichts mehr im Weg. Insgesamt 38 Kilometer Bahntrasse liegen nun vor mir. (Insgesamt dürfte die Strecke um die 60 Kilometer lang sein, aber ich bin ja sozusagen Quereinsteiger!)

 

Schon nach einer Viertelstunde habe ich die Hauptattraktion dieser Eisenbahnstrecke erreicht. „Die wiedergefundene Brücke“ ist eine schöne, genietete Eisenfachwerkkonstruktion aus dem Jahr 1899. Damals war sie mit 45 Metern Länge die größte Eisenbahnbrücke Dänemarks. Nur leider genügte sie bald den Anforderungen nicht mehr. So wurde an gleicher Stelle ein Damm aufgeschüttet. Als dieser Damm im Jahr 2014 im Zuge der Renaturierung des Flusstals abgetragen wurde, staunten die Bauleute nicht schlecht. Unter der Erde kam die vollständig erhaltene alte Eisenbrücke zum Vorschein! Heute ist das technische Wunderwerk knallrot angestrichen, wird von Touristen ausgiebig bewundert und verschafft Wanderern und Radfahrern einen angenehmen Übergang über das tiefe Tal des Gudenå-Bachs.

 

Auch wenn die dörfliche Landschaft am Rande der Piste ganz nett aussieht und die Sonne ihr bestes gibt, ist es mit so einem Bahntrassenradweg immer so eine Sache …  In der Theorie hört es sich gut an, dass ein solcher Railtrail kaum Steigungen aufweist, autofrei und praktisch ohne Kreuzungen ist und meist eine hervorragende (weil kaum beanspruchte) Asphaltdecke hat. Das ist der Traum des Langstreckenradlers, sollte man meinen! Der Haken an der Sache ist, dass die Gleichförmigkeit schnell ermüdend wirkt. Der gelangweilte Geist hat dann alle Zeit der Welt, sich auf irgendwelche Wehwehchen zu konzentrieren. Zwickt es da nicht irgendwo in der Wade? Das Knie lief auch schon mal geschmeidiger. Und tun am Ende womöglich die Haare weh? Wie man es auch nimmt, entweder hört man ein Hörbuch (Mist, da habe ich nicht dran gedacht!) oder man nimmt die Sache eher meditativ …

 

Ein vermeintlicher Mangel dieser Bahntrasse ist eine vier Kilometer lange Unterbrechung zwischen dem Ort Byrup und einem Lokschuppen auf freier Strecke. Da war der Museumseisenbahnverein einfach schneller, als es um die Resteverwertung des Bahneigentums ging. Auf diesem Abschnitt blieben die Schienen liegen und ein Traditionsbähnlein darf an Fest- und Feiertagen hier entlang schnaufen.

 

Mir kommt diese Unterbrechung gerade recht, auch wenn sie bedeutet, ein paar Höhenmeter zu sammeln. Ausgerechnet dieser Abschnitt befindet sich in einem recht zerklüfteten Gelände. Die Landstraßenumfahrung nimmt anscheinend jeden Hügel mit und verläuft weiträumig über die benachbarten Orte. Aber gerade diese Berg- und Talfahrten und die Dörfer, die sich regelrecht in die Talsenken einkuscheln, bringen eine schöne Abwechslung. Außerdem bekomme ich noch einmal ein „Du er på toppen“-Schild zu sehen! Diesmal werden 82 Metern angezeigt, die sogar wegen des steileren Anstiegs deutlich anstrengender sind, als jene heute früh.

Am Ende eines rasanten Gefälles wartet die gute alte Bahntrasse. Was solls, dann muss ich eben noch ein Stündchen meditieren …

 

In der Nähe von Silkeborg wird meine zuvor recht einsame Eisenbahnstrecke sogar noch recht belebt. Ein paar Fußgänger, Radler und Jogger wollen überholt werden. Und dann endet die Trasse auch schon abrupt an einer Straßenkreuzung. Minuten vorher hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, einen kleinen Ausflug auf die Mountainbikepiste ganz in der Nähe zu unternehmen. Das soll nämlich ein Trail der Superlative sein! Der Vesterskoven MTB-Track ist 16 Kilometer lang, hat Dänemarks längste Abfahrt und führt dazu noch über ein Gelände, auf dem bronzezeitliche Artefakte ausgegraben wurden. Aber ehrlich: Für eine genussvolle Geländefahrt fehlen mir heute Nachmittag die Körner. Da muss ich mir nichts beweisen!

 

Silkeborgs größter Pluspunkt ist nicht die Architektur, sondern die Lage an Wald und Seen. Deshalb spare ich mir die Innenstadtbesichtigung und mache mich direkt auf den Weg zur Badestelle „Zu den kleinen Fischen“ und meiner dort geparkten Wohnhöhle. Ob sich da wohl noch irgendein Kanten Brot als fulminantes Abschlussmahl eines gelungenen Anti-Covid-Dänemark-Ausflugs findet? (Keine Sorge, die Vorratskisten waren noch gut gefüllt!)

Und wie waren sie nun, die Tage in Dänemark? Was ist meinen Vorurteilen geworden?

 

Sagen wir mal so: Salzwasserfreunde kommen wesentlich besser auf ihre Kosten, als Gipfelstürmer. Das ist einfache Geografie. Und auch wenn die Tourismusämter sehr gut darin sind, irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu erfinden: Das eigentliche und allgegenwärtige Thema ist und bleibt das Meer. Dann kommt erst einmal ganz lange nichts.

 

Das Bier ist gut hier, aber teuer, wie eigentlich alles in Dänemark. Wenn man die gepfefferten Preise geschluckt hat, gibt es nur noch ein Wort für Dänemark:

 

„Stressfrei“!      - Hier funktioniert einfach alles: 

 

Kein Stress mit dem Handy. (Überall gibt es Empfang!)

Kein Stress beim Einkaufen. (Die Supermärkte haben fast immer geöffnet, auch sonntags!) 

Kein Stress mit schlechten Straßen. (Das Straßennetz ist hervorragend und dicht, was vor allem Rennradfahrer freut! Die Autofahrer sind ausgesprochen defensiv unterwegs.) 

 

Es gibt kaum Einschränkungen beim Betreten der Natur, überhaupt wenig Verbotsschilder und keine Meckerköpfe. Jeder hält sich hier an die Regeln des gesunden Menschenverstands und alle sind zufrieden damit! 

 

Überrascht haben mich die vielen Biwakzeltplätze, die Blockhaus-Shelter und die ganz legalen Feuerstellen mitten in der Natur. Das sind schon geniale Einrichtungen, die ich mir auch für meine Lieblingsgebirge wünschen würde. Das Non-plus-Ultra aber sind die spaßigen und bestens gepflegten Mountainbiketrails. Sie gibt es im ganzen Land. Natürlich sind sie stressfrei: Es gibt keine Anmeldung, kein Bezahlen, keine Clubmitgliedschaft. Dafür aber eine idyllische Lage in der Landschaft on top!

 

Wem „stressfrei“ aber zu langweilig ist, der sollte Dänemark meiden. Ich glaube, ich komme wieder!  


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