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Höhen und Tiefen in Brandenburg

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... Im ungünstigen Fall könnte ich die Fahrradlaune meiner Nichte nachhaltig ruinieren!

 

Andererseits wäre mein Ruf als Fahrrad-Onkel gefährdet, wenn sich die Route als lahme und langweilige Oma-Tour erweisen würde.

 

Denn insgeheim hoffe ich natürlich, meine Nichte Lena heimlich mit dem Fahrradbazillus zu infizieren ...


Heute ist Sonntag der 22. Oktober 2023 und heute ist ein ganz besonderer Tag. Das Besondere ist ja nicht, dass ich wieder einmal aufs Fahrrad steige. Das ist bekanntlich nicht so ungewöhnlich. Doch heute werde ich von einer jungen Dame begleitet! Es handelt sich um meine 13-jährige Nichte Lena. Wie aus heiterem Himmel kam vor wenigen Tagen ihr Anruf, ob wir nicht wieder einmal gemeinsam Fahrrad fahren könnten. Kann der Onkel Nils da etwa „nein“ sagen?!

 

Für die Streckenplanung wurde mir freie Hand gegeben und damit leider auch die Last der Entscheidung: Ich meine, um dem seltenen Anlass gerecht zu werden, müsste die Strecke schon einigermaßen attraktiv sein. Aber sollten wir lieber querfeldein durch den Wald fahren oder doch besser auf der Straße? Und welche Distanz ist eigentlich akzeptabel?

 

Im ungünstigen Fall könnte ich die Fahrradlaune meiner Nichte nachhaltig ruinieren! Andererseits wäre mein Ruf als Fahrrad-Onkel gefährdet, wenn sich die Route als lahme und langweilige Oma-Tour erweisen würde. Insgeheim hoffe ich natürlich, meine Nichte Lena mit dem Fahrradbazillus zu infizieren. Wenn sie sich in ein paar Jahren von ihrem eigenen Geld ein neues Fahrrad kaufen sollte, wäre es doch schön, wenn das ein Rennrad wäre und nicht gerade ein Hollandrad!

 

Wir starten an dem kleinen Flugplatz von Strausberg und nehmen damit eine der schönsten Fahrradstrecken der Umgebung in Angriff. Sie führt auf fast autofreien Straßen über Dörfer und Hügel in Richtung Wriezen. Lena hatte die Wahl des Sportgeräts und hat sich für den „Silberpfeil“, mein schnelles Singlespeed-Fahrrad, entschieden. Eine gute Entscheidung, wie ich finde. Ich dagegen reite auf meinem Klappfahrrad, der in letzter Zeit etwas vernachlässigten „Signora-Farina“. Doch auch Signora ist nicht zu unterschätzen. Sie hat erst kürzlich eine Verjüngungskur bekommen und sollte nun mit neuen Reifen richtig schnell sein.

 

Wie gewöhnlich versucht das Hoppelpflaster vor den Hangars unseren Enthusiasmus abzukühlen. Ja, Pflastersteine und 5 Bar Reifendruck sind keine besonders angenehme Kombination. Aber es sind nicht einmal 500 Meter und dann erreichen wir glücklich die hindernisfreie Asphaltbahn nach Klosterdorf. Lena macht sich mit dem Singlespeed-Bike vertraut. „Rutschen diese schmalen Reifen nicht weg?“, fragt sie skeptisch, während sie vorsichtig beschleunigt. Doch von Sekunde zu Sekunde wächst ihr Vertrauen in das Gerät. Jetzt tritt sie richtig in die Pedale. Und der Silberpfeil tut das, was er am besten kann: Speeeeed! 

 

Schon fliegen die verstreuten Bauernhöfe an uns vorbei, dann der Hundesportplatz und schließlich das Fußballfeld. Und schon sind wir in Klosterdorf, wo es zwei Straßen, eine Kreuzung und eine Kirche gibt. Und doch zieht sich das Dorf in die Länge, wohl auch, weil es nun leicht aufwärts geht. 

Gleich hinter den letzten Häusern biegen wir von der Landstraße ab und nehmen den Abzweig nach Kähnsdorf. Es handelt sich um eine schmale und schnurgerade Alleenstraße, die eine handvoll abgelegener Anwesen mit der Außenwelt verbindet. Und diese Straße muss verhext sein: Schon oft, wenn ich von ausgedehnten Touren ausgepowert in Gegenrichtung zurückkehrte, musste ich für den sanften, aber langen Anstieg meine kaum noch vorhandenen Kräfte mobilisieren. Im Umkehrschluss müssten wir jetzt von einem angenehmen Gefälle profitieren, doch ein Schub ist nicht spürbar.

Ob nun verhext oder nicht, genau auf dieser Allee beginnt eine traumhafte Fahrradstrecke, die erst nach vielen Kilometern in Kunersdorf ganz in der Nähe von Wriezen endet. Hier gibt es die perfekte Kombination, die man sonst nur selten findet: Rennrad tauglicher Asphalt in Verbindung mit einer abwechslungsreichen und schönen Natur, dazu verträumte Dörfer und die Abwesenheit von Motorverkehr.  Weil zu dieser Mischung auch noch ein paar Hügel gehören, kann niemals Langeweile aufkommen. 

 

Wie man meinen Worten leicht entnehmen kann, bin ich in diese Strecke verliebt! Doch damit bin ich nicht allein. Viele Nutzer des Kartendienstes Komoot loben diesen Abschnitt der  „Tour Brandenburg“ in den höchsten Tönen. „1A Radweg - wunderbarer Belag, herrliche Landschaft“ ist da zu lesen, oder auch: „Dieser Abschnitt erfüllt alle Superlative“ oder einfach „Genießertour par excellence“.

Nun haben wir die drei Häuser (Tatsächlich gibt es sogar 16 Hausnummern!) von Kähnsdorf hinter uns gelassen und sind in einen Wald eingetaucht. Auch hier bleibt uns der gute Straßenbelag erhalten, wenngleich schmieriges Laub und Tannenzapfen etwas Aufmerksamkeit erfordern. Der Forst ist nicht sehr groß und gleich nach einer engen Kehre verwandelt sich die Straße in eine Anstiegsrampe. Das ist auch logisch, denn dort, wo dieser Wald zu Ende ist, befindet sich der höchste Punkt der gesamten heutigen Strecke. 

 

Das sage ich Lena auch, denn sie muss jetzt ihre ganzen Kräfte mobilisieren. Als Sportlerin kennt sie sich mit dem Durchbeißen aus und zieht die Steigung ohne zu klagen hoch. Gut gemacht, Lena! 

Die andere Tatsache behalte ich vorerst aber lieber für mich: Der „höchster Punkt“ ist nicht gleichbedeutend mit „Es gibt danach keine Anstiege mehr.“. 

Immerhin folgt gleich darauf die Belohnung. Sie besteht in einer Schussfahrt hinunter in das Dorf Prädikow. Ich lasse meine Signora einfach rollen, worauf sie schneller und schneller wird! Lena bleibt hinter mir zurück und geht die Sache vorsichtiger an. Wahrscheinlich sind ihr Silberpfeils daumenbreite Reifen immer noch nicht ganz geheuer.

 

Prädikow ist ein freundliches kleines Dorf, dessen Hauptattraktion in einem Storchennest auf einem hohen Mast besteht. Jetzt im Oktober ist das Nest natürlich schon leer und so düsen wir ohne Aufenthalt weiter.

 

„Nicht dein Ernst!“, entfährt es Lena: „Da müssen wir jetzt hoch?“ Es stimmt, gleich hinter dem Dorf folgt eine weitere Steigung und – das kann ich jetzt schon verraten – es wird nicht die letzte sein.

Unser Landkreis ist nämlich hügeliger, als die meisten glauben. Natürlich werden echte Bergfreunde über die maximale Höhe von 133 Höhenmetern auf unserer heutigen Route nur schmunzeln. Ich gebe aber zu bedenken, dass wir diese Höhenmeter auch wirklich erklettern müssen, denn unser Ziel liegt an der Grenze des Oderbruchs auf nahezu 0 Metern. Tatsache ist aber auch: Die eigentlichen „Berge“, jeder für sich, sind kaum 30 Meter hoch und selten ist ein Anstieg länger als ein paar hundert Meter. 

 

Deshalb ist für mich das Singlespeed-Fahrrad „Silberpfeil“ auch der ideale Gefährte auf den Touren in unserer Brandenburger Region. Weil dieses Fahrrad mit dem Rennrad, genauer gesagt mit dem Bahnrad, verwandt ist, ist es wahnsinnig schnell. Die fehlende Schaltung macht es sehr leicht und gleichzeitig unkompliziert. Die Hügel stören mich nicht. Im Gegenteil: Sie liefern genau die kurzweiligen Herausforderungen, ohne die eine Tour langweilig wäre.

 

Das alles gilt für mich, aber ob Lena das auch so sieht? 

 

Wie eine Schnecke einen Berg hinauf zu kriechen ist beim Singlespeed nämlich keine Option. Denn die Beine müssen schon mit einem Mindesttempo rotieren, um richtig Kraft abzugeben und eine Schaltung gibt es nicht.  Daraus folgt, dass man auf diesem Fahrrad gar nicht langsam fahren kann. Auch bergauf nicht. Auch nicht, wenn es dann besonders schwerfällt.

 

Die Dörfer Reichenow und Möglin kommen und ziehen vorbei. Es sind jeweils kleine Ansammlungen von Häusern. In dem einen gibt es eine alte Kirche aus Feldsteinen, das andere hat dafür einen Fußballplatz. Meine Begleiterin legt hin und wieder einen Sprint ein, dann lässt sie sich wieder treiben. Kilometer um Kilometer fließen unter unseren Fahrradreifen davon. Sogar die Sonne hat sich heraus getraut und lässt die Natur in warmen Herbsttönen erstrahlen. Die zahlreichen Hügelkuppen gewähren uns immer neue Ausblicke auf ein welliges Ackerland durchsetzt mit einzelnen Baumgruppen. Lena staunt über „dieses Gebirge“,das sie nicht nur sieht, sondern mittlerweile auch in den Beinen spürt. 

Hinter Möglin erfolgt eine lange Abfahrt hinunter ins Oderbruch nach Kunersdorf. Endlich können wir uns den Fahrtwind ins Gesicht blasen lassen und gleichzeitig sogar ein bisschen ausruhen!

 

Während wir uns Kunersdorf nähern, wird mir klar, dass ich mich mit meiner Routenplanung in eine Art Sackgasse manövriert habe. Von Kunersdorf gibt es nämlich einfach keinen schönen Weg zurück! Die gleiche Route in umgekehrter Richtung zu nehmen, verbietet sich aus zwei Gründen: Zum einen ist es (wie langweilig) eben die gleiche Route . Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass die Strecke sofort mit jener heftigen Steigung beginnen würde, die wir gerade heruntergesaust sind. Doch mir kommt eine Idee. Anstatt zurück zu radeln, könnten wir eine ähnlich weite Strecke auch ostwärts bis zur Oder fahren. Dann hätten wir ab jetzt eine ebene, schnelle Piste vor uns und nebenbei das Erfolgserlebnis, es bis in ein anderes Land geschafft zu haben! (Die Oderbrücke nach Polen zu überqueren, würde natürlich einfach dazugehören.) Mein Plan hat aber den Schönheitsfehler, dass wir dafür zur Rückreise ein Taxi bräuchten.

 

Schnell ziehe ich meinen Telefonjoker und rufe meine liebe Frau Tina an. „Könntest du biiitte …“, beginnt das Gespräch. Sie sagt nicht „Nein“! Aber diplomatisch knüpft sie einen möglichen Abholservice an eine unerfüllbare Bedingung. Sie würde uns aufsammeln, wenn wir vor Schwäche nicht mehr weiterkämen. Natürlich weiß sie, dass dieser Fall nicht eintreten kann. Nicht mit Lena und auch nicht mit mir! 

 

Also dann doch Plan B. Der beruht auf meiner dunklen Erinnerung, dass ich vor Jahren eine ganz ähnliche Runde gedreht hatte, wenn auch in entgegengesetzter Richtung. Leider müssen wir dazu ein paar Kilometer auf der Bundesstraße 167 nach Süden. Da es wirklich keine gescheite Alternative gibt, müssen wir eben in den sauren Apfel beißen. Kurz belehre ich den mir anvertrauten Teenager über STVO-gerechtes Verhalten im Straßenverkehr, lasse noch zwei Möchtegern-Rennfahrer in ihren Autos durch und gebe Lena das „Go“ für die Schnellstraße. Ich fädle mich kurz hinter ihr ein, um sie nach hinten abzusichern. So habe ich das Mädchen auch gut im Blick.

 

Und was ich sehe, lässt mich staunen! Lena ist auf einmal wie verwandelt. In einem beachtlichen Tempo spult sie gleichmäßig wie ein Profi die acht kritischen Kilometer bis Altfriedland ab. Ich meine, meine Begleiterin hätte allen Grund gehabt, wegen der zunehmenden Ödnis dieser Landstraße in den Bummelstreik zu gehen. Auch ein kurzes Sprint-Strohfeuer mit anschließender dringender Pausenforderung hätte mich nicht erstaunt. Stattdessen kurbeln wir gemeinsam diesen Abschnitt durch, als wären wir ein eingespieltes Radsport-Team. Nur gelegentlich dringen Wortfetzen an meine Ohren, die sich nach Flüchen anhören. Sie gelten dem Wind, der wie aus dem Nichts aufgekommen ist und uns natürlich von vorn entgegen bläst. Als endlich der Ort Altfriedland auftaucht, bin ich trotzdem erleichtert. Nicht dass wir nun schon fast zu Hause wären, aber eine auch mental schwierige Zwischenetappe ist gemeistert!

 

Wir biegen in die kleinere Straße ab, die uns zurück zum Ausgangspunkt bringen wird. Etwas abseits der Chaussee finden wir ein Stück Rasen für die nun dringend fällige Pause. Kaum liegen unsere Fahrräder im Gras, da fordert Lenas Handy energisch einen digitalen Situationsbericht in Form eines Fotos. Als Laie könnte man nun meinen, es wäre „Big Brother“ der uns hier überwacht. Doch Orwells „Großer Bruder“ würde das jederzeit tun, ohne sich bemerkbar zu machen. Auch ein besorgtes Elternteil ist es nicht. Es handelt sich um „BeReal“, eine gerade schwer angesagte Social-Media-App. Dabei werden alle Benutzer zeitgleich und einmal täglich aufgefordert, einen Fotoschnappschuss zu machen und sofort mit ihren Freunden zu teilen. Das Perfide daran ist, dass niemand weiß, zu welcher Zeit die App ein Foto begehrt. Durch ein paar kleine erzieherische Tricks verhindert BeReal ein Schummeln mit zuvor oder später inszenierten Bildern. So kann sich idealerweise jeder der Freunde ein recht authentisches Bild davon machen, was der andere gerade treibt.

 

Nun hätte es natürlich leicht passieren können, dass der Gegenwind vorhin auf der B167 den Alarm der App einfach verweht hätte. Die Aufforderung bliebe damit unbeantwortet und am Ende wäre es meine Schuld, dass Lenas Online-Reputation in den Keller gerauscht wäre… So gesehen haben wir mit unserer Pause gerade alles richtig gemacht! Doch insgeheim frage ich mich, ob sich aus dieser App wohl so eine Art Wettkampf ergibt, wer die aufregensten Aktivitäten hat? Naja, in Wirklichkeit rechne ich nicht unbedingt damit, dass der Coolness-Faktor einer Onkel-Nils-Fahrradtour besonders hoch ist...

 

Während wir also am Wegesrand hocken, kommen auch unsere Beine so langsam wieder zu sich. Wir plaudern ein wenig, gucken in die Landschaft und überlegen, ob die große graue Wolke dahinten uns wohl noch Regen bringt. Wir könnten auch einfach noch eine Stunde hier sitzen bleiben, doch damit kämen wir unserem Auto keinen Meter näher.

 

Nein, es lässt sich nicht mehr verdrängen: Wir müssen weiterfahren! Was?! Wirklich?! Die Beine sind doch schon leer gesaugt! Und müssen wir uns wirklich schon wieder auf diesen fürchterlich harten Sattel setzen? Ja, ich fürchte ja.

 

Nun ist es mit der Motivation so eine Sache. Sie ist ein scheues Wesen und macht sich gern aus dem Staub, wenn die erste Euphorie verbraucht ist und das Ziel immer noch endlos weit weg erscheint. Wie kriege ich das nun hin, das sich nicht auch noch der letzte Kampfgeist verflüchtigt?

 

Ich versuche es damit, die verbleibenden Dörfer auf meinem Handydisplay zu zählen: Ringenwalde, Reichenberg, Ihlow, Grunow, Klosterfelde. „Es sind nur noch 5 Dörfer.“, murmle ich vor mich hin. Anschließend versuche ich plausibel und gleichzeitig optimistisch zu klingen: „Und weil die alle so ungefähr 3 Kilometer auseinander liegen, haben wir bloß noch 15 Kilometer vor uns! Das ist ja nur noch eine dreiviertel Stunde!“

 

Derweil tippt und wischt Lena auf ihrem Handy herum und kontert: „Ich sehe 25 Kilometer, das sind noch mindestens 1¼ Stunden!“ „Mist“, denke ich: „Google-Maps hat es ihr verraten!“ Merke: Ich sollte nicht versuchen, eine Handy-erfahrene Jugendliche hinter die Fichte zu führen!

 

(Um bei der Wahrheit zu bleiben: Ab diesem Punkt hatten wir noch genau 21,2 Kilometer vor uns. Das habe ich hinterher ganz genau nachgemessen. Googles 1¼ Stunden haben wir trotzdem gebraucht.)

 

Es lässt sich gar nicht leugnen: Die folgenden Kilometer sind für uns beide eine große Herausforderung. Brandenburg bietet einige nicht zu unterschätzende Hindernisse auf. Dazu gehören sich wiederholende Anstiege, die deprimierende räumliche Ausdehnung unter einem endlosen grauen Himmel und einige der miesesten Straßen der Welt. Ja, auch das berüchtigte Brandenburger Kopfsteinpflaster bleibt uns nicht erspart. (Komisch, erst jetzt erinnere ich mich, dass ich mich schon vor Jahren über dieses Pflaster geärgert hatte!)

 

Ohne große Hektik, aber doch beharrlich, versuche ich, uns voran zu bringen und meine Fahrrad-Kameradin erweist sich als Kämpferin. Meine Rolle dagegen ist wechselnd: Mal fahre ich stur voraus, dann rede ich ihr gut zu, spendiere Windschatten oder liefere am Berg das letzte Quäntchen Schub. Der Silberpfeil, den Lena steuert, ist zwar ein schnelles Fahrrad, aber weil er keine Gangschaltung hat, erfordern selbst Brandenburger Hügel ordentlich Biss. Um Lena nicht zu demotivieren, nehme ich mir vor, selbst auch nicht zu schalten. (Nur leider denke ich nicht immer an meinen Vorsatz...)

 

Meter addieren sich langsam zu Kilometern. Bald liegt das erste Dorf, also Ringenwalde, hinter uns, dann auch Reichenberg und schließlich Ihlow. Lena kommentiert: „Wer will schon in dieser Einöde wohnen?“ Immerhin hat sich die dicke graue Wolke am Himmel von Altfriedland aufgelöst. Doch ein idyllischer und sonniger Abend wird es dadurch auch nicht. Nur ein schmaler rötlicher Streifen leuchtet am Westhimmel.

 

Inzwischen haben wir auch Grunow hinter uns gelassen. Gerade halten wir  mitten auf der freien Strecke für eine letzte Trinkpause. Ausgestorben liegt die Straße da und die Autos scheinen auf einmal vom Erdboden verschluckt zu sein. Die Luft um uns herum ist nun ganz klar. Der Wind ist eingeschlafen, aber die Dämmerung beginnt schon aus allen Ritzen zu kriechen. Ein Hauch von Nebel steht über den Feldern. Und wenn nicht gerade ein riesiger schnatternder Gänseschwarm über den Himmel ziehen würde, wäre es ganz still. Ich empfinde die Situation als magisch! Die Ruhe und Weite hier mag zu dieser Stimmung genauso beitragen, wie die leichte körperliche Ermattung kombiniert mit der inneren Unruhe, die dadurch entsteht, dass noch ein paar Restkilometer ungeduldig auf uns warten.   

 

Vor Klosterdorf müssen wir noch durch ein kleines Waldgebiet. Hier merkt man schon deutlich, dass wir zeitlich sehr knapp dran sind. In wenigen Minuten wird es finster sein. Unsere fehlende Fahrradbeleuchtung können wir jetzt nur durch Geschwindigkeit ersetzen. Rehe oder andere Waldtiere lassen sich nicht an der Landstraße blicken, was vielleicht auch besser ist! Trotzdem bemerken wir beide, dass da etwas im Straßengraben liegt. Ein Kadaver ist es nicht, denn der wäre nicht leuchtend blau. Sieht das nicht aus wie die Kuscheltier-Krake, die auch Tina hat? Das muss untersucht werden!

Tatsächlich handelt es sich um ein krakenähnliches Stofftier, das aber bereits eine schwere Verletzung am Kopf erlitten hat. Dort quillt der weiße Füllstoff heraus. Wahrscheinlich wurde die arme blaue Krake schon von einem Dachs oder einem anderen Tier im Wald herumgeschleppt. Lena beschließt spontan, das kuschelige Wesen zu adoptieren. So wandert „Krake“ erst einmal in meinen Rucksack und die Fahrt geht weiter. Die Abzweigung nach Kähnsdorf zieht vorbei und damit sind wir wieder auf der alten Route. Hier waren wir schon vor ein paar Stunden. Klosterdorf liegt direkt vor uns und ist jetzt nur noch eine Formsache.

 

Gleich hinter Klosterdorf zündet meine Copilotin den Turbo! Nicht zu glauben, dass diese Beine, in denen schon 50 Kilometer Landstraße stecken, diesen Druck auf die Pedale bringen! Mit Vollgas rast sie die schnurgerade Fahrradstraße nach Strausberg entlang und ich bleibe ihr immer knapp auf den Fersen.

 

Im letzten Tageslicht schlüpfen wir durch den Hintereingang des Flugplatzes und erreichen damit wohlbehalten aber erschöpft unser Auto!

 

„Wie konntest du zum Schluss so ein Tempo machen?“, frage ich Lena. „Ohne Berge macht schnell fahren richtig Spaß!“ ist ihre Antwort.

Na, dann weiß ich ja schon, wo wir das nächste Mal radeln könnten: Auf dem Oderdeich von Hohenwutzen bis Schwedt sind es völlig ebene und autofreie 32 Kilometer!


Nachtrag vom 25.12.2023:

Heute feiert unsere Großfamilie Weihnachten. Alle sind ganz aufgeregt, denn der Weihnachtsmann hat einen Berg Geschenke da gelassen! 

 

Für mich hat er eine große blaue Kuschel-Krake mit Namen „Ole“ gebracht! Ole kommt mir irgendwie sehr bekannt vor. Sein Fell ist nun wieder ganz flauschig und die Kopfverletzung wurde sorgsam mit rotem Garn vernäht.

 

Danke liebe Weihnachts-Lena!


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