· 

Badesee statt Hexenkessel

Print Friendly and PDF

Nein, nicht schon wieder diese Gluthitze. Ein Sprung in einen kühlen Badesee könnte Abhilfe schaffen!

 

Aber wird der Bedřichov-Stausee im Isergebirge halten, was er verspricht? 


Nein, nicht schon wieder! Ich will heute nicht schon wieder in meinem eigenen Saft gekocht werden. Ich sage entschieden „Nein“ zum wiederholten Dasein als Brühwurst im böhmischen Hexenkessel! 

Leider ist es aber keine Option, hier im Český ráj herumzusitzen und auf angenehmeres Wetter zu warten. Was also tun? 

 

Ich könnte nach oben ausweichen! In den Bergen -sagen wir mal um die 1000 Meter Höhe- ist es bestimmt kühler als im Suppentopf der Ebene. Außerdem könnte ich recht früh am Morgen starten, um die Morgenkühle zu nutzen. Zugegeben, nicht ganz freiwillig hatte ich diesen Trick vorgestern bereits ausprobiert. (Jiří war Schuld!) Immerhin, für ein paar Stunden hat es wirklich funktioniert!

 

Schließlich wäre ein Sprung in ein kühles Gewässer nicht zu verachten …

Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf plane ich die Route: Das Ziel könnte der Bedřichov-Stausee (Friedrichswalder Talsperre) im Isergebirge sein. Eigentlich sind Stauseen recht tückisch. Im Allgemeinen rekeln sie sich verführerisch glitzernd in der Landschaft und dann stehen da Schilder, die das Baden strengstens verbieten. Bei diesem Talsperren-See hat mir meine elektronische Karte allerdings verraten, dass sich an seinen Ufern FKK-Anhänger zu Hause fühlen. Ich vermute mal, dass die Nudisten nicht nur an den See kommen, um mit entblößtem Körper herumzuliegen und aufs Wasser zu starren.

 

Und was die Höhe betrifft: Das Isergebirge stellt mehr oder weniger eine hügelige Hochfläche dar, die selten die 850 Höhenmeter unterschreitet. Damit bin ich zwar nicht ganz bei den erhofften 1000, aber die Richtung stimmt schon einmal! 

Fassen wir zusammen: Badesee: Passt! Höhe: Passt fast! Ob es jetzt auch mit dem frühen Aufstehen klappt?

 


Jetzt ist es 6:30 Uhr: 

 

Ich stehe auf dem Kirchplatz von Horní Polubný, wo ich heute in meiner mobilen Pension übernachtet hatte. Gefrühstückt habe ich schon und die Fahrradklamotten sind auch schon angezogen. Ich bin abfahrbereit, und würde sagen: „Frühstart: Passt! 

 

Weil der Weg wie immer das Ziel ist, nehme ich nicht die kürzeste und naheliegende Route direkt hinauf nach Jizerka, sondern rolle zunächst in Richtung Kořenov (Grünthal) herunter. Genau genommen lasse ich mich zwei Kilometer bis zum Martinské údolí treiben, ohne auch nur eine Kurbelumdrehung zu treten. Ich bedauere nur, dass ich bei den zwei engen Kurven etwas bremsen muss und sause trotzdem fast mit Überschallgeschwindigkeit am großen Bahnhofsgebäude von Kořenov vorbei. Die weitflächige Bahnanlage beheimatet heute ein Eisenbahnmuseum. Allein im Außengelände parken allerlei sehenswerte Schienenfahrzeuge, wobei mich der abgesägte Führerstand eines Triebwagens der Baureihe „Froschmaul“ (Žabotlam, Baureihe 451) am meisten beeindruckt. Verrückt, mit wieviel Aufwand in den 1960ern die „Nase“ eines profanen Nahverkehrsmittels modelliert wurde! Überhaupt spielt die Eisenbahn in dieser Gegend eine historisch und technisch interessante Rolle.


Charaktergesicht: Der Kenner sieht hier ein "Froschmaul".
Charaktergesicht: Der Kenner sieht hier ein "Froschmaul".

Der wiederaufgebaute Lokschuppen von Kořenov beinhaltet viele Eisenbahnschätze.
Der wiederaufgebaute Lokschuppen von Kořenov beinhaltet viele Eisenbahnschätze.

Schon in den 1890er Jahren begann man mit der Planung einer grenzüberschreitenden Bahnverbindung. Sie sollte den schlesischen Ballungsraum um Hirschberg (und damit indirekt die Steinkohleregion Waldenburg) mit dem aufstrebenden Industriezentrum um das böhmische Reichenberg verbinden. Insbesondere hoffte man wohl auf einen regen Import schlesischer Steinkohle nach Böhmen. Wie wichtig das Projekt war, kann man daran sehen, dass ein enormer Aufwand in Kauf genommen wurde. So mussten auf der Strecke 5 Tunnel mit insgesamt 1,7 Kilometern Länge sowie ein 25 Meter hohes Viadukt über die Iser gebaut werden! Außerdem schien wegen der großen Steigung der technisch aufwendige Zahnradantrieb der Lokomotiven unvermeidlich. 

Während der Bau einer solchen Eisenbahnlinie im dekadenten Deutschland der 2020er vermutlich ein Jahrhundertprojekt wäre, konnte man diese grenzüberschreitende Strecke über den Neuweltpass zwischen Iser- und Riesengebirge bereits 1902 eröffnen. 

 

Aber insgesamt erfüllten sich die hohen Erwartungen an diese Verbindung wohl nicht. Trotzdem investierte man auf deutscher Seite fleißig weiter. 

 

Anfang der 1920er Jahre wurde die Strecke bis zum Grenzbahnhof Grünthal vollständig elektrifiziert und bald verkehrten hier hochmoderne Triebwagen vom Typ ET89 „Rübezahl“. Zur gleichen Zeit schnauften auf böhmischer Seite weiterhin die 1902 in Österreich gekauften Dampflokomotiven der Baureihe 404.0 mit 15 Stundenkilometern über die Steilrampen.  (Die 15 km/h waren die zulässige Maximalgeschwindigkeit dieses Lokomotivtyps bei Zahnradantrieb)

 

Der zweite Weltkrieg führte zur Unterbrechung der Strecke an der Grenze. Auf beiden Seiten fristeten die halbtoten Eisenbahnfragmente ein Schattendasein. Erst 1991 wurden wieder probeweise grenzüberschreitende Züge gefahren. Doch es sollte bis 2015 dauern, bis ein regulärer durchgehender Zugbetrieb zustande kam. 

Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie wenig die sozialistischen Mächte Polen und Tschechoslowakei in der Lage waren, zum gegenseitigen Vorteil zu kooperieren. (Die DDR war da wohl auch nicht besser!) War nicht die Völkerverständigung fest in der DNA der Kommunisten verankert? Eine zwischenstaatliche Verhandlungsepisode gab es aber doch: Die Tschechen wünschten sich einen Bahnhof für ihren aufstrebenden Wintersportort Harrachov. Den passenden Bahnhof (Strickerhäuser/ Tkacze) gab es bereits, doch er lag auf polnischem Territorium. Deshalb vereinbarte man einen Gebietstausch, so dass ab 1963 der Bahnhof Harrachov ohne Grenzkontrollen angefahren werden konnte.

   

Der Spitzname der Eisenbahnstrecke heißt übrigens „Zackenbahn“ in Anspielung auf den Zahnradantrieb. Warum unter Eisenbahnfreunden hauptsächlich der heute polnische Teil der Strecke so bezeichnet wird, bleibt ein Geheimnis. Denn ausgerechnet hier war ein Zahnradantrieb nie installiert!

 

(Wer gerade den Widerspruch zwischen meiner „Überschallgeschwindigkeit“ und den vielen Details zur Eisenbahn erkennt, hat natürlich Recht! Schon gestern bin ich außen um den Zaun des Museums herumgeschlichen, habe die Informationstafeln gelesen und mir alles genau angesehen.)

Inzwischen bin ich längst im Martinské údolí angekommen. Weil es nun für mich wieder aufwärts geht, könnte ich ins Schnaufen kommen, wie eine alte österreichische Lokomotive. Doch zuvor mache ich noch einen winzigen Abstecher in die Enklave Hoffnungstal gleich am anderen Ufer der Iser. Gerade einmal 2 größere Gebäude stehen hier. Die Besonderheit ist, dass diese kleine Siedlung im letzten Jahrhundert insgesamt drei verschiedene Nationalitäten hatte. Zunächst war sie schlesisch, also deutsch. Nach Deutschlands Niederlage im zweiten Weltkrieg wurde sie polnisch und mit dem tschechisch-polnischen Gebietstausch von 1963 schließlich tschechisch. Vielleicht liegt es an diesem Durcheinander, dass die Bewohner ein Schild aufgestellt haben, das die „Autonome Republik Hoftik“ ausweist. Dem Vernehmen nach stellen sie dort gegen eine kleine Gebühr sogar eigene Pässe aus. Anders als bei uns hält man das hier wohl nicht für einen staatsgefährdenden Akt.

 

Jetzt muss ich aber wirklich den Berg hinauf! Also zurück über die Iserbrücke. Rechts von mir, unweit von meinem Weg hat nun der Fluss sein steiniges Bett. Zuerst begleitet er mich, aber später ist er nicht mehr zu sehen. Bei einem Kurzstopp bewundere ich die Eisenbahnbrücke über die Iser. Sie ist wirklich sehr hoch und wirkt mit ihren Stahlfachwerkbögen wunderbar altmodisch. Heute mag ich mich aber nicht entschließen, einem Tipp zu folgen, den ich irgendwo gelesen habe. Dazu müsste ich nämlich hinunter ins Flussbett kraxeln, um ein besonders schönes Foto von der Brücke zu schießen. 

 

Der weitere Weg nach Jizerka steigt kontinuierlich an. Seine Steigungsprozente mögen variieren, aber links und rechts ist immer nur Wald und es ist kein Ende abzusehen. Das ist eine echte Durststrecke! Als ich beinahe schon oben angekommen bin, sprudelt passend zur „Durststrecke“ eine Quelle am Wegesrand. Nach meiner Wassermangelerfahrung von vorgestern nutze ich jetzt die Gelegenheit, mich gründlich zu erfrischen und alle Flaschen bis zum Rand aufzufüllen.



Auf dem Großparkplatz vor der Pension „Hospoda na Jizerce“ in Jizerka übernachten einige Wohnmobile. Ihre Besatzungen werden gerade munter und beginnen so langsam ihren Morgenkaffee zu zelebrieren. Meinen hatte ich schon vor über einer Stunde! Ich bin jetzt so richtig in Schwung und überquere schnell den großen Schotterplatz um gleich gegenüber in einem Wirtschaftsweg zu verschwinden.

 

Schon bald erreiche ich eine Kreuzung und wie ein Überfall überkommt mich dieses einzigartige Isergebirgsgefühl! 

Nach dem obligatorischen Vorspiel eines langen und fordernden Anstiegs, stellt sich nun eine Stimmung der Ruhe und Weite ein. Gerade jetzt und an diesem Ort bin ich sicher im kilometerweiten Umkreis der einzige Mensch. Aber selbst zu Spitzenzeiten hält sich die Wanderer- und Radfahrerdichte in Grenzen. Alle Wege -egal ob Schotter, Asphalt oder Betonplatten- sind breit und bequem. Es gibt hier oben nichts Verwinkeltes oder Hinterhältiges! Wie es sich für ein Gebirge gehört, sind zwar immer noch ein paar Steigungen zu bewältigen, aber die Herausforderungen sind durchweg milde. Dafür versprechen die schier endlosen Straßen und Wege ein unbegrenztes Fahrradvergnügen!

 

Gesäumt wird die Szenerie von Nadelbäumen, die so makellos aussehen, als stammten sie aus einem Katalog für Weihnachtsbäume. Sie sind gut entwickelt, wirken aber durchweg ein wenig miniaturisiert. Das könnte am rauen Klima auf dieser Höhe liegen, oder an der Tatsache, dass sie alle erst nach der ökologischen Katastrophe der 1980er Jahre aufgewachsen sind.


Radeln ohne Ende. Das ist das Isergebirge!
Radeln ohne Ende. Das ist das Isergebirge!

Die Höhen des Isergebirges sind kein Action-Film. (Weiter unten gibt es die Action aber sehr wohl, nämlich auf den Singletrails!) Das heißt jedoch nicht, dass es keine Sehenswürdigkeiten gibt. Gerade liegt die erste vor mir. Es ist die gebrochene Talsperre.

 

Die Talsperre an der „Weißen Desse“ wurde genau wie ihre Zwillingsschwester an der „Schwarzen Desse“ zwischen 1912 und 1915 errichtet. Der Zweck war der Hochwasserschutz der Talgemeinden. Etwas mehr als ein Jahr nach dem Bau, als sich der Staudamm beim Frühjahrshochwasser bereits gut bewährt hatte, brach der Damm ohne Vorwarnung am 18. September 1916. 

 

Wie man einem historischen Zeitungsbericht entnehmen kann, töteten die Wassermassen viele Menschen in den Dörfern unterhalb der Talsperre und zerstörten einige Häuser. Der baugleiche Staudamm an der „Schwarzen Desse“ dagegen erfüllt bis heute seinen Zweck.

 

Seit dem Unglück hat man in der Landschaft kaum etwas verändert. Ein Kontrollturm hat das Desaster überlebt und wacht jetzt einsam über ein kleines Rinnsal. Überall im Gelände sehe ich die modellierten Erdwälle der Stauanlage und sogar einige gemauerte Wasserführungen sind zu entdecken. 

 

Im Jahr 1923 baute man sogar als makabere Attraktion eine Kneipe auf den Grund des ehemaligen Stausees, doch das Gasthaus wurde längst wieder abgerissen. Die Hütte eines neuen Ausschanks steht jetzt seitlich neben dem Gelände, ist aber um diese frühe Stunde noch nicht geöffnet. Im Übrigen ist das ehemalige Wasserbecken mittlerweile dicht bewaldet.

 

Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Deshalb halte ich mich nicht lange auf. Doch ich finde das Bauwerk und seine Geschichte immer wieder interessant und würde mir deshalb einen Besuch nie entgehen lassen. Als ich nach ein paar Minuten weiterziehe, muss ich den früheren Stausee regelrecht umrunden, da man nicht durch das „Wasserbecken“ radeln darf.


Geborstener Staudamm: Der Ort der Katastrophe ist heute eine Touristenattraktion.
Geborstener Staudamm: Der Ort der Katastrophe ist heute eine Touristenattraktion.

Kurz darauf komme ich auf eine große Waldlichtung, auf deren Mitte sich zwei Forststraßen kreuzen. Rund um die Kreuzung stehen in weitem Abstand drei unbewohnte alte Häuser. Gemeinsam mit einem vierten Haus, das heute nicht mehr existiert, bildeten sie die Siedlung Marienberger Hütten. Hier lebten einst Holzfäller, Vogelfänger, Köhler und Steinhauer ihr entbehrungsreiches Leben. Der Begriff „Hinterwäldler“ erfüllt sich mit Sinn, denn gerade im Winter dürften die Hütten von der Außenwelt komplett abgeschnitten gewesen sein. Unvorstellbar ist auch, welche Großfamilien hier unter einem Dach gelebt haben. Ich erfahre durch eine schlaue Erklärtafel, dass im Haus Nr. 39 zwei Familien mit jeweils 6 Kindern lebten und dazu noch drei Verwandte!

Ich biege auf der erwähnten Kreuzung nach rechts ab und darf an einem Betonplatten-Anstieg erst einmal schwitzen. Doch nach einiger Zeit komme ich beim Naturschutzgebiet „Na Čihadle“ heraus, wo auf meiner Karte ein Aussichtsturm verzeichnet ist. Doch wo ist dieser Turm nur? Statt eines Turms finde ich einen Zaun mit einer Pforte hinter der ein Holzsteg im Gebüsch verschwindet. Ich probiere den Steg und stehe schon nach 25 Metern an einer Art zweistöckigem Holzregal. Das muss der „Turm“ sein! Eine Treppe höher wird mir ein traumhaftes Fotomotiv von einer Sumpflandschaft geboten. In den Wasserlöchern spiegeln sich spektakulär die Wolken und weil es keinerlei Staub oder Dunst gibt, wirken die Farben ungewöhnlich klar!


Wo ist der Aussichtsturm?
Wo ist der Aussichtsturm?

Moore und kleine Seen. Warum läuft das Wasser nicht den Berg hinunter?
Moore und kleine Seen. Warum läuft das Wasser nicht den Berg hinunter?

Kaum sitze ich wieder auf dem Sattel, werde ich unruhig. Ist es wirklich in Ordnung, jetzt immer nur abwärts zu düsen? Womöglich stehe ich in ein paar Minuten auf dem Marktplatz von Liberec und gucke ehrfürchtig hinauf zu den hohen Bergen zurück? Der schnelle Blick auf die elektronischen Hilfsmittel gibt Entwarnung.

 

Mein nächstes Ziel, das Jagdschloss Nová Louka wird in 7 Kilometern erreicht und liegt 220 Meter tiefer. Und: Na Čihadle, die Sumpfwiese mit dem kleinen hölzernen Turm, ist nun einmal einer der höchsten Punkte, die man im Isergebirge mit dem Fahrrad erreichen kann. (Trotzdem ist die Idee mit dem Marktplatz von Liberec nicht abwegig. In nur 20 Kilometern stünde ich dort und hätte auf dem Weg mehr als 600 Höhenmeter verbraten. Sogar die Richtung stimmt zunächst überein!)

 

Das süße hölzerne Jagdschlösschen ließen sich die Grafen von Clam-Gallas auf den Grundmauern einer früheren Glashütte errichten. Heute beherbergt es eine Pension und eine sehr populäre Ausflugsgaststätte. Das erklärt den Menschen- und Autoauflauf drumherum. Ich muss aufpassen, nicht mit einem der dahinschaukelnden Kinderwagen zu kollidieren oder einen Liegestuhl zu erwischen, der im Weg herumsteht. Irgendwie schaffe ich es unfallfrei durch das Grundstück und entferne mich auf der herrschaftlichen Allee, die genau in Zentralperspektive zum Hauptgebäude angelegt ist.

Es folgt eine meiner berüchtigten Abkürzungen durch den Wald. Durch sie bekomme ich zwar noch einen netten Felsen zu sehen, muss aber schließlich über fiese Wurzeln und Steine schieben. Zum Glück sind es nur 100 Meter. Und schon sehe ich die altertümliche Staumauer der Bedřichov-Talsperre vor mir. Damit ist meinem Tagesziel erreicht! Ob ich in diesem See wohl baden kann?

 

Erst einmal stelle ich mein Fahrrad an die Seite und krame den Proviant heraus. Mit einem Rohlík in der Hand spaziere ich herum und sehe mir alles an. Auf diese Art erkundet sich die Umgebung doch gleich viel besser! 

Die Staumauer darf betreten werden und es schlendern sogar einige Personen auf ihr herum. Ich beschließe jedoch, dass es sich für mich nicht lohnt, auf die andere Seite zu gehen. Der weitere Weg dort drüben führt nach meinen Recherchen vom See weg, was ungünstig für mich wäre. Auf der Dammkrone selbst gäbe es auch nichts anders zu sehen, als den glitzernden See mit seiner waldreichen Umgebung. Die grünen Hügel im Hintergrund sehen sanft aus und erinnern nur entfernt an ein „richtiges“ Gebirge.

 

Am Ostufer des Stausees führt ein Holzbohlenweg entlang. Unübersehbar sind die Schilder „Radfahren verboten“ am Beginn des Stegs. Ich weiß aber auch schon, dass die Schiebestrecke höchsten einen Kilometer lang sein dürfte und damit kein ernsthaftes Hindernis wäre. Dann gibt es noch die große Informationstafel. Die gesammelten wasserwirtschaftlichen Daten finde ich eher langweilig. Viel wichtiger wäre doch, ob hier irgendwo „Baden verboten!“ steht. (Steht da nicht!)

 

Während ich noch an der Tafel herumstudiere, ist eine wandernde Schülergruppe eingetroffen. Das ist nicht ungewöhnlich, denn in der Tschechischen Republik ist es guter Brauch, dass Schulklassen kurz vor den Ferien ausgiebig auf Wanderschaft gehen und so die eigene Heimat erkunden. Ich beobachte die Truppe aus meinen Augenwinkeln. Sofort fällt mir auf, dass es hier keine „Kopftuchmädchen“ oder „Kleine arabische Paschas“ gibt. Und obwohl es sich um Jugendliche im „schwierigen“ Alter handelt, die immerhin nun schon stundenlang wandern mussten, ist ihr Umgang untereinander und auch zu den Lehrern ausgesprochen entspannt. Einige Mädchen haben sich auf die Kante der Staumauer gesetzt. Gleich darauf beginnen sie im Chor zu singen!

 

Ich könnte jetzt behaupten, dass die braven Kinder nun vielstimmig tschechische Volkslieder intoniert hätten …  Aber das würde mir sowieso niemand glauben. Nein, ich und die anderen Touristen um mich herum bekommen die Songs der aktuellen internationalen Hitparade vorgetragen. Dabei sind die Kids erstaunlich textsicher und selbst die Melodien sind durchweg erkennbar! Irgendwann rufen die beiden Lehrer zum Aufbruch. So wie ich es verstanden habe, muss noch zu einem Bahnhof gewandert und irgendein Zug erreicht werden.

 

Meine Frage nach der Bademöglichkeit beantwortet sich auch. Ein Radfahrer fährt zügig in Richtung der verbotenen Strecke und erscheint wenig später ohne Fahrrad und nackt am Seeufer, wo er sich in die Fluten stürzt. Alles klar! Dann habe ich die Hinweise ja richtig interpretiert.

 

Kurz darauf schiebe auch ich mein Rad über die Bohlen, zweige ab zum See hinunter und springe in das Wasser. Ist das herrlich! Denn natürlich ist es -wie schon befürchtet- auch heute wieder heiß geworden. Da kommt dieser feine Badesee gerade recht.



Und nun? Nun, hier am See befinde ich mich 15 Kilometer Luftlinie von meinem Auto entfernt, was in der Realität von Straßen und Wegen die doppelte Distanz ergeben dürfte. Diese Kilometer wollen jetzt in dem Brutkasten, den die Sonne fürsorglich betreibt, abgestrampelt werden. Die Etappen sind sowohl von der Navigation, der Topografie, als auch dem Fahrbahnbelag eher einfach. Zuerst fahre ich zum „Hřebínek“. Das ist ein kleiner Ausschank mitten im Nichts. Dort biege ich auf einen Straßenabschnitt, der zum berühmten Kammweg (Hřebenovka) gehört. Der Kammweg ist ein alter, inzwischen reaktivierter Wanderweg, der sich über mehrere hundert Kilometer durch die Sudeten zieht. 

 

Ich passiere das kleine Sumpfgebiet mit dem Aussichtsturm von heute Morgen und radele an einem weiteren Ausschank, der „Knajpa“ vorbei. Merke: Als Wanderer oder Radfahrer muss man sich im tschechischen Isergebirge nicht vor großem Durst fürchten! Die reibungslose Getränkeversorgung funktioniert aber nur in der Hauptsaison und ein paar Kronen in der Tasche dürfen auch nicht fehlen. 

 

Schließlich komme ich auf der Straße 290 heraus. Das ist die einzige Autostraße, die quer durch das Isergebirge führt. Diese längere Strecke bettelt geradezu darum, mit ordentlichem Tempo bewältigt zu werden. Was gibt es schöneres, als das Bike auf den einsamen Pisten in der Unendlichkeit aus Wald und Hügeln einfach fliegen zu lassen? Das hindert mich aber nicht, die Umgebung im Blick zu behalten. Und da springt mir doch wirklich noch eine Sehenswürdigkeit vor die Reifen! Ein kleines Schild preist einen Aussichtspunkt an. Und wenn diese Aussicht nur 100 Meter vom Weg entfernt sein soll und dazu noch „Schöne Marie“ (Vyhlídka Krásná Máří) heißt, gibt es für mich kein zurück! 

 

Die Aussicht ist wirklich atemberaubend! Wie auf dem Präsentierteller liegt das Isergebirge vor mir. Es ist ein Gebirge aus grünen Bögen und Rundungen. Die Landschaft trägt dabei einen dezenten Schmuck in Form kleiner felsiger Accessoires, die hier und da aus dem Grün hervortreten. Erst der Blick weit nach unten auf das Städtchen Hejnice (Haindorf) offenbart, dass das Isergebirge kein Spielzeuggebirge ist. Die eigentlich imposante barocke Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung dort unten wirkt aus dieser Perspektive beinahe unscheinbar. 

Hier treffe ich auch ein deutsches junges Paar. Sie sind auf ihren brandneuen Elektrofahrrädern von Liberec heraufgeradelt und völlig begeistert von der Landschaft.

 

Inzwischen bin ich ja schon viel weiter geradelt. Die Kneipe „Knajpa“ liegt hinter mir und die Dichte an Fahrrädern hat deutlich zugenommen. Ganze Familien mit Kind und Kegeln pedalieren fröhlich durch die sonnige Gegend. Das liegt einerseits daran, dass am frühen Nachmittag mittlerweile nun wirklich alle ausgeschlafen haben. Der andere Grund ist das Wittighaus (chata Smědava) mit seinem Großparkplatz in der Nähe.

Das Wittighaus ist eine Bergbaude mit Restaurantbetrieb und stellt traditionell ein Drehkreuz aller wichtigen Wanderwege des Isergebirges dar. Touristen, die mit dem Bus oder dem Auto hierherkommen, ersparen sich den mühsamen Aufstieg aus den Orten im Tal. Und die 3 bis 5 Kilometer (je nach Weg) zur „Knajpa“ könnten eben genau die richtige Distanz für einen gemütlichen Familienausflug sein! 

 

Im Jahr 2021 wurde das schöne alte Wittighaus leider abgerissen, was natürlich nichts an der strategisch günstigen Lage des Parkplatzes änderte. Dadurch wird der Weg zur „Knajpa“ sogar obligatorisch! Doch es gibt eine Hoffnung auf einen neuen Smědava-Biergarten: Das Grundstück des Wittighauses ist nämlich gerade eine Großbaustelle, in deren Zentrum ein neues Haus aus Beton entsteht. Im Moment wird hier mit Hochdruck gearbeitet, um noch zur Feriensaison zu eröffnen. Ich muss gestehen, dass ich noch nie gesehen habe, wie so viele Bauarbeiter, Lastwagen und Baumaschinen auf einem Fleck herumwirbeln!


Hinter all dem Grünzeug muss wohl irgendetwas Interessantes sein ...
Hinter all dem Grünzeug muss wohl irgendetwas Interessantes sein ...

Hier wellt sich das Isergebirge.
Hier wellt sich das Isergebirge.

Großbaustelle Wittighaus: Sogar "Bob der Baumeister" wäre neidisch und der Arbeitsschutzinspektor bekommt einen Herzinfarkt!
Großbaustelle Wittighaus: Sogar "Bob der Baumeister" wäre neidisch und der Arbeitsschutzinspektor bekommt einen Herzinfarkt!

Vom Wittighaus gibt es eine Direktverbindung nach Jizerka, der malerischen Streusiedlung im Osten des Isergebirges. Dass es dabei noch einmal hübsch bergauf geht, hatte ich gar nicht eingeplant! Und leider mühen sich die kleinwüchsigen Bäume am Wegesrand vergeblich: Sie schaffen es nicht, ihre Schatten bis auf die Straße reichen zu lassen.

 

Doch endlich öffnet sich der Wald zu einer länglichen Lichtung von vielleicht einem Quadratkilometer Größe. Wie aus der Spielzeugkiste verteilt stehen die Holzhäuser Jizerkas auf dieser großen Wiese. Zwei von ihnen im hinteren Teil, das Panský dům und das Hotel Pyramida sind sogar etwas größer. Sie haben niedliche Türmchen auf dem Dach und markieren so etwas wie die Ortsmitte. Danach dünnt sich die Siedlung wieder aus. Als Blickfang erhebt sich hinter dem Dörfchen der 1005 Meter hohe Bukovec, ein Berg wie aus dem Bilderbuch!

Nicht weit von hier entspringt die Kleine Iser und kurz vor Jizerka kreuzt der Bach meinen Weg. Natürlich nutze ich die Gelegenheit für eine letzte Rast. Bald sitze ich im feuchten Gras der Uferböschung, unterziehe meinen Füßen einer Eiswasserbehandlung und stelle verwundert fest, dass ich einen nassen Po bekomme. Wie heute schon gewohnt, hört die Sonne währenddessen nicht auf, mich zu braten. Das Schöne am Sommer ist: Es gibt keine schwierigen Fragen zur richtigen Bekleidung, denn die Minimalvariante aus Fahrradhose und Shirt ist sowieso genau richtig. Und sollte einmal etwas nass werden, weil zum Beispiel eine Uferwiese wider Erwarten feucht ist und man trotzdem beschließt, genau hier Platz zu nehmen …  Das ist kein Ärgernis, sondern eher ein Grund zum Schmunzeln!

 

Wenn ich in ein paar Minuten genug gerastet habe, werde ich nur noch an den Holzhäuschen vorbei durch Jizerka pedalieren. Ich werde noch einmal Kräfte sammeln um den Anstieg an den an den Fuß des Bukovec zu bewältigen. Dann rolle ich nur noch 5 Kilometer lang bergab zu meinem Auto, das im Schatten der großen Kirche von Horní Polubný auf mich wartet.

 

Es ist wie ein Übergang. Durch den mühsamen Anstieg heute Morgen wurde ich in eine andere Welt geführt. Es ist eine Welt, die nach Bergen, Weite und Abenteuern riecht! Und nun düse ich diese steilen 5 Kilometern hinunter und zurück in den Alltag. Schon jetzt wird mir klar, dass ich sicher nicht das letzte Mal im Isergebirge war. Bald kehre ich in diese „andere Welt“ zurück! Versprochen!  


Der letzte Berg für heute ...
Der letzte Berg für heute ...


Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0