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Großväterchens Reich

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Hochsommer. 

 

Das ist die Jahreszeit, wenn die Sonne unbarmherzig auf die Erde knallt. Nirgendwo ist ein hilfreiches Wölkchen in Sicht. 32 Grad. Kein Lufthauch bewegt sich und der Mensch tut gut daran, den kühlsten Raum des Hauses aufzusuchen, um auf einem Sofa dem frischeren Abend entgegen zu dämmern. 

 

Wir haben jetzt Hochsommer. 

(Es fragt sich nur, wie unter diesen Umständen eine zünftige Fahrradtour zustande kommen soll.) 

 


Aus Sonnenschutzgründen habe ich mich auf das Sofa meiner Kellerwerkstatt zurückgezogen und tue …  Nichts! Zu meiner Ehrenrettung muss ich hinzufügen, dass mich ausgerechnet in diesen Sommertagen ein weltbekanntes Virus besucht hat. Dadurch habe ich für meine Antriebslosigkeit sogar eine Ausrede. Meine Lethargie und die allgemeine Forderung, jetzt Menschenkontakte zu vermeiden, gehen dieser Tagen eine perfekte Symbiose ein.

 

Natürlich lässt sich dieser nicht unangenehme Dämmerzustand kaum länger als eine Woche aufrechterhalten. Schon melden sich die bekannten Hummeln im Po. Außerdem haben meine liebe Frau und ich noch ein paar Tage Resturlaub und so muss dringend ein Reiseplan her!  Dieser Plan wird von der Wetterkarte bestimmt. Gesucht wird ein möglichst kühler Ort in mitteleuropäischer Autoreichweite. Ein paar Regenschauer zur Erfrischung wären hochwillkommen und etwas gebirgig dürfte die Landschaft schon sein. Der beste Treffer für die ungewöhnliche Kombination unserer Kriterien scheint das Altvatergebirge (Hrubý Jeseník) zu sein. Ein Hotel in einer alten Burg, deren dicke Mauern kühle Zimmer erwarten lassen, ist schnell gebucht. Und schon reißt mich das Reisefieber aus meiner Trägheit!

 

Zeitsprung, eine Woche später. Die Flucht vor dem Hochsommer hat nur teilweise funktioniert. Wir erlebten in den vergangenen Tagen zwar eine nebelfeuchte Bergwanderung und ein dörfliches Volksfest bei dem die Blaskapelle im Platzregen zu ertrinken drohte. Doch nun ist die Sonne mit unverminderter Kraft wieder da. Dabei wollte ich doch gerade heute und nach viel zu langer Pause wieder eine Heldentat auf dem Fahrradsattel vollbringen! Mein Ziel ist es nämlich, auf Monstas Rücken auf den Praděd zu radeln. Der ehrwürdige „Altvater“ (das ist sein deutscher Name) ist nicht nur der höchste Berg des Altvatergebirges sondern auch der höchste Gipfel Mährens. Das Altvatergebirge wiederum ist das zweithöchste Gebirge der Tschechischen Republik. Trotzdem stellt der Praděd den höchsten Punkt der Tschechischen Republik dar. Das gelingt ihm aber nur durch den 146 Meter hohen Fernsehturm, der seinen Gipfel krönt . Ohne den Mast ist der ganze Berg „nur“ die Nummer 5.

 

Glaubt man den Aussagen der Fremdenverkehrsämter, sind die Berge hier ein hervorragendes Mountainbike-Revier. Das gilt es zu überprüfen! Nach meiner gestrigen Schnuppertour auf den Trails der Rychlebské stezky (deutsch in etwa „Wege des Reichensteiner Gebirges“) bitte ich mich heute erst einmal zur Selbstanamnese: Bin ich schon fit genug für größere Herausforderungen? Das Großmaul in mir skandiert „Klar doch!“ und mein zaghafter Teil wird mit der Zusage abgespeist, dass es vor 16 Uhr ohnehin nicht losgehen würde, genau dann, wenn die Mittagshitze vorbei wäre.

 

Die Burg Kolštejn (Goldenstein), unser Quartier, ist geschichtlich wie architektonisch eine eher unbedeutende Anlage. Dabei ist natürlich die enorme Konkurrenz im Land der Burgen und Schlösser zu berücksichtigen. Unsere Burg sollte man jedoch nicht mit einem einfachen „Gutsherrenhaus“ verwechseln. Immerhin hat sie einen (unzugänglichen) tonnenförmigen Burgturm, mehrere langgezogene Gebäudeflügel mit allerlei Sälen, Gewölben und Wandelgängen und sogar einen angedeuteten Graben mit baupolizeilich gesperrter Brücke. Heute beherbergt Burg Goldenstein ein Hotel. Dass seine freundlichen Mitarbeiter derart unprofessionell agieren, dass sie dabei schon wieder charmant wirken, ist ein anderes Thema.

 

Der Glaube, hier auf Goldenstein an einem überaus bedeutendem Ort zu verweilen, entsteht dadurch, dass gleich gegenüber das ebenfalls stattliche Gebäude der alten Vogtei steht, dahinter die riesige Kirche des Erzengels Michael ihren Platz gefunden hat und ein Stück weiter sich ein kaum weniger beeindruckendes, im historischen Stil gebautes Rathaus befindet. Der erste Eindruck täuscht jedoch: Das restliche Dorf Branná (Goldenstein) besteht gerade einmal aus zwei Dutzend bescheidener Einfamilienhäuser.

 

Burghof mit Fahrrädern: Noch weiß Monsta-Bike nicht, dass es gleich auf Tour geht!
Burghof mit Fahrrädern: Noch weiß Monsta-Bike nicht, dass es gleich auf Tour geht!

Die Radtour startet auf dem Burghof. Der Beginn der Fahrt gestaltet sich ausgesprochen komfortabel. In einer weiten Kurve führt ein schönes Gefälle den Burgberg hinunter zur Landstraße 369, so dass zunächst jeglicher Muskeleinsatz unterbleiben kann. Auch die Chaussee behält eine tempofördernde Abwärtstendenz bei, auch wenn es jetzt deutlich weniger steil zugeht. Aufgrund des Lastwagen- und Autoverkehrs ist dieser Abschnitt aber eher notwendiges Übel als Genuss. 

 

Alles ändert sich im Dorf Nové Losiny (Neu Ullersdorf). Nun beginnt meine Route anstrengend zu werden, denn es geht stetig bergauf. Gleichzeitig reduziert sich der Autoverkehr auf ein angenehmes Niveau. Wie im Gebirge üblich, folgen auch im Altvatergebirge die größeren Verkehrsachsen den Flusstälern. Das betrifft sowohl die Straße 369 die der Branná folgt und von der ich gerade kam, als auch die Staatsstraße 44 im Tal der Desná, die mich weiter an den Fuß des Altvaters führen wird. Jetzt befinde ich mich auf einer 9 Kilometer langen und vielfach gewundenen, schmalen Verbindungsstraße. Sie muss notgedrungen einen kleinen Bergrücken überwinden, der die beiden Flusstäler trennt. Langweilig wird es jedoch nicht. Hinter jeder Kurve tauchen weitere Bauernhäuser mit ihren gepflegten Gärten auf. Die meisten Gebäude sind längst zu schicken Wochenendhäuschen umgewandelt worden. Auf einem der Grundstücke gibt es sogar zwei Alpakas zu bewundern, die sich eine große Wiese mit einem zottigen Hund teilen. Langsam zieht sich das Dorf zurück. Die Steigung lässt nach und große Wiesen breiten sich links und rechts der Straße aus. Gleich danach ist mit dem Přemyslovské sedlo der vorläufige Höhepunkt erreicht und die ersten knapp 300 Höhenmeter abgearbeitet. Zur Feier des ersten Zwischenziels drehe ich auf dem Gebirgssattel eine Ehrenrunde und fotografiere die sommerliche Landschaft.

 

Landschaft mit viel Grün. Die ersten 300 Höhenmeter sind geschafft!
Landschaft mit viel Grün. Die ersten 300 Höhenmeter sind geschafft!

Was folgt ist „Trick 17 mit Selbstüberlistung“. Ich habe mir überlegt, dass ich später ein Stück der Autostraße sparen könnte, wenn ich links auf eine Fahrradroute abböge, die mich auf Wirtschaftswegen durch den Wald führen würde. 

 

Erst einmal geht es jedoch wieder abwärts. Entsprechend rasant nehme ich eine Doppelkurve, als ich gleich danach am linken Straßenrand eine Stichstraße mit Fahrrad-Piktogramm wahrnehme. Ich bin mir sicher, hier bin ich richtig. Hier muss ich abbiegen! Die ersten Meter der Forststraße ziehen erschreckend steil aufwärts. Doch ich weiß, dass nach wenigen Metern eine Rechtskurve kommen wird, hinter der das Streckenprofil annähernd waagerecht verläuft. Keuchend kämpfe ich mich aufwärts. Die Abzweigung scheint später zu kommen, als ich es von der Karte in Erinnerung hatte. Weiter. Der Schweiß rinnt mir vom Gesicht. Jetzt schwenkt die Straße endlich wie geplant zur Seite. Kurioserweise wendet sie sich aber wenige Meter später deutlich nach links und die Steigung scheint überhaupt nicht nachzulassen. Einen halben Kilometer und einige Schweißtropfen später entschließe ich mich endlich, einen Blick auf die digitale Karte zu werfen.

 

Siehe da: Ich bin doch tatsächlich einen Radweg zu früh von der Straße abgebogen und habe mich inzwischen auf 850 Meter Höhe hochgearbeitet, wo ich eigentlich die 700er Marke kaum hätte streifen wollen. Am falschen Ort bin ich sowieso. Was nun? Direkt zurück käme einer schmählichen Niederlage gleich. Gibt es nicht eine Möglichkeit, diesen höheren Weg beizubehalten und trotzdem zu meinem Ziel zu kommen? Ja, das geht. Ungeplante Mehrkilometer und die unnötige Höhe sind ja ohnehin nicht mehr zu vermeiden. Die weiteren 50 Höhenmeter, die ich noch klettern muss sind vergleichsweise zu vernachlässigen. Tatsächlich erweist sich die weitere Strecke nach kurzer Anstrengung als ein angenehmer und vor allem schneller Forstweg, der mir noch einige schöne Ausblicke ins Tal und auf die umgebende Bergwelt bietet. Sogar mein heutiges Ziel, den Fernsehturm auf dem Praděd bekomme ich in der Ferne zu sehen. Es handelt sich bei den Bergen durchweg um grün bewaldete, rundliche Hügel von allerdings beachtlichen Ausmaßen.

 

 

Ansporn: Dort oben wohnt der Altvater.
Ansporn: Dort oben wohnt der Altvater.

In Gedanken bin ich schon auf der Hauptstraße im Desná-Tal, als mich ein unerwartetes Hindernis stoppt. Eine gewaltige Forstmaschine mit martialisch aussehenden Greifern und allerlei stählernen Monsterzähnen blockiert den Weg. Sie ist mit dicken Stahlseilen im Wald verspannt und fuchtelt mit dröhnendem Motor mit ihren Horrorwerkzeugen. Um die Maschine liegen in einer wirren Ordnung, die nur der Maschinenführer versteht, mächtige Baumstämme und dicke Äste herum. An ein Durchkommen ist nicht zu denken. Auch ein Stück hangauf- oder bergabwärts wäre ich nicht aus der Gefahrenzone des Ungetüms. Mit Entsetzen kalkuliere ich schon einmal die Anstrengungen und den Zeitverzug, die sich daraus ergeben würden, dass ich die ganze Waldstrecke zurückradelte. 

 

Da bekomme ich den Wink aus der Kabine der Waldmaschine. Der Eisenarm klappt zur Seite und ich darf durch den Arbeitsbereich. Mit einer Hand mein Monsta-Bike tragend, balanciere ich über das Riesenmikado wackelig aufgeschichteter Baumstämme. Einen anderen Weg gibt es nun einmal nicht. Am Ende bin ich froh, dass das tonnenschwere Holz unter meinen Füßen nicht ins Rollen kam. Und ich bin mir sicher, dass mich bei uns in Deutschland wirklich niemand durch diese „Baustelle“ gelassen hätte.

 

Ohne weitere Vorkommnisse komme ich in Kouty nad Desnou (Winkelsdorf) und damit auf der Hauptstraße an. Dieser Straße muss ich etwa einen Kilometer folgen, bevor ich mich an den eigentlichen Aufstieg machen kann. Trotz erheblichem Fahrzeugverkehr radelt sich die große Straße gut, weil sie einen breiten Randstreifen hat. Ich werde von etlichen Autos, vor allem aber von vielen laut röhrenden Motorrädern überholt. Dieser Straßenkilometer und die ungewöhnliche Anzahl der Zweirad-Kraftfahrzeuge sind ein guter Anlass, noch etwas über die Geografie des Altvatergebirges zu sinnieren.

 

Der flüchtige Blick auf eine Reliefkarte zeigt im Ostteil der Sudeten eine größere Gebirgsfläche, in deren Mitte der Praděd (Altvater) die höchste Erhebung darstellt. Sein Gipfel ragt nicht einmal besonders heraus, denn in der Umgebung gibt es noch eine ganze Reihe von Bergen, die 1200, 1300 oder gar 1400 Meter hoch sind. Bei näherer Betrachtung erkennt man aber doch eine Art Gebirgszug, der sich im Nordwesten aus dem Glaatzer Kessel erhebt und etwa 50 Kilometer südöstlich langsam ausläuft. Das ist das Altvatergebirge. Wobei der Smrk (Fichtlich) ganz im Nordwesten jetzt lautstark protestieren müsste. Denn er besteht darauf, nicht zum Altvatergebirge, sondern zum Reichensteiner Gebirge zu gehören. Das Altvatergebirge (Hrubý Jeseník ) ist nämlich in Wahrheit der Kopf einer ganzen Räuberbande aus Gebirgen. Neben dem schon erwähnten Reichensteiner Gebirge (Rychlebské hory) gehören noch das Bielengebirge (Bělské vrchy), das Glatzer Schneegebirge (Králický Sněžník), das Hannsdorfer Bergland (Hanušovická vrchovina) {was wiederum aus Goldensteiner Bergland (Branenská vrchovina), Rabenseifener Bergland (Hraběšická vrchovina) und Ausseer Bergland (Úsovská vrchovina) besteht} und das Zuckmanteler Bergland (Zlatohorská vrchovina) zum Team. 

 

Ich glaube, ich verliere langsam den Überblick bei den Bergländern, zumal sich das ganze Durcheinander in einem Umkreis von kaum mehr als 50 Kilometern abspielt. Das Altvatergebirge aber ist der Chef und wenigstens hier gestalten sich die Verhältnisse übersichtlicher. Ausgehend von der Stadt Jeseník (Freiwaldau) erheben sich die Gipfel Šerák (Hochschar, 1351 m) und Keprník (Glaserberg, 1423 m). Beide können erwandert, aber leider kaum mit dem Fahrrad erreicht werden. „Šerák“ und „Keprník“ sind in der Region übrigens allgegenwärtig, denn es sind gleichzeitig die Namen der lokalen Biersorten, wobei Keprník sinnigerweise das stärkere Bier ist. Weiter südöstlich kommt die einzige spektakuläre Passstraße der Region, die schon erwähnte Magistrale 44. Mit ihren Haarnadelkurven lockt sie Motorradfahrer aus nah und fern an. Auf der Zufahrt zu dieser Passstraße befinde ich mich gerade und das erklärt auch, warum mich die Motorräder umschwirren wie die Mücken, Bienen, Hummeln und Hornissen. (je nach Motorauslegung und Manipulation der Auspuffanlage) 

 

Weiter folgt im Altvatergebirge ein Bergrücken, der schließlich vom Praděd mit seinem Fernsehturm gekrönt wird. Der daraus folgende Anstieg wird nun meine Herausforderung für die nächsten zwei Stunden sein!

Dort, wo die Motorradfreunde das erste Mal den Gashahn aufreißen, weil auf der anstehenden Steigung ordentlich Dampf gebraucht wird, verlasse ich die Hauptstraße. Ich begleite auf einer Nebenstraße ein kurzes Stück den Fluss Desná, bis ein Schild die Weiterfahrt für Autos verbietet. Die Straße geht jedoch weiter, wendet sich vom Fluss ab und beginnt zu klettern. In Gedanken setze ich hier auf einer Höhe von 630 Metern meinen internen Bordcomputer auf Null. Weit über 800 Höhenmeter wollen nun bewältigt werden.

 

Lasst die Spiele (oder die Ausdauer-Trainingseinheit) beginnen!

 

Kontinuierlich gewinnt die asphaltierte Straße an Höhe. Um mich herum ist dichter Wald, aber auf der linken Seite ist in kurzer Entfernung ein Bach zu vermuten. Auf der anderen Seite des Bachs müsste die offizielle Passstraße verlaufen, was die Motorengeräusche bestätigen. Ich erreiche Kilometer 1,5 auf 725 Metern Höhe: Per Spitzkehre wird meine Richtung umgedreht. Autostraße und Fahrradroute gehen jetzt endgültig getrennte Wege. Am Wald und an der Steigung, die sich wohl auf etwa 10% eingepegelt hat, ändert sich nichts.

 

Kilometer 2,3 auf 775 Metern Höhe: Auf die nächste Sitzkehre musste ich nicht so lange warten. Gleich hinter ihr müssten am Steilhang ein paar Kletterfelsen, die „Skalní útvar Sokolka“ (Falkenfelsen?) stehen. Vom Weg sind sie jedoch nicht zu sehen und ich habe noch zu viel Strecke für zu wenig Zeit vor mir, als dass ich eine kleine Exkursion wagen würde.

 

Kilometer 2,9 auf 840 Metern Höhe: Kehre Nummer 3 und die Steigung hört nicht auf. Von nun an gibt die Straße ihren Korkenzieherverlauf auf und hangelt sich in langen Bögen die Bergflanke hinauf. Bis auf eine Wanderfamilie, die mir entgegen den Berg hinunter lärmte, bin ich bei meinem Aufstieg noch Niemandem begegnet. Deshalb bin ich ganz überrascht, als sich von hinten ein Auto nähert. Ich gebe den Weg frei und bin erstaunt kein Forstfahrzeug, sondern einen Kleinwagen mit niederländischem Kennzeichen zu sehen. Nicht so sicher bin ich mir, ob ich seine Fahrt auf gesperrter Straße in einer Gegend voller Naturschutzgebiete eher als mutig oder dreist einschätze. Überhaupt, wo will der eigentlich hin?

 

Bei Kilometer 5,1 seit Beginn des Anstiegs und 974 Metern Höhe wendet sich mein Weg überraschende vom Ziel weg. „He he, das ist die falsche Richtung!“, möchte ich rufen. Doch wahrscheinlich sollen wir auf einem kleinen Schlenker nur ein paar Höhenmeter einsammeln. Inzwischen ist der Wald um mich herum nicht mehr so dicht und gewährt mir zur Freude schon Ausblicke auf ein paar entfernte Hügel. Übrigens habe ich immer noch Asphalt unter den Reifen. Ich weiß, dass das nicht so bleiben wird, aber ich freue mich über jeden Höhenmeter, den ich auf leicht rollendem Untergrund einkassieren kann. 

 

Nach 6 Kilometern Steigung bin ich nunmehr auf 1044 Metern Höhe angekommen. Hier erreiche ich bei der Petrovka Schutzhütte eine wichtige Wegkreuzung. Infotafeln und Wegweiserschildchen lassen keinen Zweifel darüber, auf welchem Weg es für mich weitergeht. Bevor ich die Schotterpiste in Angriff nehme, bleibt mein Auge noch an einem ganz besonderen Wegweiser hängen. Die altertümliche Blechtafel mit ihren Rostflecken und den plastisch ausgestanzten Pfeilen auf beiden Seiten ist tief in die Baumrinde eingewachsen. Sie wirkt, wie aus der Zeit gefallen und auf ihr ist in großer Schrift zu lesen: „Kouty n. Des. – Švýcárna“ und klein darüber: „Lyžařská Cesta“. Faszinierend, wie viele Hatscheks und Tscharkas die wenigen Buchstaben des Worts „Lyžařská“ zu tragen imstande sind. Übersetzt heißt das, dass das hier die Skiloipe zwischen der Hütte Schweizerhaus und dem Ort Kouty (Da komme ich doch gerade her!) verläuft. Bis zum Schweizerhaus habe ich noch etwas Kurbelarbeit vor mir, aber wenn ich es schaffe, dort anzukommen, hätte ich mein Tagesziel auch schon fast erreicht.

 

Wie erwartet, sorgt die nun folgende steinige Naturstraße für zusätzliche Herausforderungen. Trotzdem trete ich unaufhörlich weiter. Die Waldlandschaft um mich herum ist hell und licht geworden. Die Sonne hat ein leichtes Spiel. Ihre abendlichen Strahlen vergolden meinen Weg und lassen die Vogelbeeren am Wegesrand geradezu verführerisch leuchten. Immer wieder gibt es weite Aussichten auf Berge und Täler und der aufkommende Dunst in der Ferne sorgt für eine ganz besondere Stimmung. Ja, es ist mittlerweile schon 19 Uhr geworden und ich beginne mir darüber Gedanken zu machen, ob ich den Gipfel bei Tageslicht erreichen kann. Das einzige Rezept gegen die Abenddämmerung heißt: Zügig weiterzufahren!

 

Wie erwartet kommt Schotter als zusätzliche Herausforderung dazu ...
Wie erwartet kommt Schotter als zusätzliche Herausforderung dazu ...
... dafür werden die Ausblicke immer schöner!
... dafür werden die Ausblicke immer schöner!

Kommen wir zurück zu meiner Entfernungsrechnung. Bei Kilometer 7,7 auf 1190 Höhenmetern passiere ich die Schutzhütte Kamzík (Gämse). In dem Häuschen langweilen sich zwei Wanderer. Anscheinend haben sie ihr Kochgeschirr und sogar das Bier vergessen. Erfahrungsgemäß bereiten Wanderer immer etwas Essbares zu, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Oder sie spülen ihre Kehlen bei einem fröhlichen Umtrunk. Doch diese Exemplare sehen wirklich so aus, als wüssten sie nicht, was sie hier sollten.

 

Ein wenig später erkenne ich ein Auto vor mir. Den kleinen Wagen mit holländischem Kennzeichen hatten ich doch heute schon einmal gesehen. Das Auto steht merkwürdig schief, weil die linken Räder in den tiefen, steinigen Wassergraben neben dem Weg geraten sind. Nun hängen die Reifen hilflos in der Luft. Ein liegengelassener Wagenheber zeugt von dem vergeblichen Versuch, das Fahrzeug zu befreien. Wenig später treffe ich auf den unglücklichen Fahrer. Er ist ein kaum volljähriger Niederländer, der sich zuerst hoffnungslos verirrt und dann in ein ziemliches Dilemma hineinmanövriert hat. Nun sucht er einen Ausweg. Ich kann nur kartografische Nachhilfe anbieten und ihm die Daumen drücken, dass er in der nahen Schweizer Hütte ein paar starke helfende Hände findet. 

 

Kurz vor dieser bewirtschafteten Hütte wird der Weg noch einmal richtig fies für mich. Die groben Natursteinplatten, mit denen er hier befestigt wurde, mögen von der nahen Zivilisation künden. Doch sie liegen so chaotisch kreuz und quer, dass an ein halbwegs geschmeidiges Rollen nicht zu denken ist. Zum Glück währt dieses Straßenelend nur einen halben Kilometer. Zur Abwechslung folgt ein Holzbohlenweg und dann kommt auch schon das Gasthaus in Sicht.

 

Švýcárna (Schweizer) (Kilometer 9,8 - 1315 Höhenmeter) ist genauso, wie man sich ein tschechisches Berggasthaus vorstellt. Die Holzhütte sieht gemütlich aus und auf den rustikalen Bänken neben dem Haus sitzen erstaunlich viele fröhliche Zecher. Auf dem staubigen Weg vor der Baude toben drei Kinder herum und vor einem schicken Enduro-Motorrad, dass es sicher nicht ganz legal hierher geschafft hat, werden Selfies geknipst. 

Der aufgestellte Wanderwegweiser verspricht mir eine Restdistanz von 2 ½ Kilometern bis zum Altvater-Gipfel. Ich weiß, dass das sehr optimistisch geflunkert ist, oder sich auf einen Weg bezieht, der schon seit Jahren nicht mehr bewandert, geschweige denn beradelt werden darf.  Ich rechne für mich einen guten Kilometer mehr. Aber auch das ist ja nur noch ein Katzensprung!

 

Mit dem Kleinen Großvater (Malý Děd, 1369 m) im Rücken und dem Großen Großvater (Velký Děd, 1408 m) an meiner rechten Seite mache ich mich auf die finale Etappe zum Urgroßvater (Das ist die wortwörtliche Übersetzung von Praděd). Bei diesen Namen könnte man meinen, man wäre im Seniorenheim der Berggipfel! Der Fahrweg, der gleichzeitig als Versorgungsstraße zum Schweizerhaus dient, scheint auch schon viele Jahre auf dem Buckel zu haben. Er zeigt sich in einem beklagenswerten Zustand. Tiefe Furchen durchziehen ihn und seine Oberfläche ist von großen Steinen durchsetzt, so dass das gelieferte Bier für die Ausflugsgaststätte sicherlich immer kräftig durchgeschüttelt wird! Mir und mein Fahrrad-Monster kann der miese Weg aber nichts anhaben. Zur Motivation bekommen wir zwischenzeitlich in der Blickachse der Waldschneise den Fernsehturm zu sehen. Aus dieser Perspektive wirkt er schon erstaunlich groß! Außerdem gibt es noch Abwechslung in Form mehrerer Wandergruppen die teils mit schweren Kraxen beladen meinen Weg kreuzen. 

 

Weit kann es nun nicht mehr sein.
Weit kann es nun nicht mehr sein.

Bei Kilometer 12,3 auf 1420 Metern bin ich an der Zufahrtsstraße zum Gipfel angekommen. Sie ist überdimensional breit und piekfein asphaltiert, aber für den öffentlichen Fahrzeugverkehr gesperrt. In einem weiten Bogen schraubt sich die Straße die kahle Bergkuppe hinauf. Der ganze Berggipfel scheint ausschließlich mit einem dürren Gras bewachsen zu sein. Nur in nördlicher Richtung zeigt sich ein interessanter einzelner Felsen.  Leider ist er unzugänglich. Dagegen wirkt der Fernsehturm absolut monumental. Dazu gibt die Abendsonne alles, dem Koloss sogar ein bisschen Farbe auf den grauen Beton zu zaubern. Ein paar Schäfchenwölkchen verzieren den Himmel und mein Straßen-Schneckengewinde treibt mich immer näher an den Turm. Das dabei immer noch Höhe gewonnen werden muss, nehme ich nur noch ganz entfernt wahr. Die Freude gleich am Ziel zu sein, ist viel stärker!

 

Weil ich aber noch fünf Minuten bis zum Finale brauche, will ich mir die Zeit nehmen, über den Turm zu berichten. Eigentlich ist hier von zwei Türmen die Rede. Der Fernsehturm hatte nämlich einen Vorgänger. Der wurde im Stil einer alten Burg in den Jahren 1904 bis 1912 errichtet. Mit hineingemauert wurden aber so viele Baumängel, dass bereits 1923 über eine behördliche Schließung nachgedacht wurde. 1930 war der Turm dann zu. Eine Sanierung und die spätere Umbenennung in Adolf-Hitler-Turm führten zwar zur Wiedereröffnung. Aber auch die war auch nur von kurzer Dauer. Schon 1951 forderte das Bauamt ultimativ den Abriss oder die Generalrekonstruktion. Letztere sollte endlich am 3.Mai 1959 beginnen, doch genau einen Tag vorher stürzte die traurige Ruine in sich zusammen. Heute soll es eine sehenswerte und hoffentlich baustatisch einwandfreie Replik des alten Altvaterturms in Südthüringen geben. Die muss ich bei Gelegenheit dringend einmal erkunden!

 

Auch beim Bau des Fernsehturms lief offenbar nicht alles rund. Dass die Bergspitze bei den Vorbereitungsarbeiten des Turmbaus um einen oder zwei Meter gekappt wurde, ist dabei wohl nur ein Fall für Höhenmeter-Erbsenzähler. Doch die Bauarbeiten dauerten auch deutlich länger als geplant. Der erste Spatenstich erfolgte im Jahr 1968. Erst 12 Jahre später konnte der Sendebetrieb aufgenommen werden. Bis zur Öffnung der Gaststätte vergingen weitere drei Jahre, wobei das ursprünglich geplante Designer-Interieur einer Standard-Ausstattung weichen musste. Die Kosten waren schlicht aus dem Ruder gelaufen! Zu guter Letzt wurde eine eigens angefertigte Holzplastik wieder aus dem Turmfoyer entfernt, weil sie dem Brandschutzkonzept widersprach. Übrigens war der Turm ursprünglich 162 Meter hoch. Seit dem Austausch der Antenne im Jahr 1993 muss er sich mit 146 Metern begnügen.

 

Nun bin ich endlich angekommen! Auf dem Vorplatz des Turms werde ich vom ehrwürdige Altvater begrüßt. Es ist eine überlebensgroße Holzfigur. Bei ihm halte ich mich aber nicht lange auf, denn das Väterchen steht auf der Schattenseite des Turms und hier ist es mir entschieden zu frisch. (Das kann bei fast 1500 Metern Höhe auch im Hochsommer passieren!)

 

Auf der anderen Seite des Senders ist die Welt dann in allerbester Ordnung. Die tief stehende Sonne sorgt für Wohlfühltemperatur und inszeniert ganz nebenbei eine grandiose Lichtstimmung, wie es sie nur zu dieser Tageszeit geben kann. Bis zum Horizont reichen die verschiedenen Bergketten, wobei der in der Ferne liegende Dunst die Weite des Raums unterstreicht. Sogar dem Pumpspeicherbecken Dlouhé stráně (1350 m) kann man von hier oben auf die Wasserfläche sehen. Sie zeigt sich als heller Strich, der wie ein Bildfehler die Bergkuppe im Hintergrund zu durchschneiden scheint.

 

Mit mir sind noch einige weitere Personen auf die Aussichtsterrasse gekommen. Es scheinen Hausgäste des Fernsehturms zu sein, die sich das abendliche Sonnenspektakel nicht entgehen lassen wollen. Kameraauslöser klicken in Serie und neben mir wird ein (gefülltes) Bierglas zur Requisite eines Fotoshootings. Die Sonnenstrahlen brechen sich derart verführerisch im goldgelben Getränk, dass jeder Bierwerbedesigner neidisch werden könnte! 

Ach, meldet sich da gerade der eigene Durst? Vorläufig muss er sich mit Wasser zufriedengeben, denn auch die Abfahrtsstrecke möchte ich noch unfallfrei bewältigen! Doch der Weg zum eigenen Bierchen ist nun nicht mehr weit.

 

Auf dem Vorplatz des Turms werde ich vom ehrwürdige Altvater begrüßt.
Auf dem Vorplatz des Turms werde ich vom ehrwürdige Altvater begrüßt.
Schnipp schnapp Gipfel ab! Die helle Linie ist das Oberbecken eines Pumpspeicherwerks.
Schnipp schnapp Gipfel ab! Die helle Linie ist das Oberbecken eines Pumpspeicherwerks.
Meldet sich da etwa mein kleiner Bierdurst?
Meldet sich da etwa mein kleiner Bierdurst?

Schnell montiere ich die Lichter am Fahrrad und stürze mich den Berg hinunter. Gerade einmal eine halbe Stunde brauche ich bis an die Straße am Fuß des Gipfels, wo genau in diesem Moment mein Abholfahrzeug heranrollt. Dank meiner lieben Frau kann ich mir den anstrengenden Weg zurück zu unserer Wohnburg sparen. Aber ehrlich: Für heute ist es auch genug!

 

Danke Urgroßvater Praděd für deine Audienz!   




Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!


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