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Die Grützpott-Route

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Das ist der merkwürdigste April, den ich je erlebt habe. Es gibt in diesem Jahr reichlich Zeit zum Radeln, das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite und sogar die Natur hat ihre frühlingshafte Blütenpracht ein paar Tage vorgezogen. Aber es liegt eine bedrückende Stille über dem Land. Die Angst vor einem unbekannten Virus und die Angst, gegen irgendeine der vielen absurden Auflagen der Regierung zu verstoßen, hat alle fest im Griff. Unter diesen Umständen erscheinen größere Radabenteuer kaum denkbar. Aber ohne Fahrradfahren geht es nun einmal nicht. Egal, dann beschränkt sich der mögliche Expeditions-Radius eben auf das mental erstaunlich seuchenresistente Berlin und das angrenzende Brandenburg. Brandenburg besteht grob gesagt aus zwei Teilen: Dem Speckgürtel, der ähnlich wie Berlin tickt und dem weiten Hinterland, das praktisch unbesiedelt und damit virussicher ist. Eine Übernachtung ziehe ich lieber nicht in Betracht.


Und nun? Ich brauche eine Idee! Es muss ein Roadmovie für mein Kopfkino werden. Ich will neugierig werden, motiviert sein und ein bisschen getrieben …  Und: Etwa 200 Kilometer weit sollte die Story schon tragen! Ich lasse mein Hirn rattern und heraus kommt dieser Plot: Weil auswärts übernachten nicht in Frage kommt, schlafe ich eben zu Hause. Ich kehre also am ersten Tag nach Hause zurück, um am zweiten Tag in die Ferne zu reisen. Verdrehte Welt. Natürlich brauche ich für diesen Plan auch noch mein treues Auto, das irgendwo im hintersten Winkel von Brandenburg auf mich wartet. Wenn mein Zwischenstopp ohnehin das heimische Bett ist, kann ich ja auch gleich das Pferd wechseln: einen Tag Mountainbike, einen Tag Singlespeed. So kommen beide zu ihrem Recht! Fehlt nur noch das Ziel. Meine Wahl fällt auf Stolpe im Unteren Odertal. Die Entfernung ist akzeptabel, die Landschaft im Nordosten Berlins vielfältig und schön. Und beide Teilstrecken wären auch komplett verschieden: Offroad nach Berlin und auf Asphalt zurück zur Oder.

 

Viel zu spät trudele ich an diesem Dienstag mit dem Auto in der Uckermark ein. Viele Hügel, wenig Wald, verschlafene Dörfer und ein endlos weiter Himmel. Ich hatte wirklich vergessen, wie schön es hier in Nordbrandenburg ist! In Stolpe angekommen, sind wir - mein 29-Plus-Bike „Monsta“ und ich schnell fahrbereit. Der erste Weg führt uns natürlich hinauf zum „Grützpott“. Dieser mittelalterliche Bergfried ist umgeben von einem Teletubby-Land aus grasbewachsenen Hügeln. Allerlei Buschwerk steht in Vollblüte und auch der Ausblick auf das vollkommen flache Oderland ist phänomenal. Eigentlich ist das hier ein hervorragender Platz um Beine und Seele baumeln zu lassen, aber für ein ausgedehntes Picknick bin ich zu unruhig. Schließlich habe ich ja auch noch ein paar Kilometerchen vor mir. 



Rasant rolle ich durch das Dorf und über die kleine Brücke in das Fahrradparadies an der Oder. (Von eben dieser Brücke wird im Beitrag "Abflug Brandenburg" noch zu lesen sein!) Ein Stück hinter der Brücke verläuft nicht nur der bekannte Oder-Radweg durch die unberührt wirkende Natur, die hier aus weiten Wiesen, standhaften Weidenbäumen, Tümpeln und verschiedenen Wasservögeln besteht. Es ergeben sich sogar einige alternative Wege außerhalb des eigentlichen Oderdeichs, weil dieser Landstrich eine breite Insel zwischen der Oder und der künstlichen Hohensaaten-Friedrichsthaler- Wasserstraße ist. Ich halte mich heute an den Kanal. Die Reifen bekommen außer Asphalt auch ein paar Betonplatten und sogar ein wenig Schotter zu sehen, aber natürlich ist das Mountainbike im Grunde vollkommen unterfordert. Trotzdem fiel mir die Entscheidung für diese Bilderbuch-Route leicht, denn die Alternative wäre gewesen, sich auf staubigen Uckermark-Feldwegen von der Sonne grillen zu lassen.



Nachdem in Hohensaaten Schleusen und Oderkähne für ein wenig optische Abwechslung gesorgt haben, verlasse ich bei Hohenwutzen die Oder und schlage mich ins Hinterland. Mein Ziel ist der Granitberg. Der Name lässt auf einen schroffen Felsen hoffen, aber das ist in Brandenburg eine Illusion. Tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Der Granitberg ist ein gewaltiger Sandhaufen, der spärlich mit hartem Gras und anderen asketisch lebenden Pflanzen bewachsen ist. Die größte Herausforderung für den Fahrradfahrer ist tatsächlich der labile Untergrund. Die ganze Kraft versickert einfach im krümeligen Zuckersand. Die einzig halbwegs feste Zufahrt ist die Auffahrt durch den Wald direkt aus Altglietzen kommend. So rolle ich direkt auf den Gipfel, der mit einer altersschwachen Aussichtsbank bestückt ist. Bei der kleinen Rast lohnt nicht nur der Blick in die weite Ferne. Direkt vor den eigenen Füßen lassen sich verschiedene Insekten dabei beobachten, wie sie Löcher in den feinen Sand graben. Erstaunlich, dass unter dem Flügelschlag einer Erdwespe sogar die Sandkörner weggewirbelt werden! Nach ausreichender Naturbetrachtung muss ich wieder hinunter vom Berg. Ich nehme den direkten Weg und komme trotz der Breitreifen ordentlich ins Schlingern.



Als nächstes will ich ins Niederoderbruch. Ich habe gehört, dass es dort die Fragmente einer alten Eisenbahnbrücke gibt, die sich wohl etwas abenteuerlich mit dem Rad überqueren lässt. Ich cruize erst einmal durch die drei beschaulichen Dörfer Gabow, Neutornow und Schiffmühle, ehe ich mich im Wald auf die Suche nach dem Bahndamm mache. Spätestens am nächsten Waldrand ist der Damm auch gut zu erkennen. Allerdings sehe ich keinen Weg hinauf. Dafür entdecke ich noch einen zweiten Bahndamm, fahre eine Riesenrunde und entschließe mich schließlich zu einer kleinen Klettertour auf die alte Bahnanlage. Dort liegen noch die Eisenbahnschwellen und der Schotter. Doch gleichzeitig findet sich ein derart dichter Baumbestand, dass an ein Durchkommen nicht zu denken ist. Also zurück. Nach einigem Hin-und-Her finde ich endlich einen absolut unscheinbaren Pfad, der mich ohne Umschweife auf den richtigen Damm führt. Und dann kommt wirklich ein Genusstrail! Eine einzelne schmale Spur leitet mich gesäumt von herrlich blühendem Buschwerk direkt auf die eiserne Brücke zu. Die Querung selbst ist bestimmt nicht DIN-gerecht, aber auch nicht wirklich ein Problem. Es kommt nur darauf an, einigermaßen geradeaus zu steuern.



Für alle Eisenbahnfreunde hier noch ein paar Hintergrundinformationen: Neben der noch heute betriebenen Linie Eberswalde - Bad Freienwalde - Wriezen gab es ab Bad Freienwalde eine Bahnlinie nach Angermünde (die unpassierbare Bahnschwellen-Schotter-Bäume-Strecke) und eine Nebenbahnstrecke nach Zehden (heute Cedynia/Polen).  Auf der letzten bin ich gerade gefahren. Beide Bahnen waren selbst zu ihrer jeweiligen Blütezeit nicht gerade wirtschaftliche Goldgruben und wurden deshalb nach einigen Jahren Betrieb zurückgebaut.

Gleich nach meinem kleinen Eisenbahnbrücken-Abenteuer scheint sich die geradlinige Weiterfahrt irgendwo in der Vegetation zu verlieren. Zwangsweise biege ich nach Westen auf eine Schotterstraße. Diese Richtung hatte ich so nicht geplant. Doch mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs stelle ich mich darauf ein, in großem Bogen über Falkenberg und das dahinterliegende Minigebirge nach Freienwalde zu steuern. Das würde Körner kosten und mich heute Abend in zeitliche Schwierigkeiten bringen, aber insgeheim wäre das ein sehr reizvoller Umweg.

 

Aber dann kommt es doch anders. Aus dem Schotterweg wird eine Asphaltstraße und die bringt mich in direkter Linie nach Bad Freienwalde. Hier nehme ich notgedrungen eine kleine Stadtrundfahrt in Kauf und schlage mich am äußersten östlichen Ende, gleich hinter dem Friedhof, in den Wald. Ich irre auf einem wunderbaren Geflecht von kleinen Pfaden durch einen herrlichen Mischwald und finde endlich, was ich gesucht habe: Es ist der Aussichtsturm auf dem Galgenberg. Der Turm ist ein klassischer Aussichtsturm der alten Schule: Er besteht aus Backstein, ist etwas über 20 Meter hoch und stammt von 1879. Für mich ist er heute nur eine Landmarke. Ich knipse ein Foto und bin schon wieder weg …

 

Wohl jeder Bad Freienwalde - Ausflügler kennt den „Sieben-Hügel-Weg“. Der führt direkt zum Baasee, einem romantischen Waldsee mit uriger Ausflugsgaststätte. Auch ich nehme heute diesen Weg. Wie immer verzähle ich mich bei den sieben Bergen. Deshalb habe ich noch längst nicht alle Gipfel beisammen, als ich am Baasee ankomme. Ich fahre weiter Richtung Mühlental und rechne die folgenden Kuppen einfach dazu. Ein kleines Stück Landstraße überbrückt die Distanz bis zum nächsten Feldweg. Er ist von Alleebäumen gesäumt, die zwar noch keine eigenen Blätter haben, aber über und über mit Misteln bewachsen sind. Wie auf sandigen Schienen geht es immer geradeaus zur alten Militärstraße beim Bunker Harnekoop. 



Die Wälder in der Umgebung Berlins waren ja während des kalten Krieges mit militärischen Anlagen nur so durchsetzt. Doch hier, in dem großflächigen und besonders abgelegenen Waldstück zwischen Steinbeck und Sternebeck entstand ein ganz besonderes Objekt. Getarnt als ganz normale Plattenbau-Kaserne wurde ein gewaltiger unterirdischer Bunker errichtet. Er sollte der DDR-Führung bei einem Atomkrieg das Überleben sichern. Das Bauwerk wird heute von einem Verein betreut, der in ruhigeren Zeiten sicher auch wieder Führungen anbieten wird. Aber auf Sightseeing habe ich ohnehin keine Lust. Noch weit vor dem Bunker verlasse ich die Betonplattenstraße und schlage mich in die Büsche. Die „Büsche“ sind hier ein tiefer Wald, in dem man sich glatt verlaufen oder verfahren kann. (Wenn ich ein Brandenburger Wolf wäre, hätte ich wohl genau in diesem weitläufigen Wald mein zu Hause!) Was die Navigation betrifft, kann ich mich ganz entspannt in meinen Sattel fläzen. Ich kenne die Gegend sozusagen wie meine eigene Trikottasche. Vor gerade einmal zwei Wochen bin ich mit dem GPS-Gerät kreuz und quer durch diesen Wald geradelt, habe Wege aufgezeichnet und später auf Openstreetmap eingetragen. Von dieser Streckenkenntnis kann ich heute profitieren. (Und vielleicht haben auch Nutzer von komoot und Co. bald etwas davon …) Ich kurbele einige kurze Anstiege hinauf, freue mich über rasante Abfahrten und komme an zwei verträumten Waldseen vorbei. Mehr als einmal bin ich mir sicher, dass genau dies der Ort ist, an dem sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. 

 

Auf einer großen Lichtung liegt die abgelegene Siedlung Biesow. Ich lasse sie links liegen, überquere die Freifläche und tauche wieder in den Wald ein. Ein zweites Mal gibt es kleine Waldseen im Doppelpack. Ich brause zu ihnen herunter, bewältige gleich darauf den kurzem Anstieg aus der Senke und folge einem breiten Forstweg. Die Häuser der kleinen Siedlung um das Fosthaus Leuneberg kommen in Sicht. Wie üblich versetze ich den Hofhund in helle Aufregung, als ich mit dem Rad an seinem Grundstück vorbei und dann wieder in den Wald schleiche. Jetzt kann es nicht mehr weit bis zu der Stelle sein, an der mich ein schmaler Hohlweg hinunter zum Mittelsee führt. Genau, hier ist er schon und dort glitzert ja auch das Wasser! Der Mittelsee und der gleich anschließende Gamensee sind wahre Naturhighlights dieser Tour. Wie kleine Fjorde liegen diese tiefen Rinnenseen in einer dicht bewaldeten Talkerbe. Um ehrlich zu sein, ich kann diese optische Aufmunterung jetzt gut gebrauchen. Fast 70 Kilometer - die meisten davon offroad - sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Kurz gesagt, der Hintern tut mir weh! Da kommt die landschaftliche Ablenkung wie gerufen. Der Weg an der Ostseite der Seen ist ein Traum. Er hält sich immer nahe am Wasser, aber er steigt dabei streckenweise die Uferböschung weit hinauf, so dass sich schöne Ausblicke bieten. Es gilt ein harmloses Baumhindernis zu überrollen und eine Talkerbe zu überwinden. Dazu muss man sich todesmutig einen steilen Abhang hinunterstürzen und so viel Schwung wie möglich mitnehmen, um am Gegenanstieg nicht zu verhungern. 



Die Bundesstraße 168, die überquert werden muss, kündet kurz von Zivilisation. Dann geht es schon wieder in in den Wald. Dieser Abschnitt des Gamengrunds ist ohne Seen und deshalb bei Touristen weniger beliebt. Aber auch dieser Wald ist ein herrlicher, weiter, wilder Wald, in dem man sich richtig einsam fühlen kann. Genau genommen macht das heute gar keinen Unterschied. Außerhalb der Orte bin ich bisher auf der ganzen Strecke keiner Menschenseele begegnet. Und um es vorwegzunehmen: Das wird sich bis Werneuchen auch nicht ändern!

Vor Werneuchen kommt noch Hirschfelde. Streng genommen endet schon hier mein Offroad-Abenteuer. Aber mit Augenzwinkern lässt sich die Schotterstrecke am ehemaligen Militärflugplatz vorbei nach Werneuchen auch noch als „unbefestigter“ Weg rechnen. 

 

Am Ende dieses Abschnitts, dort wo die Autostraße beginnt, ist Schluss mit Sand, Wurzeln und Schotter. Ich habe mich entschlossen, für den Rest der Tour nach Berlin den gepflegten Radweg an der B 158 zu nehmen. Das schont nicht nur mein Sitzfleisch, sondern hilft mir auch, das Reisetempo zu erhöhen und damit der bald hereinbrechenden Dunkelheit ein Schnippchen zu schlagen. So werden die verbleibenden 25 Kilometer zu einer gemütlichen Tourenradelei. 

 


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