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Rock ’n’ Roll im Adlergebirge

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... Unglaublich, meine Route stimmt doch!

Endlich traue ich mich, die Bremsen loszulassen.

 

Augenblicklich galoppiert mein Monsta mit mir los und fliegt förmlich den Berg hinunter! In meinem Kopf rockt dazu die alte Chuck-Berry–Nummer „Rock and Roll Music“. Und wahrlich, es ist Rock ’n’ Roll wie Monsta über Steine, Spurrinnen und Schotter tanzt! ...

Foto: Collage aus eigenem Foto und Clipart
Illustrated by Jasmina El Bouamraoui and Karabo Poppy Moletsane, CC0, via Wikimedia Commons

Vier Schafe, eine Kuh, ein Plumpsklo und ganz viel Landschaft drumherum. Wir, das sind meine liebe Frau Tina und ich, haben uns auf einem verwaisten Bauernhof eingerichtet, denn wir haben Urlaub. Wir residieren hier in einem urwüchsigen Paradies in der östlichsten Ecke Böhmens, direkt am Fuß des Adlergebirges. Uns fehlt es an nichts: Wir genießen eine unwirkliche Ruhe, die nur vom gelegentlichen Muhen der vielen Rinder unterbrochen wird, die auf den Wiesen um uns herum wohnen. Des weiteren erfreuen wir uns an einem hügeligen Ausblick (natürlich mit Rinderherden am Horizont) und entzünden jeden Abend ein romantisches Lagerfeuer. Was mich besonders freut: Die Gelegenheit für ausgedehnte Radtouren haben wir hier auch. Und doch gibt es bisher ein Manko: Ich war noch nicht oben! Ich glaube, ich wäre wirklich enttäuscht, wenn ich es in diesem Urlaub nicht wenigstens einmal versucht hätte, in die Nähe der Gipfel des Adlergebirges zu kommen.

 

Da Tina diesen Ehrgeiz nicht teilt, ergibt sich heute für sie die Gelegenheit zur Stadtbesichtigung im nahen Nové Město nad Metují (Neustadt an der Mettau), während ich mich zum Gipfelsturm bereit mache. Ich habe es auf die Velká Deštná (Großkoppe) abgesehen. Mit 1115 Metern ist sie sogar der höchste Berg im Adlergebirge!

 

Vor dem erhofften Gipfelglück liegen viele „böhmische Dörfer“ und dazu ein mühsames Auf- und Ab. Gefühlt geht es dabei selbstverständlich fast nur aufwärts! Nicht dass diese ermüdenden Anstiege viel bringen würden. Meist rausche ich kurz danach gleich wieder hinunter und fange wieder von vorne an. So ist es hier eben: Das Vorgebirge spielt mit mir und es versucht schon jetzt, mich mürbe zu machen. Erschwerend kommt hinzu, dass jedes erreichte Dorf irgendwie genauso aussieht wie das vorige.

Für mehr Abwechslung wähle ich den Weg über Nový Hrádek (Neubürgles), weil ich dort an dem bemerkenswerten Aussichtsturm auf dem Šibeník vorbeikomme. Der stählerne Zylinder ist in seinem Kern eine recycelte Windkraftanlage. Man hat die Rotorengondel durch eine Aussichtsplattform ersetzt und zusätzlich eine äußere Wendeltreppe spendiert. Die eisernen Stufen sind schnell erklommen, wobei ich deutlich spüre, dass die gesamte Turmkonstruktion stärker schwankt, als ich es vermutet hätte. Oben gibt es den erwarteten Weitblick und die Erkenntnis, dass die grünen Buckel des Adlergebirges auch von hier noch erschreckend hoch aussehen. Dabei bin ich doch schon auf 650 Metern Höhe. Wenn das so ist, sollte ich hier wohl lieber nicht so lange herumstehen …  


"In meiner Jugend war ich ein Windrad."
"In meiner Jugend war ich ein Windrad."

Kaum sitze ich wieder auf dem Rad, setzt sich das bekannte Spiel fort. Meine bescheidenen, schon erreichten Höhenmeter werden in rasanter Abfahrt gleich wieder zunichte gemacht. Wie gesagt, das Vorgebirge spielt ein gemeines Spiel mit mir.

 

Auf der Landstraße, die mir nun erstaunlicherweise nur mäßig steil vorkommt, stampfe ich sogleich wieder aufwärts. Die Inspiration des Šibeník und die gleichmäßige Betätigung geben mir Zeit für ein paar subversive Gedanken: Wie viele wunderbare Aussichtstürme werden in nicht zu ferner Zukunft bei uns in Deutschland zu beklettern sein, wenn der Spuk der grünen Taliban endlich vorbei sein wird! 

 

Mein nächstes Zwischenziel heißt Olešnice (Gießhübel). Dabei gibt der Beiname „v Orlických horách“ (im Adlergebirge) unmissverständlich zu verstehen, dass ich jetzt richtig drin bin im Gebirge. Dieser Ort scheint der Dreh- und Angelpunkt, sozusagen die Drehtür, in das Adlergebirge zu sein. Als offizielle Sehenswürdigkeit des Ortes gilt neben einer historischen, mechanisch bewegten Betlehem-Krippe ein weiterer Aussichtsturm. Den lasse ich heute lieber weg, denn er liegt beschwerliche 100 Meter oberhalb des Ortes. Außerdem waren Tina und ich gestern schon oben.

 

Besonders gefällt mir hier im Städtchen der gemütliche Marktplatz, der mit einem Brunnen und seiner Grünanlage vergleichsweise üppig ausgestattet ist. Weil er zwei Parallelstraßen verbindet, die auf verschiedenen Höhenebenen ankommen, liegt die kleine Grünfläche auf einem Abhang, was zu ungewöhnlichen Perspektiven führt. Die große Kirche hält sich im Hintergrund gibt dem ganzen Ensemble eine würdige Kulisse.

 

Hinter Olešnice schlage ich mich in den Wald. Auf Forstwegen, die wie in Tschechien üblich asphaltiert sind, geht es jetzt ohne Pause aufwärts. Die Steigung ist eher mäßig, aber dafür endlos. Nach einer geraden Strecke, die einfach niemals aufhören will, sorgen Richtungswechsel und eine Kreuzung für ein wenig Abwechslung. Dann geht es weiter hinauf. Die ganze Zeit stecke ich als  einziger Mensch in weitem Umkreis mitten in einer tiefgrünen Vegetation. Mein Tempo gleicht dem einer Schnecke. Aber die mitgeführte Elektronik registriert immerhin träge jeden neuen Höhenmeter und zählt nach langen Minuten widerwillig einen weiteren Straßenkilometer nach dem anderen dazu. Also bewege ich mich doch vorwärts! 

 

Wieder einmal schweifen die Gedanken ab. „Dass fühlt sich an wie der Brockenaufstieg!“, kommt es mir in den Sinn. Auch dort besteht die Strecke aus einem kontinuierlichen, langen Anstieg, aber die Erinnerung daran liegt schon eine Weile zurück.

 

Mit dem Harz und seinem Brocken hatte es vor vielen Jahren bei mir angefangen. Ursprünglich hielt ich (als Berliner Bulette und Fischkopp) zwar die Müggelberge (114 Meter hoch) für einen richtigen Gebirgszug. Aber dann suchte ich bald „echte“ Herausforderungen und fand sie im Harz. Schnell wurde der prestigeträchtige Brocken zum absoluten „Muss“. In die persönliche Nostalgie mischen sich heute leider Trauer und Wut. Denn in der Gegenwart ist der Hochharz, den ich als herrliches Waldgebiet kennenlernte, nur noch eine apokalyptische Mondlandschaft mit endlosen Feldern aus Baumleichen. Schuld daran war die Invasion des Borkenkäfers, der sein zerstörerisches Werk aber nur deshalb verrichten konnte, weil bornierte und ideologisch vernebelte Berufsgrüne eben unbedingt die „Natur Natur sein lassen“ wollten. Trotzig wie kleine Kinder ignorierten sie den Rat der Experten und das Jahrhunderte alte Wissen der Förster. Im dogmatisch verwalteten Nationalpark (Und nur dort!) ist das Ergebnis verheerend. Dumm nur, dass ausgerechnet die schönsten Landschaften zum Nationalpark erklärt wurden. Kurz gesagt: Um mir nicht kilometerweit abgestorbenen Wald ansehen zu müssen, habe ich schweren Herzens den Nationalpark Hochharz aus der Liste meiner Reiseziele (endgültig?) gestrichen. Lieber bewahre ich eine schöne Erinnerung ...

 

Die kleine Wut, die gerade in mir aufgekommen war, hat auch ihr Gutes. Sie wirkt sich förderlich auf mein Fahrtempo aus! Langsam registriere ich, wie die Bäume um mich herum nun merklich kleiner werden. Der Wald lichtet sich und die Abschnitte, auf denen es die Sonnenstrahlen bis hinunter auf den Asphalt schaffen, werden immer häufiger. Einer der obligatorischen Bunker der Beneš-Linie taucht am Wegesrand auf. Diese Betonbunker, militärische Ungetüme von zweifelhaftem Wert, sind allgegenwärtig im tschechischen Grenzgebiet. Von ihnen soll es insgesamt etwa 10.000 Stück geben! Dieses Wahnsinnsprojekt der 1930er hat jedoch auch heute noch einen Nutzen. Schließlich können die Bunker Wanderern, Touristen und Mountainbike-Fahrern als unbestechliche Wegmarken in dem grünen Durcheinander der Natur dienen. In Verbindung mit meiner Landkarte sagt mir dieser Betonklotz, dass ich noch mindestens einen weiteren Kilometer aufwärts strampeln muss. Dann kann ich an einer markanten Wegkreuzung eine Pause einplanen.


Bye bye Zivilisation: Die letzten Häuser von Olešnice
Bye bye Zivilisation: Die letzten Häuser von Olešnice

Alter Bunker als Landmarke: Weit kann es nicht mehr sein bis oben!
Alter Bunker als Landmarke: Weit kann es nicht mehr sein bis oben!

Diese Kreuzung heißt „Pod Sedloňovským vrchem“ und einige Minuten später mache ich hier endlich Rast. Überraschenderweise geht es danach ein Stück abwärts. Ich sollte es genießen, bevor ich weiter klettern muss!

 

Nach einer weiteren Kreuzung geht es immer noch abwärts ... „Nanu, kann das richtig sein?“, denke ich: „Verpulvere ich gerade alle meine Höhenmeter, weil ich falsch abgebogen bin?“

Lieber checke ich noch einmal die Karte: Das Resultat ist unglaublich, die Route stimmt doch!

 

Kurioserweise verfliegen meine letzten Zweifel erst, als der bis dahin erstklassige Schotterweg deutlich buckliger wird. Endlich traue ich mich, die Bremsen loszulassen. Augenblicklich galoppiert mein Monsta mit mir los und fliegt förmlich den Berg hinunter! In meinem Kopf rockt dazu die alte Chuck-Berry–Nummer „Rock and Roll Music“. Und wahrlich, es ist Rock ’n’ Roll wie Monsta über Steine, Spurrinnen und Schotter tanzt!

 

Die wilde Fahrt endet an der Šerlišský Mlýn (Scherlich Mühle) die aber gar keine Mühle, sondern eine Ansammlung von Ferienheimen im traditionellem Baustil ist. Sogar einen Tennisplatz gibt es hier, dafür aber keine Menschen. Die ganze Anlage ist wohl schon in den vorzeitigen Winterschlaf gegangen.

Es ist nun Zeit, den Preis für meine rekordverdächtige Rock ’n’ Roll-Abfahrt zu bezahlen. Der obligatorische folgende Anstieg ist hart und herzlich. Die Steigung ist gerade noch zu bewältigen. Dazu zwingt die mit Felsbrocken übersäte Oberfläche des Sandwegs zur Konzentration. In Sekundenschnelle tüftele ich immer wieder eine neue Fahrspur aus, die geschickt ein paar Haken um die herannahenden Hindernisse schlägt. Gleichzeitig muss ein halbwegs geschmeidiges Weiterrollen ermöglicht werden und die schwer schuftenden Beine freuen sich über jede kleine Entlastung in Form eines möglichst flachen Anstiegswinkels. Das Gute ist, dass ich auf dieser schweren, aber kurzen Strecke gar keine Zeit finde, über das Elend des Lebens nachzudenken. Damit ist diese Strecke zur Masaryk-Hütte dann doch überraschend leicht zu bewältigen!

 

Richtig! Gerade erst an der Scherlich Mühle beim letzten Blick auf die Landkarte habe ich zu meiner Überraschung festgestellt, dass ich nun an der wohl bekanntesten Baude des Adlergebirges herauskomme.

 

Die Lage dieser Hütte ist einfach optimal. Sie befindet sehr zentral im Adlergebirge und direkt auf dem Gebirgskamm. Unter ihr liegt nordöstlich ein großes Skigebiet. Das gehört schon zu Polen. Mein anvisiertes Ziel, der Gipfel der Velká Deštná, ist von der Baude nicht weit entfernt. Vor allem aber ist die Masarykova chata ein stolzes und wunderschönes altes Ausflugsgasthaus, das der Klub tschechischer Touristen (KČT) schon im 1925 aufbaute.

 

Ein bisschen wirkt die Berghütte so, als hätte man drei Häuser übereinander gestapelt. Die Basis bildet ein geräumiges einstöckiges Haus mit dicken Wänden, kleinen Fenstern und einem übergroßen grünen Dach. Aus der Dachschräge schauen auf zwei Ebenen große, gaubenartig gebaute Fensterreihen, die man jeweils für die Fenster eines eigenen Hauses halten könnte. Somit kommt die Chata auf ganze drei Etagen.

 

Auf einer Säule vor dem Gebäude wacht eine Bronzebüste mit einem hageren strengen Gesicht und einer Offiziersmütze auf dem Kopf. Das ist Herr Tomáš Garrigue Masaryk. Er war möglicherweise ein unehelicher Sohn von Kaiser Franz Joseph und mit Sicherheit der erste Präsident der 1918 neugegründeten Tschechoslowakei. Ihn darf man wohl zurecht einen Landesvater nennen, denn er genoss hohes Ansehen. Dreimal wurde er wiedergewählt und blieb damit bis zum Jahr 1935 in seinem Amt. Unter seiner Regierung blühte das Land auf. Das stolze tschechische Volk hatte nach den langen Jahren der Östereich-Ungarischen Monarchie endlich seinen eigenen Staat. Die Wirtschaft erlebte einen gewaltigen Aufschwung und dazu herrschte eine kulturelle Aufbruchstimmung. So ist es nicht verwunderlich, das Masaryk zur Personifikation des goldenen Zeitalters der Tschechoslowakischen Republik wurde. Zu seinen Versäumnissen zählt, dass es ihm nicht gelang, die große deutsche Minderheit im Land zu integrieren. Das waren im Jahr 1930 immerhin etwa 23% der Bevölkerung! Wenige Jahre später hatte Hitler im deutsch besiedelten Sudetenland dadurch ein leichtes Spiel. Die historische Katastrophe nahm ihren Lauf.

 

Die Offiziersmütze auf dem Bronzekopf vor dem Berggasthaus führt übrigens in die Irre. Herr Masaryk war von Hause aus Soziologe und Philosoph und kein Militär. Die erhaltenen Fotografien zeigen keinen Soldaten, sondern einen gütigen alten Mann mit Hut, Brille und Spitzbart.

 

Inzwischen bin ich in das Innere der altertümlichen Gastwirtschaft eingetreten. Sie wirkt mit ihrem dunklen Holz, den originalen Einbauten und den niedrigen Decken gemütlich. Gleichzeitig mit mir ist eine Schülergruppe eingekehrt. Es sind alles halbwüchsige Jungs, von denen jeder brav eine Kofola bestellt. Jedoch bleibt mir auch die Zigarette nicht verborgen, die hinter einem Ohr klemmt. 



Als ich an der Reihe bin, wird es auch bei mir kein Bier, denn ich habe ja noch ein ganz schönes Stück vor mir! Dafür gönne ich mir zur obligatorischen Kofola noch ein paar Schokoriegel. Natürlich probiere ich, bei meiner Bestellung meine rudimentären tschechischen Sprachkenntnisse anzubringen. Prompt wird mir auf polnisch geantwortet. Logisch, Ausländer sind hier im Grenzgebiet meist Polen!

 

Mit dem Bierkrug voll Kofola und einem Schokoriegel in der Hand inspiziere ich das Außengelände der Baude. Mir begegnet auf dem kleinen Spaziergang die rotblonde Hauskatze und eine Gruppe älterer Pedelec-Freunde, für die ich den Fotografen spielen darf.

 

Durch die kleine Pause ausgeruht und gut gestärkt kann es jetzt weitergehen. In einiger Entfernung sehe ich das Viereck eines Bauwerks auf dem Bergrücken gegenüber. Das muss der Aussichtsturm sein. Aus meiner aktuellen Perspektive sind Entfernung und Höhe noch recht erheblich. Trotzdem stellt sich eine Frage nun nicht mehr: „Kann ich das schaffen?“. Natürliche schaffe ich es, denn für ein Aufgeben bin ich nun einfach schon zu weit gekommen! Die Zufahrtsstraße zieht zunächst noch kräftig an. Dann wird sie langsam flacher, genau wie es der Kontur einer Hügelkuppe entspricht. Ja, das Adlergebirge besteht im Grunde aus einer Serie überdimensionaler grüner Hügel. Schroffe Felsen wird man kaum finden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ich bis auf den Gipfel auf 1115 Metern um mich herum einen recht dichten Wald vorfinde. Gemessen an der Höhe über dem Meeresspiegel sind seine Bäume  sogar erstaunlich groß!

 

Damit besteht die erste Herausforderung für einen Aussichtsturm darin, die umgebenden Bäume zu überragen. Wie gut es das erste hölzerne Exemplar aus der Zeit des späten 19. Jahrhunderts geschafft hat, ist nicht überliefert. Bekannt ist nur, dass ihm Sturm und Wetter immer wieder schwer zu schaffen machten. Schließlich musste er in den 1970er Jahren abgerissen werden. Spannend ist, dass die örtlichen Pfadfinder im Jahr 1992 einen neuen hölzernen Aussichtsturm aufbauten. Diese Konstruktion war das Geburtstagsgeschenk zum 60. Jubiläum eines bekannten Wildhüters der Region. Der Geburtstagsturm hielt immerhin 12 Jahre. Der nächste Turm – ebenfalls aus Holz – brachte es dann nur noch auf 6 Jahre.

 

Im Jahr 2019 wurde schließlich der neue Turm eröffnet, vor dem ich gerade stehe.  Sein Skelett besteht aus massiven Stahlträgern, was ein längeres Leben verspricht. Diese Eisenkonstruktion ist von allen Seiten mit diagonal verlaufenden Holzlamellen verkleidet. Dadurch sieht das Bauwerk gleichzeitig modern aus und passt trotzdem in die Natur. Es wirkt wie eine Mischung aus einer Stele aus einer Kunstausstellung und einem Miniatur-Wolkenkratzer. Gern zitiere ich die tschechische Online-Zeitung iDNES.cz: „Die Stahlkonstruktion ist mit einer Verblendung aus Lärchenprismen verkleidet, die Regen im Wind symbolisieren soll …“ Aha!

 

Es ist immer wieder erstaunlich, dass man stundenlang mutterseelenallein durch die Natur radeln kann und an den Hotspots dann doch auf eine beachtliche Menschenansammlung trifft. So ist es auch hier auf der Velká Deštná. Während ich auf den Aussichtsturm hinaufsteige, kommen mir auf der Treppe schon einige Besucher entgegen. Andere Touristen sind gerade beim Picknick unterhalb des Turms und auf der anderen Seite der kleinen Lichtung wartet geduldig ein Hund auf seine Menschen.

Die Aussicht von der Plattform ist weit und schön. Der Blick schweift über grüne Kuppen und verliert sich in einem ausgedehnten Tiefland, über dem dicke Wattewolken hängen. Ganz in der Ferne glänzt das „Ostböhmische Meer“, der Rozkoš-Stausee. Andererseits vermisse ich die Fixpunkte, an denen sich das Auge festhalten könnte. Auffällige Landmarken, wie markante Gipfel oder auffällige Gebäude gibt es hier auf dem Dach des Adlergebirges nirgends zu entdecken. Deshalb und auch weil hier oben ein frischer Wind weht, klettere ich nach kurzer Zeit die Stufen wieder hinunter. Schön, dass inzwischen die Sitzbank freigeworden ist! Vielleicht sollte ich gleich einen der Reserve-Riegel probieren, den ich in der Masaryk-Baude erworben hatte?


Velká Deštná, 1115 Meter - höher wird's heute nicht!
Velká Deštná, 1115 Meter - höher wird's heute nicht!

5 Minuten Gipfelglück!
5 Minuten Gipfelglück!

„Oben geblieben ist noch keiner!“, besagt ja ein altes Fliegermotto. Dasselbe gilt auch für alle Tourenmountainbiker, die ihr Quartier im Tal haben. Auch auf mich trifft das heute zu. Deshalb hatte ich mir bisher auch keine Gedanken darüber gemacht, auf welchem Weg ich wieder hinunter kommen würde. Ehrlich, ich habe keinen Plan! Ich weiß nur, dass die Schwerkraft mir schon irgendwie behilflich sein wird.

 

Damit ist es an der Zeit, beim Schokoriegel-Schmaus auch endlich meine Landkarte zu studieren. Aus ihr lerne ich, dass sich gleich unterhalb der Masaryk-Baude der polnische Wintersportort Zieleniec (Grunwald) befindet. Er liegt direkt an der Sudetenstraße. Das ist für mich eine interessante Überraschung! Die Sudetenstraße ist mir nämlich ein Begriff, weil sie auch am Isergebirge entlang führt. Sie war in den 1930er Jahren eine Art Infrastrukturmaßnahme und sollte die Erholungsorte auf der schlesischen Seite der Sudeten miteinander verbinden. Als Vorzeigeprojekt wurde der Straßenverlauf sogar nach ästhetischen Gesichtspunkten geplant und könnte mir damit schöne Aussichten und eine abwechslungsreiche Trassierung bieten.

 

Um nach Zieleniec zu kommen, müsste ich aber einen steilen Abhang hinunter. Der ist im Grunde eine riesengroße Abfahrts-Skipiste. Die zweite Überraschung ist, dass es außerhalb der Wintersaison ein ganzes Geflecht von Mountainbike-Trails gibt, die sich über die gesamte Bergflanke ziehen. Einer von ihnen heißt „Zig-Zag“ und verspricht eine ausgesprochen spaßige Reduktion der 150 Höhenmeter!

Weitere Gemeinheiten, wie etwa tückische Anstiege oder unpassierbare Strecken kann ich auf der Karte nicht finden. Im Gegenteil: Das Adlergebirge flacht nach Norden immer weiter ab. Ich muss mich nur auf gleicher Höhe halten, um später zurück über den Kamm nach Tschechien zu radeln. Dort würde ich auf kurzem Weg nach Olešnice gelangen. Richtig, das ist genau das Olešnice, in dem ich heute schon einmal war! Von dort aus gibt der Rückweg keine Rätsel auf. Auf der Route, die gerade in meinem Kopf entsteht,  könnte ich in Polen sogar noch einen weiteren kleinen Mountainbike-Trail mitnehmen. Ich finde, das hört sich nach einem brauchbaren Plan an. Und das ist natürlich eine Untertreibung: Der Weg ist ohne nennenswerte Anstiege, mit seinen zwei Trails und sogar der berühmten Sudetenstraße ein Hauptgewinn!

 

Für die Fahrt zurück zur Masaryk-Hütte nehme ich zunächst einen schmalen Pfad, der mich auf steinigem Untergrund direkt und ohne Umwege auf den Hauptweg bringt. Ausgerechnet an dieser Engstelle begegne ich der Altherren-Truppe mit ihren Elektrofahrrädern wieder. Auch sie lassen sich den Aussichtsturm also nicht entgehen!

 

Den nächsten Kilometer kann ich das „Monsta“-Bike einfach rollen lassen. Nur die  letzten Meter zur Baude geht es wieder aufwärts. Gleich am Haus folge ich für gerade einmal 50 Meter einem Fahrweg und finde mich an einem Hang wieder, der mit seinem Sammelsurium von Skilifts, Schneekanonen und Flutlichtmasten ganz klar die Skianlage sein muss. Ich bin also ganz unbürokratisch über den kurzen Schotterweg gerade in die Republik Polen eingereist. Da ich noch die Zeiten kenne, in denen es Kontrollhäuschen, Stempel und finster blickende Beamte gab, erscheinen mir die offenen Binnengrenzen immer noch wie ein Wunder. Sie sind ein doppeltes Wunder, wenn man die Uneinigkeit der EU-Länder bei der Abwehr der illegalen Einwanderung bedenkt. Doch mir als Radtouristen, der auf seinen Ausflügen routiniert die grünen Grenzen unserer Nachbarländer überquert und seine Augen offen hält, fällt auch etwas auf: Die Zusammenarbeit der Regionen kann nicht allzu innig sein! Liest man tschechische Beschreibungen des Adlergebirges, wird die polnische Seite mit keinem Wort erwähnt. Die Welt scheint an dieser unbewachten Grenze einfach zu Ende zu sein. Umgekehrt ist es das Gleiche.

 

Sogar die digitale Mapy.cz-Karte will von einer Möglichkeit eines durchgehenden Radwegs an dieser Stelle nichts wissen. Glaubt man der Landkarte, gibt es keine direkte Verbindung zwischen der Massaryk-Hütte und dem polnischen Skigebiet mit seinen sommerlichen Mountainbike-Trails. 

In der Realität ist dafür alles ganz einfach: Ein Schotterweg, 10x treten und schon bin ich „drüben“!

Nun heißt es Ausschau halten nach dem Beginn von „Zig-Zag“. Die Zufahrt zum Singletrail entdecke ich schnell. Sie wird von einem großen hölzernen Portal markiert, das aussieht wie eine Pforte in das düster wirkende Wäldchen zwischen den Skipisten. Dieses Portal hat aber einen Schönheitsfehler: Seine Durchfahrt ist sorgfältig mit einem dicken blauen Netz versperrt. Es ist die Sorte Netz, die sonst dafür genutzt wird, weniger geübte Skifahrer am Abflug über die Böschung zu hindern. Was bedeutet diese Absperrung jetzt für mich?


Das sieht nach Skipiste aus. Irgendwo hier beginnt auch der "Zig-Zag"-Trail ...
Das sieht nach Skipiste aus. Irgendwo hier beginnt auch der "Zig-Zag"-Trail ...

Natürlich habe ich auch schon die Lücke zwischen zwei Bäumen entdeckt, die mir trotzdem einen Zutritt zur Bike-Piste erlauben würde. Ich kalkuliere meine Risiken: Dass eine verrückt gewordene Pistenraupe mich in wilder Jagd quer über den Hang  hetzen würde, halte ich für unwahrscheinlich. Doch andere Fahrzeuge hätten in dem steilen Gelände gar keine Chance! Und irgendwelche Hindernisse oder Amtspersonen wären auf der offenen Schräge schon von weitem zu sehen. Außerdem wären sie weitgehend unbeweglich. Ich glaube, im schlimmsten aller Fälle könnte irgendwo ein Minibagger im Weg herumstehen! Und das ist ein Risiko, das ich eingehen kann. Ich sehe mich noch einmal um, ob wirklich keiner guckt, dann schlüpfe ich zwischen den Bäumen durch …

 

Der Zig-Zag-track erweist sich als genau das, was man von einer familientauglichen Spaßpiste erwarten kann. Das stets anliegende Gefälle sorgt für permanenten Schub. An Tempo gibt es hier keinen Mangel! Die 180-Grad-Kehren sind als Steilkurven ausgelegt und können fast ungebremst angegangen werden. Gegen die Langeweile auf den Geraden wurden runde Erdhügel aufgeschüttet. Hier ähnelt die Bahn einem Pumptrack. Während das Fahrrad den sinusförmigen Wellen der Spur folgt, fühle ich mich wiederholt schwerelos, weil meine Körpermasse lieber einfach geradeaus gleiten würde. Was für ein Spaß! Leider ist der Spaß viel zu schnell zu Ende. Die Höhenenergie ist einfach schon aufgebraucht.

Unter normalen Umständen käme jetzt das Geschäftliche. Kostenpflichtig würde sich der Zig-Zag-Liebhaber mittels Lift wieder den Hang hinaufziehen lassen, um eine neue Runde zu beginnen.

So etwas ist aber gar nicht nach meinem Geschmack. Ohnehin bestünde heute keine Möglichkeit zum mechanisierten Fahrrad-Transport, denn das Sommervergnügen wurde in Zieleniec schon beendet.

 

Die für den Ort wesentlich wichtigere Wintersaison ist dagegen noch weit entfernt. So fahre ich bald durch einen völlig verwaisten Wintersport-Ort. Kein Lift bewegt sich, die vielen Restaurants und Läden sind durchweg geschlossen, die Hotels dunkel und hier und da rottet ein geparktes Pistenfahrzeug auf einer Wiese vor sich hin. Es herrscht eine melancholische Stimmung. Ich brauche viel Fantasie, mir vorzustellen, wie fröhlich und wuselig es hier im Winter zugehen muss. Heute dagegen treffe ich im ganzen Ort keine einzige Person. Nur selten weisen geparkte Kleinlaster darauf hin, dass es hier eben doch Menschen geben muss, die Dinge reparieren oder aufpassen, dass nichts abhanden kommt.

    

Während ich auf der leeren Hauptstraße den Ort durchquere, klingt der Downhill-Pumptrack in mir nach. Mir wird wieder einmal klar, dass ich mit „Monsta“ genau den richtigen Fahrradkumpel an meiner Seite habe. Wir haben eine Menge Spaß auf solchen Abfahrtsstrecken, weil die fetten Reifen eine Menge wegstecken können. Aber wir kämpfen uns auch Berge hinauf, wo die Freunde schwerer Downhill-Fahrräder wegen des erheblichen Gewichts ihrer Maschinen aufgeben müssten. Völlig untalentiert ist Monsta auch auf der Landstraße nicht, wenngleich die Rennrad- und Gravelbike-Experten auf ihren schnellen Gazellen natürlich an uns vorbeiziehen. Schließlich wühlten Monsta und ich uns auch schon durch Matsch und Schnee, wo wohl die meisten Fahrräder steckengeblieben wären. Kurz gesagt, wir fahren zusammen durch dick und dünn. Dabei ist es ein schönes Gefühl, die Gewissheit zu haben, dass nichts, aber auch gar nichts uns aufhalten kann.

 

Nun bin ich also auf der Sudetenstraße. Kurze Anstiege wechseln sich mit Abfahrten ab. Gelegentlich ergeben sich Ausblicke auf das sonnenbeschienene Gebirgsvorland, dann tauche ich wieder in einen Wald ein. Links- und Rechtskurven sorgen für Abwechslung. Die Straßenstrecke ist viel zu kurz, um in diesen eigenartigen Trancezustand des Langstreckenradelns einzutauchen, bei denen die Beine automatisch funktionieren und der Kopf frei von jedem  Gedanken wird. Andererseits ist dieser Abschnitt der Sudetenstraße zu lang, um ihn auf „einer Pobacke“ abzusitzen. Nach meinem Plan müsste ich der Straße bis zu einem namenlosen Pass folgen, wo ich nach Tschechien abbiegen könnte und bis dahin sind es fast 7 hügelige Kilometer. Deshalb bin ich froh, als auf halbem Weg auf der rechten Seite ein Schotterplatz auftaucht. Von dem zweigt der kleine Mountainbike-Trail ab, den ich schon auf meiner Karte gesehen hatte. Auch hier gibt es ein hölzernes Portal und dieses Portal hier ist nicht versperrt. Der Pfad ist nicht unbedingt sensationell, aber eine willkommene Abwechslung zur Landstraße. Er zeigt aber auch, dass so eine Strecke entweder die pflegende Hand von Enthusiasten braucht oder einen stetigen Zustrom öffentlicher Mittel. Ich schätze, in spätestens 2 Jahren wird sich die Natur die Strecke wieder komplett zurückgeholt haben.

 

Der kleine Trailspaß fordert am Ende einen Tribut in Form einer Anstiegsrampe, den ich gern zahle. Dann stehe ich wieder an der Sudetenstraße. Viel wichtiger ist aber für mich, dass gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Forststraße im Wald verschwindet, die mich auf kürzestem Weg nach Olešnice bringen wird. 



Den Rest der Tour erledigt weitgehend die Schwerkraft. Erst schiebt sie mich auf schlammiger Piste nach Olešnice mit seinen weit verstreut liegenden Höfen, denen das kompakte kleinstädtische Zentrum mit dem Marktplatz folgt. Anders als auf der Hinfahrt halte ich mich jetzt einfach an das Flüsschen Olešenka. Weil Wasser ungern bergauf fließt, bleibe auch ich vor übermäßigen Anstiegen verschont. Damit entfällt auch die Wiederholung der kräftezehrenden Berg- und Talfahrt vom Beginn.

 

So komme ich schneller als gedacht zurück zu „unserem“ Bauernhof, wo meine liebe Frau schon mit einer Überraschung auf mich wartet. Sie war nach ihrer Stadtbesichtigung noch in den Pilzen und zeigt jetzt stolz ihre ansehnliche Ausbeute. Im Handumdrehen zaubert sie daraus ein leckeres Menü, das wir sofort mit Genuss verspeisen, während am Horizont über den Hügeln der Film „Sonnenuntergang“ läuft. Die Nebenrollen sind wieder einmal mit den Kühen besetzt, die als dunkle Umrisse vor dem roten Himmelsstreifen erscheinen. Leise knackt und züngelt vor unseren Füßen schon das Feuerchen … 

 

Was für ein herrlicher Tag!  



Danke Tina, für den leckeren Pilzschmaus!
Danke Tina, für den leckeren Pilzschmaus!

Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!

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