Süße Energie

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... Der wahre Schatz wird im Inneren der Kühlvitrine aufbewahrt. Dort stehen sie in Reih und Glied, die Windräder, Kränzchen und Schatullen. In der nächsten Reihe sehen wir Kokosschnittchen, Indianer, Punschkugeln, sowie Marokkaner. Und dann gibt es noch Sahnerollen, süße Stafettenstäbe, Harlekine, Bergspitzen mit Schokoüberzug, Honigeckchen und noch so vieles mehr!

 

Ein Teilchen ist sahniger und cremiger als das andere. Süß und lecker sind sie alle. Und erst die  Schlagsahne! Sie  schmeckt nach dem 7. Himmel und der Kuchenteig ist knusprig oder watteweich, ganz genau wie es sein soll!

 

Einem erschöpften Radfahrer - zum Beispiel mir -  eröffnet sich hier das Paradies! ...


Die Berge der Tschechischen Republik kosten eine Menge Kraft. Da macht es Sinn, sich rechtzeitig Gedanken über den Energienachschub zu machen. Landestypisch gibt zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten. 

 

Die erste Option heißt Bratwurst mit Meerrettich und Kümmelbrot und dazu ein Bier. Diese Kombination wird an jedem besseren Imbiss-Kiosk gereicht. Diese Anstalten der kulinarischen Grundversorgung gibt es in viel größerer Zahl als bei uns. Dass trifft besonders auf die traditionellen Wandergebiete zu. Gerade dort ist es auch nicht ungewöhnlich, eine solche Hütten mitten im Wald und überhaupt an Stellen zu finden, an denen man nicht mit ihnen rechnen würde. Es kann zwar passieren, dass die Würstchen ausverkauft sind, aber das gute Bier gibt es immer!

 

Hier soll es aber eindeutig um die zweite, nämlich die süße Art der Verköstigung gehen.  

 

Typischerweise lenkt man dafür seinen Drahtesel in eine Kleinstadt. Dort macht man sich auf die Suche nach dem historischen Marktplatz. Der Platz hat gewöhnlich einen rechteckigen Grundriss, und eine Pestsäule mit Heiligenfigur in der Mitte. Er ist gesäumt von schönen Häusern aus mittelalterlicher Zeit. Diese Häuser bilden im Allgemeinen einen Arkadengang, der es dem Fußgänger ermöglicht, den Platz vor Witterung geschützt zu umrunden. Ob es wohl früher in Böhmen ein besonders schlechtes Wetter gab, so dass diese Architektur erforderlich wurde?

 

Hinter den schweren Säulen, die die ganze Last der oberen Geschosse tragen, und den großen bogenförmigen Öffnungen verbergen sich nun allerlei Läden und kleine Geschäfte. Große Marken sucht man hier vergeblich, denn die tummeln sich ausnahmslos im Gewerbegebiet vor der Stadt. Vielmehr gibt es am Marktplatz eine bunte Mischung aus freakigen Kunstgewerbeläden und einer handvoll  alteingesessener Kleingewerbetreibender, die den Absprung in einen ordentlichen Brotberuf verpasst haben.

 

Bevor ich abschweife: Wir sind ja immer noch auf Nahrungssuche und dabei ist gerade jetzt höchste Aufmerksamkeit gefragt! Wir müssen nämlich eine unscheinbare Tür aufspüren, über der die magischen Buchstaben c u k r á r n a angebracht sind. Das Wörterbuch würde erklären, dass „Cukrárna“ „Konditorei“ bedeutet, aber das - wir werden es gleich sehen - trifft die Sache nur bedingt.

 

Auf jeden Fall kann man davon ausgehen, dass diese Cukrárna nicht besonders großen Wert darauf legt, gefunden zu werden. Wenn es Schaufenster gibt, sind diese häufig blickdicht zugestellt. Aber ich kann versichern: Solange „Cukrárna“ über der Tür steht, ist es richtig! Also treten wir ein durch die in Aluminium gefasste Tür, die 1980 einmal hochmodern war, und die einen erheblichen Kontrast zu dem alten Haus darstellt. Es eröffnet sich ein schmales, recht schmuckloses Ladenlokal mit ein paar Tischchen und Stühlen. Trotz einiger neumodischer Artefakte entspricht der Einrichtungsstil dem Zeitgeschmack der 1980er Jahre, wobei das Lokal insgesamt einen recht gepflegten Eindruck macht. 

 

Der Mittelpunkt des Raums, sozusagen der Altar, ist jedoch ganz klar eine große gläserne und Neon-beleuchtete Kühlvitrine mit dem dazu gehörenden Servicepersonal. Letzteres rekrutiert sich normalerweise aus zwei liebenswürdigen und meist korpulenten Damen mittleren Alters, die Kittelschürzen tragen. Sie besitzen überdies die Fähigkeit, über die gesamte Schicht und ohne Unterbrechung in schönstem Tschechisch miteinander zu tratschen.

 

Aber ich schweife schon wieder ab. Der wahre Schatz wird im Inneren der Kühlvitrine aufbewahrt. Dort stehen sie in Reih und Glied, die Windräder, Kränzchen und Schatullen. In der nächsten Reihe sehen wir Kokosschnittchen, Indianer, Punschkugeln, sowie Marokkaner. Und dann gibt es noch Sahnerollen, süße Stafettenstäbe, Harlekine, Bergspitzen mit Schokoüberzug, Honigeckchen und noch so vieles mehr! Ein Teilchen ist sahniger und cremiger als das andere. Süß und lecker sind sie alle. Und erst die Schlagsahne! Sie schmeckt nach dem 7. Himmel und der Kuchenteig ist knusprig oder watteweich, ganz genau wie es sein soll!

 

Einem erschöpften Radfahrer - zum Beispiel mir - eröffnet sich das Paradies! Und die lieben Verkäuferinnen sind wahre Engel, die mir jeden Wunsch von den Augen ablesen und (gegen ein paar Kronen) freigiebig von ihren Schätzen verteilen. Aus welchen geheimen Zauberwerkstätten die Leckereien stammen, bleibt stets ein ungelöstes Rätsel. Direkt vor Ort produziert werden sie kaum, aber das ändert nichts am sahniger Traum!

 

Ein bisschen vorsichtig sollte man beim Schlemmen aber sein. Schnell sind die Augen größer als der Mund. Gibt man sich im Übermaß diesem Schlaraffenland hin, fällt der anschließende Aufstieg auf das Fahrrad doppelt schwer. 

 


Am Schluss möchte ich noch zwei sachdienliche Hinweise geben: 

 

1) Die Information, dass es in einer Cukrárna keinen anständigen Kaffee gib, war bis in die frühen 2000er Jahre richtig. Jetzt ist sie veraltet, denn heute verfügt jede Cukrárna über eine chromblitzende italienische Espressomaschine mit feinsten Bohnen.

 

2) Wichtiger ist jedoch, dass man die Cukrárna auf keinen Fall mit jenen woken Coffeeshops verwechseln darf, die neuerdings wie Pilze aus fast jedem Kleinstadtboden wachsen. Die neuen Cafes erkennt man daran, dass die Räumlichkeiten stylisch aufgemotzt sind und die junge männliche Bedienung einen Dutt und die weibliche einen Schlabberpulli trägt. Hier sind sämtliche Speisen und Getränke nachhaltig, vegan und fair, aber leider ungenießbar. In der Folge schmecken die winzigen, aus Dinkelmehl gebackenen und staubtrockenen Kuchenteilchen irgendwie nach Pappe. Weil sie so klein sind, machen sie auch nicht satt. Dafür wird aber ganz sicher wird durch ihren Verzehr die Welt gerettet, jedenfalls wenn ganz fest daran glaubt.

 

 

Ich dagegen tanke meine Energie für die böhmischen Berge am liebsten in der guten alten Cukrárna und hoffe, dass es sie noch lange gibt!


Zu dieser Geschichte wurde ich bei einem Besuch der Cukrárna in Jičín (Jitschin) inspiriert. Hier ist dieses süße Paradies zu finden.