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Expedition Ralsko

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... Die Steigung fordert mich immer noch. Manchmal ist der Untergrund so lehmig, dass das Rad durchdreht. Dann muss ich ein paar Meter schieben. Doch überwiegend lässt sich mein Monsta-Bike artgerecht bewegen. Eine gefühlte Ewigkeit und etliche Schweißtropfen später erreiche ich einen einfacheren Abschnitt. Ich sehe darin eine gute Gelegenheit für eine kurze Pause, zumal das Gröbste überstanden sein dürfte. Der Blick auf meine digitale Landkarte Mapy.cz belehrt mich eines Besseren! „Was, ich habe erst einen Bruchteil des Kummergebirges überwunden? Ich muss weiter!“ ...


Nur noch 14 Tage sind es bis zur Wintersonnenwende. Damit habe ich einen der kürzesten Tage des Jahres erwischt. Das ist nicht gerade die beste Voraussetzung für eine ausgedehnte Fahrradtour! Außerdem hat sich das Wetter soeben daran erinnert, dass die aktuelle Jahreszeit „Winter“ heißt: Temperaturen unter dem Gefrierpunkt sowie Schnee in den Bergen sind an der Tagesordnung.

 

Auf Grund dieser Störfaktoren läuft meine Suche nach dem heutigen Fahrtgebiet mit einem wachsamen Auge auf die Wettervorhersagen. Die Entscheidung erfolgt kurzfristig unter dem Kriterium, möglichen Regenschauern aus dem Weg zu radeln. Auch alle Arten von Frost und Schnee sind nicht willkommen. Die Wahl fällt auf die Region Ralsko (Roll) in der Tschechischen Republik. Das Gebiet ist eine flache Ebene mit einzelnen markanten Kegelbergen und sanften Mittelgebirgszügen an  den Rändern. Obwohl Ralsko gerade einmal 20 Kilometer südlich des Zittauer Gebirges beginnt, dürfte der Name vielen unbekannt vorkommen. Selbst eingefleischten „Tschechei-Reisenden“, die schon zu DDR-Zeiten jeden Winkel des Nachbarlands erkundeten, wird diese Ortsbezeichnung kaum in Erinnerung sein. 

 

Das liegt einerseits daran, dass es wesentlich bekanntere Reiseziele in unserem Nachbarland gibt. Andererseits war Ralsko bis 1991 ein riesiges sowjetisches Militärsperrgebiet, in dem Deutsche wie auch Tschechen wohl nicht einmal dienstlich unterwegs waren. 

 

Aber werde ich heute etwa nur einen öden Schießplatz zu sehen bekommen? Keineswegs! Erst einmal wären da 3 Burgen. (Es gibt noch eine vierte, doch die bekomme ich beim besten Willen nicht in meine Route hineingebastelt.) Dann noch ein ganzes Minigebirge, eine Kirche für Hunde und sogar ein Felsentor, weiter einen überdimensionalen Verkehrsgarten für Skater und Fahrradfahrer, einen Aussichtsturm und jede Menge Wald. Ich hoffe auch einigen spannenden Relikten der Militärs zu begegnen. Aber schließlich werden vor allem reichlich Fahrradkilometer zum Austoben nicht zu verachten sein.

 

Zur Einstimmung verbringe ich die Nacht an Bord meiner „Rollenden Räuberhöhle“, des wohl einzigen beheizten Planenanhängers hinter einem Auto. Das Gespann parkt am Rande jenes Ortes, der heute die allgemeine Sammelbezeichnung Ralsko trägt, historisch aber Kuřívody (Hühnerwasser) heißt. Die mit vereinzelten Büschen bewachsene Steppe neben der Straße sieht schon verdächtig nach einem Militärgelände aus. Mitten im Nirgendwo und gleich an der Fahrbahn bieten mir zwei nagelneue und überaus stattliche Schutzhütten Sichtschutz. Es ist die Sorte Unterstand, die man nur dann sinnfrei ins Niemandsland baut, wenn man unbedingt überzählige Fördergelder verbraten muss. 



Nachdem ich morgens die Eiskristalle von den Autoscheiben gepustet habe, mache ich mich motorisiert auf den Weg zu meinem Startpunkt. Den Tag mit einer kurzen Autofahrt zu beginnen, hat sich bei diesen frostigen Temperaturen als gute Idee erwiesen. So können Körper und Seele erst einmal durch die fossil betriebene Heizung Energie tanken, bevor sie selbst Leistung abgeben müssen. Auf einem großen Grasplatz rolle ich aus. Es ist der Parkplatz der Burg Zvířetice. Nur einen Steinwurf entfernt kann ich die Reste des Burgturms erkennen. Klar, dass meine Fahrrad-Rundfahrt mit einer Exkursion auf das Gelände der Burg beginnen wird.

 

Die erste Etappe ist gerade einmal 200 Meter lang und reicht vom Parkplatz bis auf das Areal der Burg. Zum Warmwerden auf dem Fahrradsattel ist die Strecke gewiss nicht lang genug und auch der Aufstieg auf den Turm ist keine sportliche Herausforderung.

 

Zvířetice ist eigentlich keine Burg, sondern ein Renaissance-Schloss. Auch diese Aussage ist nicht ganz korrekt, denn vom Schloss gibt es nur noch eine Ruine. Aber was für eine großartige Ruine ist das! (Youtube)

 

Aus einem grasbewachsenen Areal, groß wie zwei Fußballfelder, ragen mehr als zehn Mauerfragmente aus dem Boden. Sie zeichnen genau den Grundriss des Schlosses nach und sind groß genug, um eine Vorstellung von der Gestalt des Gebäudes zu geben. Dazu gibt es einen intakten Torbogen mit angedeuteter Zugbrücke als Eingang, mehrere begehbare Kellergewölbe und jede Menge wildromantischer Perspektiven. Das Highlight aber ist der Turm, von dem nur noch eine Hälfte existiert. Die Teilung erfolgte vertikal(!), so dass man heute einen Burgturm in seinem Querschnitt bewundern kann. Wie schon erwähnt, lässt sich dieser halbe Turm ganz offiziell besteigen, wobei die Aussichtsplattform folgerichtig auch nur einen halbkreisförmigen Grundriss hat. (Leider verwehrt mir ein eisernes Gitter mit solidem Schloss die letzten Meter bis zur Turmspitze.)


Schloss Zvířetice in Theorie ...                                                    (3D Modell: Mgr. Vojtěch Dvořák Wikipedia CC)
Schloss Zvířetice in Theorie ... (3D Modell: Mgr. Vojtěch Dvořák Wikipedia CC)
... und Praxis. Der freundliche Makler würde sagen: "Eine Liebhaber-Immobilie!" (Foto: JardaTravnicek   Wikipedia CC)
... und Praxis. Der freundliche Makler würde sagen: "Eine Liebhaber-Immobilie!" (Foto: JardaTravnicek Wikipedia CC)

In der Epoche der Romantik liebte man bekanntlich Ruinen so sehr, dass man sie sogar künstlich neu baute. Die malerische Ruine von Zvířetice ist dagegen echt. Sie beflügelt die Fantasie, weckt Assoziationen an große Traditionen und an den ewigen Kreislauf vom Werden und Vergehen. Anscheinend fühlen sich Hochzeitspaare besonders zu dieser Symbolik hingezogen. So ist Zvířetice in der heutigen Zeit eine Hochzeitsburg. Ein piekfein restauriertes, historisches Wirtschaftsgebäude fungiert dabei als Bankettsaal. Die Meister der Hochzeitsfotografie toben sich dann gemeinsam mit den Brautpaaren in der Ruinenlandschaft aus.

 

Heute an diesem zugigen Dezembermorgen findet keine Hochzeit statt. Auch die wildromantischen Zeltlager, die ein tschechischer Jugendverein einstmals auf dem Gelände veranstaltet hatte, sind längst Geschichte. Es gibt weder Pfadfinder noch Brautpaare hier. Nur ein paar dahindämmernde Autos künden davon, dass das Nebengebäude nicht verwaist ist. Ich wandere eine Runde durch die reizvolle Ruinenlandschaft, erklettere dann den Turm soweit es geht und radle auch schon wieder los. 



Winzige Schneekristalle peitschen mir ins Gesicht. Die Windböen, die dafür verantwortlich sind, treiben sich am Waldrand herum und schlagen wie aus dem Nichts zu. Das soll also das beste Fahrradwetter sein, dass ich im weiten Umkreis auf der Wetterkarte finden konnte? Ja, ich musste halt nehmen, was Petrus zu bieten hatte. Mein Weg führt zunächst sehr schlammig an der Kante abgeernteter Felder entlang, dann ruhig über Landstraßen und schließlich durch winterschlafende Dörfer. Meine Richtung wird durch ein markantes Ziel bestimmt: Es ist die Burg Bezděz (Burg Bösig). Völlig überraschend stürzt sich die Strecke aus der Ebene in ein erstaunlich tiefes Tal. Es lässt sich vermuten, dass ich die rasante Schussfahrt später mit einem schweißtreibenden Anstieg bezahlen muss. Hier unten beim Flüsschen Bělá befindet sich das gleichnamige Städtchen (Bělá pod Bezdězem, deutsch Weisswasser). Der Ort war immer schon mit der imposanten Burg in der Nähe verbunden. Zunächst befand er sich direkt am Fuß des Bergs, wurde aber schon 1304 als Nový Bezděz (Neu Bösig) hier in dieses Tal verlegt. Im Zentrum gibt es wohl auch einige historische Häuser, doch ich sehe nur Industriegebäude, Wohnhäuser und das mäßig geschäftige Treiben einer eher unbedeutenden Kleinstadt.

 

Nach dem Wechsel der Flussseite schleiche ich über Nebenstraßen an der Rückseite des Freibads vorbei. Diese Badeanstalt hat eine interessante Besonderheit. Am Nordufer des Beckens, also mit Blick zur Sonne, stehen etwa zwei Dutzend kleine Häuschen. Die Hütten sind buchstäblich Wand an Wand gebaut und jedes sieht so romantisch aus, wie eine hundertjährige Gartenlaube. Gepflegte, aber bescheidene Exemplare stehen dort in trauter Einigkeit mit kleinen Palästen. Es scheint, dass es in Bělá pod Bezdězem ein Privileg ist, sein eigenes Badehaus im Freibad zu besitzen.

 

Westwärts verlasse ich die Stadt. Gerade als ich mich mental auf eine kräftige Steigung vorbereite, weist mir ein freundliches Schild den Ausweg einer Abzweigung. Vorerst kann ich dadurch auf meiner Ebene bleiben. Doch diese Freude währt nur kurz, denn dann muss ich doch hinaufklettern. Dafür lockt aber auch schon mein nächstes Zwischenziel.

 

Das Areal nennt sich Vrchbělá (Bělá-Hügel) und beinhaltet neben Ausflugsgastronomie und Spielplätzen eine Art XXL-Verkehrsgarten. Insgesamt 7,5 Kilometer feiner Asphaltpiste, etwas schmaler als eine normale Straße, schlängeln sich durchs Gelände. Eine Anzahl von Kreuzungen und Querverbindungen sorgen für unendliche Variationsmöglichkeiten. Angelegt wurde die Bahn für Fahrräder und wohl auch für Skater. Dabei scheinen nicht unbedingt sportliche Wettbewerbe das Ziel dieser Einrichtung zu sein. Vielmehr geht es um ein Freizeitangebot für die ganze Familie, zu dem auch ein Klettergarten, ein Minizoo und ein Aussichtsturm gehören. Ich drehe eine spaßige Runde mit vielen Kurven, kleinen Steigungen und schnellen Abfahrten auf der Fahrradbahn. Das erinnert mich an meine Kindertage, an denen ich mit dem Fahrrad im Wald immer die gleiche Runde drehte und dabei Linienbus spielte. Hier könnte man ein ganzes Kinderfahrrad-Fernbusnetz betreiben. Aber wer kauft dann die Fahrscheine? Im Ernst: Wer finanziert eigentlich ein derart aufwendiges und offensichtlich unrentables Projekt irgendwo in der tschechischen Weite? Einen Hinweis geben alte Luftbilder, die graue Lagerhallen und Betonplattenwege zeigen. Offenbar handelt es sich hier um eine Konversion alter Militäranlagen. Da wird wohl das Staatssäckel mindestens zeitweise sehr weit offen gestanden haben.



Jetzt bin ich schon zum Aussichtsturm gekurvt. Aussichtstürme sind für mich ein Muss! In meiner persönlichen Prioritätenliste kommen sie gleich nach Burgen und deren Ruinen.

 

Und die passende Burg wird mir sogleich geboten: Von hier oben fasziniert nicht nur der Überblick auf die wilden Kurven der Fahrradstraße, sondern vor allem die Postkartenansicht auf die Burg Bezděz. Sie erscheint nun greifbar nahe. Bezděz ist eine recht bedeutende Burg in der Tschechischen Republik, was paradoxerweise auch daran liegt, dass sie schon im 15. Jahrhundert ihre strategische Geltung verlor. Vor allem ist es eine sehr alte und für ihr Alter bestens erhaltene Burg.

 

Gebaut wurde Bezděz schon ab 1264 auf Anordnung von König Přemysl Ottokar des II. Bis 1420 blieb die Burg in direktem Besitz der Böhmischen Krone. Nachnutzer waren der bekannte Feldherr von Wallenstein und der benediktinische Mönchsorden von Montserrat, der hier einen Wallfahrtsort unterhielt. Die schwere Zugänglichkeit der Burg erwies sich in mehrfacher Hinsicht als Glücksfall. Sie machte Bezděz als militärisches Ziel unattraktiv zumal die Burg vom Böhmischen König ja schon 1420 aufgegeben wurde. Gleichzeitig waren spätere Umbauten durch die Lage erschwert. Weil die Burg über Jahrhunderte ständig bewohnt und benutzt wurde, blieben aber auch der Abbruch und wilde Plünderungen von Baumaterial aus. Deshalb überdauerte Bezděz in Struktur und Aussehen inzwischen mehr als 700 Jahre. Das ist es, was die Burg Bösig (deutsche Bezeichnung für Bezděz) heute so interessant macht.

 

Neben dem Vulkanberg der berühmten Burg sehe ich vor allem weites, teils bewaldetes Flachland. In der Ferne schimmern weitere Kegelberge durch den Dunst. Sie sehen ganz ähnlich aus, wie der Burgberg hier. Auf einem von ihnen müsste die Burg Ralsko stehen, die für mich heute unerreichbar bleibt.

 

Nicht zu sehen, nicht einmal zu erahnen und doch nur 3 Kilometer nordöstlich befindet sich ein besonderes gruseliges Objekt. In einem Bunker mit der Bezeichnung „Javor 52“ lagerten unsere sowjetischen Freunde Atombomben für den Gebrauch durch die Tschechische Bruderarmee. („Javor“ heißt übrigens militärisch nichtssagend „Ahornbaum“.) Die Waffen waren dazu bestimmt, aus Mitteleuropa eine unbewohnbare Schutthalde zu machen. Das Ganze nur, weil ein paar starrsinnige, alte Herren eine bestimmte Vorstellung davon hatten, wie sich nach ihrer Meinung die Welt entwickeln sollte. (Gleichzeitig vertraten auf der anderen Seite andere starrsinnige Menschen eine konträre Auffassung.) Das Armeeobjekt, das mit seinem Personal als hermetischer Staat im Staate innerhalb des riesengroßen Militärareals funktionierte, wirkt völlig unscheinbar. Eine x-beliebige Flak-Stellung ist vom Boden wie aus der Luft bedeutend einfacher als militärische Anlage zu identifizieren als dieses „Javor“. Insgesamt gab es drei Militäranlagen von diesem Typ auf dem Territorium der ČSSR. Eine davon, der Bunker (Javor 51) bei Mišov im Brdy-Gebirge ist heute ein Museum. Auf meiner heutigen Tour wird mir später auf einem Hinweisschild das Wort „Javor 52“ begegnen. Das bleibt der einzige Hinweis auf die einst geheime Anlage. Der Besuch lohnt übrigens nicht. Die geheimen Bunker sind zugeschüttet und aus den Wirtschaftsgebäuden wurde Tschechiens größtes Asylbewerberheim.

 

Bei meinem Ausblick vom Turm, beim Blick über Freiflächen, Wälder und auf die Burg Bezděz habe ich gerade eine schmerzliche Entscheidung getroffen. Ich werde nicht nach Bezděz hinaufradeln. (wegen der vielen Treppenstufen eher schieben oder wandern) Die Aktion hätte nur das Ziel, dass ich vor verschlossenen Burgtoren stehen würde. Denn Bezděz ist - wie die meisten museal erschlossenen Burgen Tschechiens - im Winterhalbjahr geschlossen. Damit wird die zweite Burg auf meiner Liste zu einer theoretischen Burg. Diese Entscheidung ist durchaus bitter, doch ich habe mir für heute noch einen langen Weg vorgenommen. Die Zeit, die ich für meinen sportlichen Ehrgeiz benötigte, das verschlossene Burgtor zu besuchen, würde mir heute Nachmittag fehlen. An einem Dezembertag sind die Stunden mit Tageslicht leider gezählt und mein Vertrauen an die Ausdauer meines Fahrradscheinwerfers hält sich in Grenzen. 


Und immer grüßt die Burg Bezděz.
Und immer grüßt die Burg Bezděz.

Mit meinem neuen Plan im Kopf springe ich die Stufen des Turms hinunter. Ich sattle mein Monsta-Bike und verlasse den Freizeitpark auf seiner Rückseite. Dort finde ich einen Pfad, der mir ein breites Grinsen ins Gesicht treibt. Schwungvoll schaukelt sich der Singletrail durch den Wald. Immer wieder heißt es eine Art Böschung hinaufzufahren, um gleich anschließend das Gefälle auszukosten. Das dabei auch ein paar Pfützen im Spiel sind, stört mich überhaupt nicht! Ich glaube übrigens nicht, dass die Bodenwellen einen natürlichen Ursprung haben. Ich tippe auf Fahrschulstrecke für Armeelastwagen. Ein massiver Zaun aus Betonelementen, der kurz darauf erscheint, bestärkt mich in diesen Überlegungen. Es folgen kilometerlange und schnurgerade Strecken durch einen Wald. Der Asphalt ist schäbig, Steigungen gibt es hier keine und Sehenswürdigkeiten auch nicht. Immerhin kommen einige Kilometer zusammen. 

 

Ein paar Kreuzungen und Landstraßenabschnitte später stehe ich an der Südflanke der Komáří vrchy, des Kummergebirges. (Hier eine Landkarte von 1929!) Sich darunter einen Gebirgszug wie das Erzgebirge oder das Isergebirge vorzustellen, ist sicher falsch. Mit gerade einmal 7,5 Kilometern Länge und 3 Kilometern Breite ist das Kummergebirge nur ein Mini-Bergland. Auch die maximale Höhe von nicht einmal 500 Metern ist nicht gerade rekordverdächtig. Dafür ist es wild zerklüftet. Es wird von tiefen Tälern durchzogen und galt über viele Jahrhunderte als ein unbewohnbarer Ort. 

Ich habe mir vorgenommen, das Kummergebirge von Süd nach Nord zu überwinden. Die Überfahrt wird zwar nicht gerade ein Alpencross, ist aber auch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das erste Hindernis in Form einer von Forstmaschinen tief aufgewühlten Fahrspur kann ich auf einem Nebenweg ein paar Meter weiter umfahren. Die folgende Steigung lässt sich nicht vermeiden. Steil und gewunden zieht mich der Weg immer tiefer in den Wald hinein. Ich befinde mich dabei in einer Talkerbe, die mir kein seitliches Entrinnen zulässt. Rechts und links geht es weit hinauf. Als ich auf dem Weg ein kleines Rudel Dammwild aufscheuche, bin ich erstaunt, wie leicht die Tiere die viele Meter hohen Böschungswände hinauflaufen. 

 

Am Gegenhang tauchen erste Sandsteingebilde auf. Sie haben höhlenartige Auswaschungen, in denen ganz bestimmt Zwerge, Gnomen oder wenigstens ganze Siebenschläferfamilien wohnen. Die Steigung fordert mich immer noch. Manchmal ist der Untergrund so lehmig, dass das Rad durchdreht. Dann muss ich ein paar Meter schieben. Doch überwiegend lässt sich mein Monsta-Bike artgerecht bewegen. Eine gefühlte Ewigkeit und etliche Schweißtropfen später erreiche ich einen einfacheren Abschnitt. Ich sehe darin eine gute Gelegenheit für eine kurze Pause, zumal das Gröbste überstanden sein dürfte. Der Blick auf meine digitale Landkarte Mapy.cz belehrt mich eines Besseren! „Was, ich habe erst einen Bruchteil des Kummergebirges überwunden? Ich muss weiter!“ 

 

Was bleibt mir auch anderes übrig, als mich auf eine weitere Abfolge von unwegsamen Pfaden, Steigungen, Lehm und Geröll einzustellen. Zur Marscherleichterung wechselt der Untergrund auf Asphalt. Die gleich darauf anstehende heftige Steigung fällt dadurch kaum noch ins Gewicht. Sie zieht mich bis zum Gipfel U Náspu (405 Meter) hinauf, einer der lokalen Größen hier. Der Wald hat sich inzwischen verändert. Aus einem von Kiefern dominierten Mischwald am Rande des Gebirges ist hier ein ansehnlicher Buchenwald geworden. Ein unscheinbarer Pfad führt mich von meiner Anhöhe wieder hinunter und weiter in ein Gewirr aus Höhen und Tälern. Vielleicht haben hier inmitten der Kummergebirges sogar einmal Bären gehaust. Auf diese Idee komme ich aber nur, weil ich auf der Karte nicht genau lese und in „Měděný důl“ (Kupferloch) das Wort „medvěd“ (Bär) zu erkennen glaube. 



Zwischendurch liegen mächtige Buchenstämme als Hindernisse im Weg. Einige von ihnen können umfahren werden, worauf ältere Fährten von Mountainbikes hindeuten. Über andere möchte Monsta gehoben werden, während ich irgendwie rittlings auf dem jeweiligen Stamm zu sitzen komme. 

 

Nach einem längeren Abschnitt mit wenig Steigung aber viel Schlamm wird überraschend alles ganz einfach. Ich sause auf leicht sandigem Untergrund durch den Wald meinem neuen Ziel entgegen. Die Stümpfe von Telegrafenmasten entlang des Weges künden davon, dass hier einmal Fernmeldenetz betrieben wurde. Sie weisen mir den Weg. Etwas tiefer im Wald müssten dazu noch die Fragmente eines vermutlich militärischen Sendemasts stehen, doch der ist nicht mein Ziel. Ich dagegen suche die Hundskirche, die über einen Pfad in nur wenigen hundert Metern vom Hauptweg leicht zu erreichen ist. 

 

Die Hundskirche ist ein bemerkenswerter Felsen. Er ist nicht riesig, aber an seinem Fuß großzügig ausgehöhlt, ja regelrecht durchlöchert. Daraus ergeben sich einige niedrige Kammern, die den Spuren nach zu urteilen, gelegentlich für Übernachtungen genutzt werden. Sogar eine Feuerstelle ist angelegt. Eine verkohlte Blechtafel, eigentlich ein geprägtes Hinweisschild wurde offenbar dazu verwendet, dem Feuer Luft zuzufächeln. Das einzige noch lesbare Wort auf der Tafel ist „zakázán“. Zakázán heißt übersetzt „verboten“. Es ist ein Wort, das Radler, aber auch Tschechiens Wanderer schrecklich oft lesen müssen. Doch scheint es unter einheimischen Naturfreunden guter Brauch zu sein, diese blechernen Belehrungen großzügig zu ignorieren. Das finde ich sehr sympathisch!

 

Auch nachdem ich die Hundskirche gebührlich inspiziert habe, musste die Frage unbeantwortet bleiben, warum dieser Felsen eine Kirche sein soll und was der Hund damit zu tun hat. Ich klettere ein paar Meter herunter zu meinem Fahrrad und mache mich auf schmalem Weg zu einer nächsten Sehenswürdigkeit. Es ist ein kleines Felsentor. So eine Laune der Natur ist im Sandstein nicht ungewöhnlich und verglichen mit dem einzigartigen großen Prebischtor im Elbsandsteingebirge auch nicht besonders beeindruckend. Aber es ist ein guter Ort, um die Überwindung des Kummergebirges mit einer kleinen Rast zu feiern.

 

Die Zutaten, ein Stullenpaket und einen Apfel, spendiert mein Rucksack. Auch eiskaltes Mineralwasser aus dem Flaschenhalter gibt es noch genug. Es ist ein schöner Ort hier. Die Ruhe erscheint überwältigend, Hügel und kleine Sandsteinfelsen lockern die Landschaft auf und eben hat sogar die Sonne zwischen den Wolken hervorgeblinzelt. Leider verdüstert sich der Himmel gen Westen. Die Wolken und die Tatsache, dass ich wohl nur noch zwei Stunden Tageslicht haben werde, machen mich unruhig. Andererseits gibt es aber wirklich keinen Grund zur Sorge. Ich habe gute und warme Kleidung, ein zuverlässiges Bike und immer noch etwas Proviant im Rucksack. Kreditkarte und Notkronen in der Geldbörse werden mir in dieser gottverlassenen Gegend wohl nicht helfen, aber dafür habe ich sogar eine funktionierende Fahrradbeleuchtung. Was soll mir schon passieren?



Gut gestärkt balanciere ich mein Rad auf einem beinahe technischen Trail zurück zum Hauptweg. Unspektakulär und auf festem Sandboden gelange ich durch den Wald zur Verbindungsstraße in das Dorf Hradčany (Kummer). In seinen besten Zeiten brachte es Hradčany auf etwa 400 Einwohner. In den 1930er Jahren wurde der Dorfteich zum See erklärt und zu einer Mega-Badeanstalt gemacht. In dieser Zeit gab es vor Ort sogar 6 Hotels und Pensionen! Die neuere Geschichte ist - wie sollte es anders sein - Militärgeschichte. Der Ort selbst blieb als Wohnort für Offiziere erhalten. Unweit baute man einen riesigen Flugplatz, der in seiner letzten Ausbaustufe eine Landebahn von 2,7 Kilometern Länge und 90 Metern Breite erhielt. Sie sollte als Ausweich-Landezone für die Raumfähre Buran dienen. Letztlich brach die Sowjetunion schneller in sich zusammen, als dieses Raumschiff je in den Orbit gelangen konnte.

 

Auf mich wirkt Kummer unspektakulär. Ein paar Häuser, parkende Autos, hier und da ein Hund. Der Ort ist schnell durchquert und auch vom Flugplatz bekomme ich nichts zu sehen. Seine überdimensionale Piste müsste kaum 400 Meter parallel zu meiner Radroute verlaufen, die durch einen feuchten Wald führt. Nur die Reste einiger grau getünchter Wachhäuschen - eher Schutthaufen als Ruinen - könnten auf irgendetwas geheimnisvolles hindeuten. 

 

Aus dem schmalen Waldweg wird eine breite Fahrbahn. Genau genommen handelt es sich um eine Schlammpiste. Von einer Reihe Telegrafenmasten gesäumt geht es immer geradeaus durch den Wald. Ein Ende der Strecke ist nicht absehbar und links und rechts gibt es nichts Aufregendes zu entdecken. Und natürlich regnet es mittlerweile. Der Regen wirkt leider nicht wie ein kurzer Schauer. Schnell spiele ich meine Möglichkeiten durch: Ich könnte meine Rundtour verkürzen. Die Abkürzung verliefe über eine vielbefahrene Landstraße. Somit müsste ich einige Kilometer in der Gischt überholender Lastwagen abspulen, immer in der Hoffnung wenigstens nicht übersehen zu werden. Nein, das ist keine Option! Ich bleibe auf meiner geplanten Route und hoffe auf ein baldiges Ende des Mistwetters.

 

Nachdem ich die Bundesstraße 268 gekreuzt habe, wird nicht nur der Untergrund besser, sondern tatsächlich auch das Wetter. Nach kurzer Distanz erreiche ich die Enklave Skelná Huť, die einmal eine Glashütte war, aber seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Forsthaus dient. Auch die Armee musste die großen Waldgebiete auf ihrem Schießplatz irgendwie bewirtschaften. So zog hier mit der Einrichtung des Übungsplatzes die Forstverwaltung der Armee ein. Und die VLS (Vojenské lesy a statky, deutsch: Militärwälder und Farmen) sitzt heute noch in den Gebäuden, denn das gesamte, nun ehemalige Sperrgebiet wird der Einfachheit halber immer noch von der militärischen Forstverwaltung betreut. Übrigens bietet die VLS hier auch ein Ferienhaus an, das neben dem üblichen Komfort auch den Zugang zu einem Schießstand verspricht. Irgendwie bleibt man sich eben treu!



Gleich hinter dem Forsthaus tauche ich in einen tiefen Wald ein. Die tadellose Asphaltstraße hier ist jüngeren Datums und hat somit nie Panzerketten gesehen. Sie beschreibt viele Kurven, lässt mich einige Meter hinaufstrampeln und wendet meinen Kurs unmerklich immer weiter nach Norden. Für einen kurzen Moment läuft die Sonne zu ihrer vollen Stärke auf und lässt den nassen Wald glitzern. Meine Befürchtungen, mich hier im Netz der Wege und Schneisen verfahren zu können, erweist sich als gegenstandslos. Es gibt hier nur genau diese eine Asphaltbahn. Für Offroad-Experimente habe ich heute ohnehin nicht die Zeit und auf diesem vielleicht munitionsverseuchtem Gelände auch nicht den Mut.

 

Ein Wort zu Munitionsfunden und Blindgängern. Nach Angaben der Tschechischen Verwaltung wurde das gesamte Areal gründlich gereinigt und ist frei zugänglich. Auch ich habe heute keine einzige Warntafel oder Sperrung gesehen, die auf ein gefährliches Gebiet hindeuten könnte. Und doch kommen mir Zweifel über die Effektivität der Dekontaminierung. Vor kurzem habe ich einen Artikel gelesen, in dem Václav Bilický, der verantwortliche Sprengmeister, das Verfahren der Säuberung erläuterte: „In den letzten 20 Jahren haben sie (die Pilzsammler) beim Pilzesammeln die gefährlichste Munition aufgestöbert und den Behörden gemeldet. Auf diese Weise haben sie den Wald - da wo Pilze und Blaubeeren wachsen - von der Munition gereinigt.“ Das lässt ja hoffen!

 

Der Wald wird lichter und zieht sich langsam zurück. Bei Hvězdov (Höflitz) hätte ich eine letzte Chance meine Route abzukürzen. Meine Vernunft müsste eindeutig für die um 12 Kilometer kürzere Variante plädieren. Doch dann entginge mir der hügelige Nordosten des Areals mit der Burgruine Stohánek. Vielleicht spielt aber auch schon ein gewisser Altersstarrsinn eine Rolle, denn ich entscheide mich prompt für die große Runde.

 

Auf ihr werden mir zunächst ein paar Fischteiche geboten. Vor allem aber sind es Gebäuderuinen in verschiedenen Verfallszuständen. Die Grenzen zwischen koordiniertem Abriss, Vandalismus und fortschreitendem Verfall sind nicht erkennbar. Insgeheim hatte ich gehofft, irgendeine spektakuläre militärische Anlage vorzufinden. Doch alles was ich sehe, sind profane Plattenbauten (und was von ihnen übrig ist), ehemalige Lagerhallen primitivster Bauart und die Reste von Baracken. 

 

Dafür entschädigt die Landschaft, denn nach nur einem Kilometer wird dafür die Umgebung immer schöner. Je weiter ich mich aus dem Siedlungsgebiet entferne, umso hügeliger wird die Strecke. Bald bin ich auch schon wieder von Wald umgeben und die sanfte aber stetige Steigung beginnt, Kraft zu kosten. Nach einer Distanz, die mir endlos erscheint, liegt der auffallende Hügel der Burg Stohánek links neben mir. Im oberen Bereich ist Felsgestein zu sehen und auf dem Gipfel steht ein ausladender, jetzt im Winter natürlich blätterloser Laubbaum.

 

Liebend gern hätte ich nun darüber geschrieben, wie ich zur Felsenburg hinaufgestiegen bin. Dazu hätte ich die Steintreppe genutzt, die man um 1900 für die Touristen in den Sandstein gehauen hat. Von einem kleinen, in den Fels geschlagenen Raum wäre die Rede gewesen und von einer rechteckigen Fläche, die einmal die Grundfläche des bescheidenen Haupthauses gewesen sein muss. Vielleicht hätte ich auch den Einsiedler Jetoným erwähnt, der hier zuletzt gehaust haben soll. Auf jeden Fall wäre die Sprache auf die hervorragende Aussicht gekommen, die man von hier oben auf den gegenüberliegenden Dlouhý kámen hat. Das ist eine langgezogene Felswand, die entfernte Ähnlichkeit mit einem Schiff hat und deshalb auch Titanic genannt wird.  

 

Die Wahrheit ist: Ich fahre mittlerweile um die Wette mit dem hereinbrechenden Abend. Einen Zeitverzug kann und will ich mir nun nicht mehr leisten. Deshalb muss der Blick von unten genügen. Und um es gleich vorwegzunehmen:  Ich werde dieses unfaire Rennen verlieren! Die Dunkelheit gewinnt. Sie kommt gemeinsam mit der Kälte und wird mich auf den letzten Kilometern unerbittlich antreiben.


"Hätte, hätte, Fahrradkette ..."   Auf diesen Stufen wäre ich zur Burg Stohánek hinaufgestiefelt. (Foto: Björn Ehrlich, Wikipedia CC)
"Hätte, hätte, Fahrradkette ..." Auf diesen Stufen wäre ich zur Burg Stohánek hinaufgestiefelt. (Foto: Björn Ehrlich, Wikipedia CC)

Gleich an der Kreuzung unter der Burg finde ich eine aufwendige Gedenkstätte. Sie erinnert an den Tod von Antonín Sochor im Jahr 1950. Der hohe Offizier und Ausbilder israelischer(!) Spezialeinheiten starb durch einen Vorfall, der nach damaliger Lesart ein „Unfall“ war. Heute gibt es erhebliche Zweifel, aber auch keine Beweismittel mehr. Jedenfalls wurde Sochors PKW von einem Militärlastwagen regelrecht gerammt und zwar genau seitlich an der Tür, hinter der der Oberstleutnant saß. Bereits zuvor waren auf Sochor Anschläge verübt worden und es wird über Diskrepanzen mit einem Brigadegeneral Bedřich Reicin berichtet. Der war damals stellvertretender Verteidigungsminister und dem Vernehmen nach ein skrupelloser und hinterhältiger Mensch. Reicin wiederum wurde kurz darauf eine staatsfeindliche Verschwörung angelastet, für die er zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.  Das alles ist eine verwirrende Geschichte, die etwas mit Machtkämpfen, politischen Säuberungen und vermutlich auch mit einem ideologischen Antisemitismus zu tun hat. Sie zeigt eindrücklich, wie es unter den Kommunisten, also den Anhängern der gerechten, fortschrittlichen und menschenfreundlichen Gesellschaftsordnung in den 1950er Jahren zuging.

 

Auch ohne Kommunismus bekomme ich nun, nachdem ich endlich den Weg zurück zum Ausgangspunkt eingeschlagen habe, eine Ladung Schneeregen ins Gesicht. Doch zum Glück verzieht sich der Schauer schnell. Die Landschaft, die sich jetzt in einen wilden Wechsel von Waldgebieten und hügeligem Freiland präsentiert, wirkt beinahe lieblich. Sehr weit aus der Ferne grüßt mich die Burg Bezděz von ihrem Spitzberg. Sie wird von einem rötlichen Sonnenuntergangsstreifen am Horizont untermalt. Getrieben von der Dämmerung mache ich Tempo. Der Weg spielt dabei ein rasantes Spiel mit mir. Er reißt mich nach links, dann wieder nach rechts, hinauf und hinunter, dass es eine einzige Freude ist. Nur ein unbeleuchtetes Wildschwein sollte jetzt besser nicht auf der Fahrbahn stehen!



Im letzten Tageslicht kurbele ich einen Hügel hinauf und bleibe verdutzt vor einem großen geschlossenen Gittertor stehen. Was soll das? Das hier ist doch eine hochoffizielle Fahrradroute!

 

Wichtig aussehende Schilder mit vielen tschechischen Worten schüchtern mich ein. Ich reime mir zusammen, dass das Tor zu bestimmten Zeiten durchfahren werden darf. Welche das sind, bekomme ich nicht zusammen. Nun ist guter Rat teuer. Selbst wenn die Pforte nicht abgeschlossen sein sollte, wäre es klug hier hineinzufahren? Es bleibt das erhebliche Risiko, dass die Tür auf der anderen Seite des Geheges verschlossen ist. Das Kopfkino spinnt den Faden weiter: Es sieht einen Förster, der mit seinem Jeep von Tor zu Tor fährt und abschließt. Ich fahre hinein, muss dann leider zurück und sitze in der Falle …    Was ich auch schon weiß: In dem Areal wird eine Bisonherde gehalten. Sind diese Tiere eigentlich dämmerungsaktiv? Was ist, wenn sie mitten auf dem Weg lagern?

 

Ich konsultiere mein Handy, doch dem geht auch schon langsam der Saft aus. Trotzdem finde ich noch schnell eine Alternativroute an dem Hindernis vorbei. Glück gehabt! Bonus: Die Strecke wäre nicht einmal länger. Nur die Wegqualität kann ich nicht einschätzen und an zwei Abzweigungen müsste ich aufpassen. Da ich die Dunkelheit bis zum Tagesziel ohnehin nicht besiegen würde, gönne ich mir eine zehnminütige Auszeit. An einer Raststation mit Tisch und Bank gebe ich dem Handy Strom aus der Powerbank und mir selbst Energie aus den restlichen Vorräten. Außerdem ziehe ich alles an, was ich mitgenommen habe, denn ohne Sonnenlicht sind auch die Außentemperaturen nicht gerade angenehm.

 

Schon rolle ich wieder los. Fast im Blindflug rase ich über Feldwege an riesigen Solarkraftwerken vorbei (Es sollen die größten der Tschechischen Republik sein!), um möglichst schnell wieder auf meine ursprüngliche Route und damit auf eine befestigte Straße zu kommen. Das gelingt auch erstaunlich problemlos. Dafür jagt mir die Straße oder besser gesagt deren Randbebauung einen gehörigen Schrecken ein. Kaum habe ich wieder Asphalt unter den Reifen, glotzt mich ein großes, hellverputztes und altehrwürdiges Haus aus leeren Fensterhöhlen an.

 

Gruselig. Das Geisterhaus war einmal eine Schule.
Gruselig. Das Geisterhaus war einmal eine Schule.

Gruselig. Was macht hier, kilometerweit von jeder Siedlung, ein einzelnes, weitgehend intaktes, aber offensichtlich schon länger verlassenes Anwesen? Wenn es hier nicht spukt, dann spukt es nirgendwo! Nichts wie weg hier!

 

Später lerne ich, dass ich inmitten des ehemaligen Dorfes Jabloneček (Gablonz bei Niemes) gestanden habe. Das Dorf hatte in den 1920er Jahren immerhin 432 Einwohner, eine Kirche und ein Pfarramt. Wie in den meisten Orten auf dem Truppenübungsplatz wurden alle Gebäude einschließlich des Gotteshauses gründlich beseitigt. Nur zwei Gebäude blieben beinahe unversehrt. Es sind die deutsche und die tschechische Schule. Vermutlich wurden sie von den Sowjets als eine Art Kommandantur benutzt. Vor der deutschen Schule habe ich mich gerade gegruselt.

 

Von nun an gibt der Weg keine Rätsel mehr auf. Es handelt sich sogar um eine asphaltierte Straße, die mich zurück in die Zivilisation bringen wird. Die gewaltigen Schlaglöcher im Fahrbahnbelag verhindern zwar eine geschmeidige Fahrt und sorgen für einige unfreiwillige Duschen. Letzteres liegt daran, dass die Löcher bis oben mit Wasser gefüllt sind. Doch insgesamt komme ich zügig voran. Genau genommen fahre ich, dafür dass ich mir immer noch das Scheinwerferlicht spare, viel zu schnell. Irgendetwas schwach rot Leuchtendes taucht in Fahrtrichtung auf. Es erweist sich als beleuchtetes Halsband in dem ein großer, aber lieber Hund steckt. An der Leine führt das Tier auch noch zwei Begleitmenschen mit, die ich aber erst wahrnehme, als ich schon an ihnen vorbeiradle. Vielleicht sollte ich doch langsam die vorschriftsmäßige Beleuchtung einschalten! Die Lichter einiger Häuser und später sogar Straßenlaternen zeigen mir, dass ich nun endlich wieder in bewohnte Gegenden gekommen bin. Das lässt mich aufatmen, doch damit bin ich noch längst nicht am Ausgangspunkt!

 

Ganze 15 Kilometer verschiedener Landstraßen liegen nun noch vor mir. Auf dieser Strecke lässt es sich Petrus nicht nehmen, mir noch einmal die ganze Palette von Regen- und Schneegrieselschauern vorzuführen. So bin ich sichtlich erleichtert, als der Wegweiser zu „meiner“ Burg Zvířetice am Straßenrand auftaucht. Mit der Vorfreude auf Heizgebläse und Sitzheizung ist der Anstieg zur Burg nur noch ein Klax. Und tatsächlich: In trockener Kleidung, auf gewärmtem Sitz und mit einer Stärkung im Bauch gucke ich schon eine halbe Stunde später wieder unternehmungslustig in die Welt. Wohin geht es als nächstes?



Ralsko, Militärlager-Roll oder auch Rollberger Hügelland. Was ist das für ein Landstrich? Schaut man sich alte Ansichtskarten an, erkennt man beschauliche Dörfer mit Kirchen und Gasthäusern in einer lieblichen Hügellandschaft. Etwa 20 inzwischen erloschene Orte verzeichnen alte Landkarten. Wie überall im Norden Tschechiens war die übergroße Mehrheit der Bevölkerung deutscher Abstammung. Land- und Forstwirtschaft dürften die Haupterwerbszweige gewesen sein, denn für Tourismus fehlten die herausragenden Attraktionen. Hektische Großstädte, wie Prag oder auch nur Reichenberg (Liberec) waren gemessen an den damaligen Verkehrsmitteln sehr weit weg. Optisch erinnern mich die alten Ansichten an die Landschaft und die Dörfer, die ich im Westerwald kennen gelernt habe.

 

Schon die Österreich-Ungarische-Regierung errichtete einen ersten Schießplatz. Nach der deutschen Besetzung in Folge des Münchener Abkommens baute die Wehrmacht im Jahr 1942 einen weiteren kleineren Panzerfaust-Schießplatz östlich vom Mimoň (Niemes). In den Jahren 1944/45 wurde in der Nähe von Hradčany (Kummer) hastig ein Flughafen  eingerichtet. Auf Grund des Zeitdrucks dürfte das kaum mehr als eine Graspiste gewesen sein, die sogleich von den Sowjets und den Amerikanern heftig attackiert wurde. Immerhin befanden sich nach Kriegsende eine Anzahl (beschädigter) Flugzeuge und tonnenweise Munition vor Ort.

 

Wie überall wurden auch hier nach 1945 die sudetendeutschen Bewohner, die den Krieg überlebt hatten, verjagt. Damit war die Region praktisch entsiedelt. Neue tschechische Bewohner, die gerade sesshaft wurden, vertrieb man schon 2 Jahre später wieder. Die Regierung in Prag hatte beschlossen, hier das „Militärausbildungslager Bezděz“ einzurichten. Dabei war man nicht kleinlich und nahm bis 1952 die gesamte Fläche in Beschlag, die bis zum Ende des Kalten Kriegs Militärgebiet bleiben sollte. Das waren 250 km2 ! Auch der Flugplatz wurde ab 1952 mit einer richtigen Betonpiste ausgestattet. Ab dem 21. August 1968 hatte das Gebiet einen neuen Herren. Die sowjetischen Truppen, die eine Woche zuvor in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, besetzten das gesamte Gelände. Sie gaben es erst 1991 wieder frei.

 

Die 1990er Jahre waren die Zeit der großen Chancen. Das galt erst recht für das Gebiet Ralsko. Wo gibt es sonst schon die Gelegenheit der „Carte blanche“, einer derart großen weißen Landkarte für neue Pläne? (Natürlich musste das Gebiet zuvor gründlich von militärischen Hinterlassenschaften gesäubert werden, aber diese Aufgabe war ja ohnehin zu erledigen.)

 

Die menschenleere weite Landschaft mit tiefen Wäldern, Kegelbergen und Burgen lädt gerade zu ausgedehnten Erkundungstouren mit und ohne Fahrrad ein. Ein Netz von Wander- und Radwegen hätte entstehen können, vielleicht der eine oder andere Biwak-Platz und ein Singletreck für Mountainbikes. Das ist natürlich nur ein Traum, denn all das hätte Geld gekostet und kaum eine Krone eingebracht.

 

Eine andere Möglichkeit: Hradčany mit seinem Flughafen hätte der Kristallisationskern für ein neues Hochtechnologiezentrum werden können. Hypermoderne Glaspaläste der Industrie, Forschungseinrichtungen und Hochschulen wären hier entstanden. Dieser Hightech-Traum hätte bekanntlich einen eigenen Flugplatz gehabt und die 60 Kilometer in Prags Zentrum hätte eine Magnetbahn in 20 Minuten überbrückt. Die Lage im Zentrum Europas wäre eine Garantie für beste Vernetzung. Vielleicht hätte eine Sonderwirtschaftszone nach chinesischem Vorbild die Investitionen aus der ganzen Welt nach Ralsko gelockt. Und wiederum: Eingebettet wäre dieses tschechische Silicon Valley in eine traumhafte Landschaft, die zum Wandern und Fahrradfahren verlockt hätte. Bestimmt wären auch Sportanlagen in dem riesengroßen Areal entstanden.

 

Das alles habe ich mir nur ausgedacht. Die Realität ist die übliche Geschichte der verpassten Chancen, der mutlosen Entscheidungen und vermeintlicher Sachzwänge. Bis heute sind die Hinterlassenschaften der Armee nicht weggeräumt. Damit meine ich nicht tonnenschwere Betonbunker, die es hier wohl kaum gab. Es sind die unzähligen Gebäudefragmente und Trümmerhaufen, die überall in der Landschaft liegen. Immerhin werden die Ruinen für Filmaufnahmen vermietet.

 

Auch die Wiederbesiedelung der Region verläuft in den letzten 30 Jahren schleppend. Und es sind gerade nicht die Software-Ingenieure und Raketen-Wissenschaftler, die hier ein neues Zuhause finden. (Wie man den frustrierten Worten von Ralskos Bürgermeister Jindrich Solc entnehmen kann.)

 

Dem Zeitgeist entsprechend hat der institutionelle Naturschutz seine gierige Hand ausgestreckt und eine größere Fläche zum unbetretbaren Schutzgebiet erklärt. Auf einigen erstklassigen Betonstraßen darf gewandert, aber nicht geradelt werden. Das ist in einem Gebiet, in dem sich ohnehin kaum eine Menschenseele aufhält, nichts als sinnlose Regulierungswut. Selbst der KČT, der umtriebige Verband Tschechischer Touristen, scheint einen Bogen um das Gebiet Ralsko zu machen. Die sonst so vorbildliche Markierung von Wander- und Radwegen gibt es hier auch drei Jahrzehnte nach der Öffnung nicht. 

 

Wohin gehst du also, Ralsko? 

 

PS: Im Mai 2022 hat das Verteidigungsministerium nachgefragt, einige Flächen für die Armeeausbildung nutzen zu können …       (Fast 1.200 Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen.)

 


Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!


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