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Revanche im Riesengebirge

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Fröstelnd und verschlafen, ja beinahe unschlüssig stehe ich auf der schmucklosen Veranda meines Billig-Quartiers in Szklarska Poręba (Schreiberhau).

 

Das Thermometer an der Hauswand zeigt auf kurz vor 9 und die Uhr steht auf 11 Grad. Oder ist es umgekehrt? Lässig an einem Pfosten lehnt mein „Monsta“-Bike. Es ist bereit für die große Tour. Aber bin ich es auch? Hinter meiner Pension erhebt sich das gewaltige Massiv der Sudeten. Die Sonne lässt es erstrahlen, was einerseits wie eine Verlockung wirkt, aber auch meinen Respekt hervorruft.


Im April war es notgedrungen nur ein Kurzbesuch im Riesengebirge. Rübezahl hatte mich mit einer gehörigen Portion Schnee in die Flucht getrieben. Heute bin ich gekommen, um es ihm heimzuzahlen. Bei dieser Gelegenheit werde ich mir selbst richtig die Kante geben, auf dem Fahrrad natürlich! Die lange ertüftelte Mega-Tour soll nun endlich Realität werden. Die Voraussetzungen könnten an diesem 21. Juni nicht besser sein: Das Wetter ist heiter bis sonnig, aber nicht zu heiß. Von Regen gibt es keine Spur und der Tag des Sommeranfangs bietet bekanntlich ein Maximum an Tageslicht.

 

Nun stehe ich also zögernd auf dieser Veranda und blicke auf mein Monsta-Bike. Meine Abenteuerlust und eine gewisse Unentschlossenheit führen in mir einen kleinen Schaukampf auf. Dieser Kampf scheint ein abgekartetes Spiel zu sein. Denn ich weiß jetzt schon sicher, welche Seite gewinnen wird!  

 

Gut, zur Vorbereitung habe ich mir gestern extra den Bauch mit Nudeln vollgeschlagen. Ich habe gehört, das Profi-Radfahrer das wohl vor entscheidenden Etappen tun. Den Rucksack packte ich sorgfältig und die Strecke bin ich in Gedanken noch einmal durchgegangen. Auch das Fahrrad müsste technisch fit sein … 

Was bringt mir mein Zögern jetzt? Genau: Nichts! „Dann schwing dich doch endlich auf den Sattel!“ rufe ich mir selbst zu und radele schließlich los.

 

Szklarska Poręba wirkt noch ausgesprochen verschlafen. Ich fahre an einem Friedhof vorbei und kurble durch ein kleines Wäldchen. Dann passiere ich einen Sportplatz mit kolossaler Aussicht auf das Riesengebirge. Ob das den Sprintern oder Hürdenläufern beim Kampf um Bestzeiten hilft? Schon bin ich an der Sportstätte vorbei und rolle in den Ortskern. Die Topografie dieses Wintersportzentrums bringt es leider mit sich, dass ich noch einmal ganz hinunter ins Tal fahren muss. Dort unten an den Ufern des Zackenbachs konzentriert sich die gesamte touristische Infrastruktur des Ortes. Sie strahlt, wie in Polen an solchen Orten üblich, fast schon eine Rummelplatzatmosphäre aus. Doch um diese Zeit ist der Rummel noch leer. Ganz sanft beginnt für mich die Steigung und mein ganz privates Festival der Höhenmeter kann beginnen!

 

Sport mit Aussicht: Ob das Bergpanorama die Sprintzeiten verbessert?
Sport mit Aussicht: Ob das Bergpanorama die Sprintzeiten verbessert?

Auf der Staatsstraße 3 verlasse ich den Ort in Richtung der Grenzstation zur Tschechischen Republik. Diese Straße klettert im weiteren Verlauf hinauf zum Neuweltpass, wozu sie sich einer Anzahl allerfeinster Serpentinen bedient.

 

Damit ist sie ein Traum für alle Rennradfahrer, wenn da nicht normalerweise die vielen Autos, Lastwagen und Busse wären. Erstaunlicherweise ist die Verkehrsdichte gerade ganz erträglich und ich könnte auf dieser Straße bleiben. Doch ich habe eine bessere Idee: Ich verlasse so schnell wie möglich die Landstraße und schlage mich zu einem Weg durch, der mehr oder weniger parallel zu einer Eisenbahnlinie verläuft. Die Bahn und ich haben das gleiche Ziel. Auch die Züge müssen, genau wie ich, über den Gebirgspass.

 

Meine Routenwahl hat gleich drei Vorteile: Ich werde vom Autoverkehr verschont, die sanfte und gleichmäßige Steigung erwärmt den Körper schonend und am Ende lockt ein kurzer Mountainbiketrail der mich zurück auf die Hauptstraße bringt. 

 

Diese kleine Geländebahn zaubert mir ein breites Grinsen ins Gesicht! Ich jage mit Monsta in wilder Kurvenhatz durch den Wald, zirkle um enge Kehren, fliege über saftige Wiesen und poltere sogar über eine schmale Holzbrücke, die offenbar eigens für mich (und die anderen MTB-Fahrer) angelegt wurde. Herrlich! Viel zu schnell komme ich an der Hauptstraße heraus.

 

Unfair: Die Bahn lässt die kleinen Hügel einfach aus!
Unfair: Die Bahn lässt die kleinen Hügel einfach aus!
Ratter, ratter ...   MTB-Spaß im Wald.
Ratter, ratter ... MTB-Spaß im Wald.

Wieder auf Asphalt lasse ich die letzte polnische Tankstelle links und das letzte polnische „Indische“ Restaurant rechts liegen. Dann ist der Scheitelpunkt überschritten und leicht und zügig geht es abwärts.

 

Gerade habe ich den Neuweltpass hinter mir gelassen und vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, dem unkundigen Leser mein heutiges Fahrtgebiet vorzustellen. Blickt man von der polnischen Seite auf das Riesengebirge, erscheint das polnisch-tschechische Grenzgebirge wie eine gewaltige Wand. Wie aus dem Nichts erhebt sich eine Bergkette, deren zahlreiche Gipfel einer nach dem anderen die 1400 Meter Höhe überschreiten. Die Schneekoppe mit ihren 1602 Metern fällt dabei unter ihren Brüdern nicht einmal sonderlich auf. Auf böhmischer Seite erfolgt der Übergang aus der Ebene in die Berge auf völlig andere Weise. Es wirkt, als schaukelten sich die Berge über mehrere Vorgebirgszüge langsam zu ihrer finalen Höhe auf. Dadurch erscheinen die Gipfel des Riesengebirges nur halb so beeindruckend. Entweder sind sie gar nicht zu sehen, denn ein anderer Berg steht im Weg. Oder sie sehen nicht sehr hoch aus, weil man sich für den Ausblick gerade selbst auf einen Vorgipfel begeben musste.

 

Das ganze Riesengebirge (tschechisch Krkonoše, polnisch Karkonosze) hat eine Ost-West-Ausdehnung von überschaubaren 35 Kilometern. Das erklärt auch den Mangel an Passstraßen. Unserere Vorfahren sahen wohl kaum die Notwendigkeit, die Berge zu überqueren. Schließlich konnte man ja auch links oder rechts daran vorbeifahren! Nur die Schmuggler schätzten die Lage wahrscheinlich anders ein …

 

Ich habe mir für heute eine Rundtour vorgenommen. Bei genauerer Betrachtung erweist es sich, dass sich das Riesengebirge nicht ganz so einfach umrunden lässt, wie ein Pappmaché-Berg auf einer Modelleisenbahnplatte. Auch wenn die beiden „natürlichen“ Straßenübergänge „Neuweltpass“ im Westen und Malá Úpa (Klein Aupa) im Osten nur 29 Kilometer Luftlinie auseinander liegen, ergäbe sich eine schier endlose Fahrtstrecke mit einer tödlichen Anzahl an Höhenmetern! Und was nun? Meine Rettung ist eine Passstraße, die es gar nicht gibt. Es ist der Spindlerpass. Geplant hatte man ihn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und er wurde auf tschechischem Gebiet auch in den 1920er Jahren fertiggestellt. Die so genannte „Sudetenstraße“ auf schlesischer Seite dagegen wurde mehrmals in Angriff genommen, aber nie gebaut. Nur eine aberwitzig steile, löchrige Baustellenstraße hat die Zeit überdauert. Auto- und Motorradfahrer haben davon nichts. Aber Fahrradfahrer nutzen die Querverbindung gern. Sei es als Mutprobe (abwärts) oder Konditionstest (aufwärts).

 

Zurück zum Neuweltpass. Ich lasse das verwaiste tschechische Grenzkontrollhäuschen hinter mir und behalte schon einmal den linken Straßenrand im Auge. Dort müsste als Stichstraße „meine“ Abzweigung auftauchen. Von hinten nähert sich mir ein undefinierbares Rauschen. Noch ehe ich mir darauf einen Reim machen kann, werde ich schon von einem ganzen Schwarm Rennradfahrer überholt, die sich in halsbrecherischem Tempo zu Tal stürzen. War in dieser Gruppe nicht sogar der eine oder andere Pferdeschwanz?  Ich glaube schon, kann aber im Moment nichts mehr nachprüfen, denn wie eine Fata Morgana sind die Rennsportler schon längst wieder verschwunden.

 

Dafür finde ich meinen Abzweig. Ich biege ab und werde an einer kräftigen Steigung auch gleich gefordert. Diese autofreie und menschenleere Straße hat den seltsamen Namen Terex. Sie ist gut asphaltiert und begibt sich ohne Umschweife in die 1000er Höhenregion. Irgendwann kommt ein kurzes Gefälle, das von einem weiteren Anstieg kompensiert wird. So geht es für mehr als zehn Kilometer weiter, wobei nach mehreren Abfahrten und Anstiegen sogar 1150 Höhenmeter erreicht werden. Dabei legt es die Straße gar nicht darauf an, viele Höhenmeter zu machen. Vielmehr weicht sie einigen Gipfeln aus und schmiegt sich geschmeidig an deren Hänge, so dass sich ein zickzackförmiger Verlauf ergibt. Gerade jene bewaldete Steilwand, die sich in östlicher Richtung vor mir aufbaut, macht klar, dass es im Riesengebirge noch deutlich höher geht. Übrigens: Wenn alles gut läuft, werde ich genau dort oben, kaum 3 Kilometer von hier, zur Mittagspause einkehren! Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

 

Ansonsten bietet die Terex-Straße vor allem Wald. Die Bäume links und rechts des Wegs stehen mal dicht beisammen, dann wieder aufgelockert. Die Ausblicke, die ich mir erhofft hatte, gibt es kaum. Das einzige Gebäude auf der Strecke, das „Jagdschloss“ Alfredka, ist so unscheinbar, dass ich glatt daran vorbeiradle. Das bedeutet nicht, dass ich die Landschaft nicht genieße! Wo kann man sonst schon auf hügeliger Strecke mutterseelenallein kilometerlang durch den Wald flitzen? Nur spektakuläre Sensationen darf man hier nicht erwarten.

 

Nun bleibt nur noch zu klären, was es mit „Terex“ auf sich hat. Die Forstverwaltung des Riesengebirges hatte sich in den 1970er Jahren entschieden, dieses Gebiet zu erschließen um das Holz zu ernten. Eine Straße sollte gebaut werden. Wie wichtig dieses Projekt war, lässt sich daraus ermessen, dass dafür extra aus dem Westen ein Bulldozer der Marke „Terex“ beschafft wurde. Auch wenn sich der „T-Rex“ wohl einige Male im Schlamm festfuhr, bewältigte er seine Aufgaben zur allgemeinen Zufriedenheit. Das beeindruckte die Anwohner offenbar derart, dass nun die ganze Straße Terex genannt wurde.

 

Terex ( ... heißt eigentlich ein Bulldozer!)
Terex ( ... heißt eigentlich ein Bulldozer!)

Gerade als es hier oben doch ein wenig langweilig zu werden droht, ist die Terex-Straße zu Ende. Links könnte ich hinauf zur Wosseckerbaude (Vosecká bouda) radeln, aber das wäre eine Sackgasse für mich. (Genau genommen ist die Route über die Wosseckerbaude auf den Gebirgskamm und von dort weiter über die Elbquelle und zur Elbfallbaude hervorragend ausgebaut und wäre gut fahrbar. Aber im Riesengebirge sind nur wenige Wege für das Fahrradfahren erlaubt. Die Routen in der Gipfelregion gehören leider nicht dazu!)

 

Also fahre ich rechts. Nach wenigen Metern komme ich an einer Brotzeit- und Bierstation mit dem Namen „Rübezahls Frühstücksplatz“ vorbei und begleite ab sofort das Flüsschen Mummel auf seinem Weg nach Harrachov (Harrachsdorf). Während ich fleißig Höhenmeter vernichte und mit meinen Bremsen gut zu tun habe, kommen mir immer wieder Wanderer und auch einige Fahrradfahrer entgegen. Der Weg an der Mummel ist sozusagen das Naherholungsgebiet und die Hauswanderstrecke von Harrachov. Wer sich nur die Füße vertreten will, wandert die 1,5 Kilometer aus der Ortsmitte zum Mummelfall. Ganz Verwegene schaffen sogar die zusätzlichen 5 Kilometer bis zum „Frühstücksplatz“. 

 

Wieder einmal bin ich glücklich, dass ich auf dem Fahrrad sitze. Als Wanderer wären mir auf dem langen Weg zum Frühstücksplatz vor langer Weile die Füße eingeschlafen! Ich will aber nicht ungerecht sein. Die Mummel ist ein reizvolles Flüsschen, das lustig über Felsen und Steinplatten springt. Man kann sich darin sogar die müden Wanderfüße kühlen oder mitten im Fluss auf einer der trockenen Steinplatten, umspült von tosendem Wasser, eine Siesta halten. Besonders beeindruckend ist der Mummelfall, wo das Wasser spektakulär für einige Meter in die Tiefe fällt und anschließend in tief ausgewaschenen Kesseln tost. Natürlich ist das eine ausgesprochene Touristenattraktion mit (Na klar, wir sind in Tschechien!) angeschlossenem Ausschank. Mithin ist hier viel Volk unterwegs. Ich stelle mein Fahrrad zur Seite, mische mich unter die Leute und mache meine erste Pause.

 

Der Mummelfall.
Der Mummelfall.

Es lässt sich an dieser Stelle nicht übersehen, dass ich meinen aktuellen Pausenplatz auch einfacher hätte erreichen können. Direkt vom Neuweltpass wären es auf schnellstem Wege kaum 10 Minuten gewesen, um in rasanter Fahrt hinunter an diesen Ort zu kommen. Meinen Ausflug über die Terex-Straße kann man daher wohl nur als Resultat meiner eigenen Dickköpfigkeit bezeichnen. Habe ich mir heute denn nicht schon genug Höhenmeter eingebrockt? Nach meiner ursprünglichen Idee hätte ich Harrachov gar nicht berührt. Vom „Frühstücksplatz“ wollte ich die offizielle Radroute an der Flanke des Plešivec (Eisberg) entlang nach Horní Mísečky (Schüsselbauden) nehmen. Doch schon bei der Routenplanung stellte sich heraus, dass dieser Weg derzeit eine Baustelle ist und damit offenbar unpassierbar. (Mapy.cz erwies sich wieder einmal als sehr zuverlässig!) Deshalb war es auch keine Überraschung für mich, dass ich vorhin an der Weggabelung einen massiven Bauzaun sah. Und so kam Harrachov ins Spiel. Natürlich wollte ich keineswegs „schummeln“ und damit wurde das Plus an Strecke (und Höhenmetern) eben zum Programm …

 

Allerdings lässt sich meinem Umweg durchaus ein strategischer Vorteil abgewinnen. Die schon zurückgelegten 30 Kilometer und die damit verbundenen Anstiege konnte ich als Test meiner Tagesform nutzen. Wäre es bis hier nicht so richtig rund gelaufen, böte es sich an, in Harrachov die sportliche Tour in eine kulinarische Reise umzuwidmen. An Gastronomie besteht in diesem Urlauberort ja nun wirklich kein Mangel! Auch der Rückweg zum Ausgangspunkt wäre von hier nicht gerade ein Staatsakt. Zur Not würde sogar eine grenzüberschreitende Eisenbahn fahren. 

 

Wer mich kennt, weiß, dass diese Überlegungen eher theoretischer Natur sind. Wenn es irgendwie geht, fahre ich natürlich weiter! Doch gerade bei so einem „Großprojekt“, wie ich es mir für heute vorgenommen habe, sind solche Rückzugsmöglichkeiten auch mental wichtig. Ich fahre leidenschaftlich gern solo. Doch genau deshalb muss ich meine eigenen Kraftreserven (und andere Risiken) jederzeit ganz genau im Blick behalten! 

 

Nach wenigen Minuten rolle ich am Mummelfall wieder los. Ich streife Harrachov nur ganz am Rande und verlasse den Ort wieder auf einer Straße, die ganz allmählich immer steiler wird. Locker verstreut stehen ein paar große Ferienheime am Straßenrand. Gleich hinter diesen Häusern, dort wo die Hänge aufwärts streben, befinden sich kleine Skilifte. In einem Vorgarten spielt eine große Gruppe von Grundschulkindern „Plumpsack“. Es muss die Zeit der Schulklassenfahrten sein. Ich habe die Gelegenheit all das in Ruhe zu beobachten, denn die Steigung hat mich fest in den Griff genommen. Die folgenden fünf Kilometer sind ein Ausdauertest. Stetig geht es bergauf. Aber es gibt auch Lichtblicke im wahrsten Sinne des Wortes. Ich überquere einige große Skipisten. Die Bäume weichen hier zurück und geben ein überwältigendes Panorama des südlichen Riesengebirgsvorlands frei. Allmählich nimmt sich der Anstieg zurück und endet an der Hofbaude (Chata Dvoračky). Auch hier gibt es einen herrlichen Ausblick und zusätzlich die Verlockung eines Kaltgetränks. Doch halt, dafür ist es noch zu früh!

 

Da ist er endlich, der weite Ausblick! So etwas gibt es bei uns in Brandenburg nicht ...
Da ist er endlich, der weite Ausblick! So etwas gibt es bei uns in Brandenburg nicht ...

Auf dem ultrasteilen Pfad gleich neben der Baude vernichte ich mit gequälten Bremsen die mühsam aufgebaute Höhe. Auf dem Gebirgssattel unter der Hofbaude kann ich mich östlich in den Wald durchschlagen. An dieser Kreuzung entdecke ich auch eine der fantasievollen Schutzhütten, die von Prager Architekturstudenten gestaltet wurden und die an verschiedenen Orten des Riesengebirges aufgestellt wurden. Kurios: Das Biwakieren ist eigentlich im Nationalpark verboten, doch diese Hütten sind ganz offensichtlich genau für diesen Zweck konstruiert!

(Das ist heute schon meine zweite Hütte. Die erste fand ich am Ufer der Mummel.)

 

Der folgende Waldweg trödelt recht unwegsam durchs Gelände, wobei er noch ein paar weitere Höhenmeter einbüßt. Unterhalb von Horní Mísečky trifft er schließlich auf die Landstraße.

 

Die Straße könnte mich bis hinauf zur Goldhöhenbaude (Vrbatova Bouda) und weiter bis zur Elbfallbaude (Labská Bouda) bringen. Genau das ist mein Plan. Von hier wären das 550 Höhenmeter am Stück! Immerhin ist dieses Stück durchgehend asphaltiert. Soll ich es versuchen? Ein bisschen Respekt habe ich schon vor meiner Courage. Zum Glück lässt sich die Entscheidung noch etwas aufschieben. Die nächsten 200 Höhenmeter bis Horní Mísečky sind Pflicht. Danach folgt die verzichtbare Kür. Übrigens bin ich jetzt an einem Ort, wo ein Umkehren kaum noch Sinn machen würde. Ich kann eigentlich nur noch weiter …

 

Die Fahrt hinauf nach Horní Mísečky erfolgt in stoischer Langsamkeit. Ein Höchstmaß an Gelassenheit ist jetzt auch deshalb notwendig, weil es hier Millionen lästiger Fliegen gibt, die mich in einer dicken Wolke umkreisen. Die Tierchen sehen aus wie gewöhnliche Stubenfliegen, reagieren aber viel langsamer. Jetzt wird mir klar, wie es Grimms „Tapferen Schneiderlein“ gelang, gleich sieben Fliegen auf einen Streich zu erschlagen. Das schaffe ich beinahe auch, wenn ich versuche, mit der rechten Hand die Fliegen auf der linken Hand zu erschlagen und umgekehrt. Ein lästiges Spiel, aber während der ganzen Fliegenklatscherei komme ich - ohne es richtig zu merken - schon in Horní Mísečky an.

 

Dieser Ort scheint nur eine einzige Existenzberechtigung zu haben. Er ist die Zufahrt zu einem der bedeutendsten alpinen Skigebiete der Tschechischen Republik. Deshalb sind seine wichtigsten Einrichtungen ein Großparkplatz und eine Reihe von Skiliften. Nur ein paar Ferienwohnungen runden das Bild ab. Jetzt Ende Juni dämmert der Ort im Sommerschlaf. Die Sonne drückt auf den Hauptplatz. Die Kellner des ersten Restaurants am Platze, der „Jilemnicka bouda“, langweilen sich offensichtlich. Und in einiger Entfernung rumoren Baufahrzeuge, die vom Bau weiterer Ferienwohnungen künden. Das alles registriere ich, während ich bei einer kleinen Brotzeit auf einer Bank sitze. Ich stelle mich selbst vor die Entscheidung: Will ich „da“ jetzt hoch? Es ist natürlich eine rhetorische Frage …

 

Flaute in der Gastronomie in Horní Mísečky ...
Flaute in der Gastronomie in Horní Mísečky ...
... gleich hier beginnt die Masaryk-Bergstraße.
... gleich hier beginnt die Masaryk-Bergstraße.

Denn „Da“ meint die Masaryk-Straße. Diese Straße ist das Beste, was das Riesengebirge für Fahrradfahrer zu bieten hat! Es gibt keinen Autoverkehr, aber dafür gleich zwei Belohnungen für den langen Anstieg, der Serpentine für Serpentine erkämpft werden will. Zum einen ist es der überragende Ausblick. Die Straße verläuft dazu in ihrem oberen Abschnitt frei an einer Bergflanke und wendet sich schließlich in einer atemberaubenden 180 Grad Kurve. Die Aussicht bietet einen erhabenen Blick auf allerlei Vorgebirge. So kann man sich (nach getaner Beinarbeit) die Zeit damit vertreiben, verschiedene Gipfel zu identifizieren und zu benennen. Aber auch wenn für dieses Spielchen die Muße fehlt, ist der Blick allemal spannender als der in eine nichtssagende Tiefebene. Die zweite Belohnung könnte ein Glas Bier sein, das wahlweise in der Goldhöhenbaude oder in der Elbfallbaude serviert wird.

 

Zu welchem Zweck diese gut ausgebaute Straße in den 1930er Jahren eigentlich errichtet wurde, bleibt übrigens im Dunkeln. Ihre heutige Bestimmung ist neben ihrer Rolle als Radsport-Herausforderung der Betrieb einer spektakulären Buslinie und die Unterhaltung der beiden Berghütten. Während der deutschen Besetzung versorgte sie sogar eine polare Forschungsstation und später ein Arktistrainingslager der Marine. Das ist ein Hinweis auf das raue Winterwetter hier oben und darüber hinaus auch eine sehr interessante Geschichte. Aber es ist eben nicht das Motiv für den Straßenbau! Zum Zeitpunkt ihrer Planung führte diese Straße einfach ins Nichts. Eine grenzüberschreitende Verbindung ist hier kaum sinnvoll und sie war wohl auch nie geplant. Über eine vermeintliche militärstrategische Bedeutung lässt sich natürlich fleißig spekulieren. Sie erscheint jedoch wenig schlüssig. Der deutsche Angreifer müsste, aus Schlesien kommend, ausgerechnet an dieser Stelle den steilsten, unwegsamsten und höchsten Teil der Bergkette überwinden, um in das Land einzufallen. Immerhin hätte er dann auf böhmischer Seite diese Straße, um bequem ins Tal zu kommen …  

 

(Heute wissen wir, dass die befürchtete Invasion kein Hirngespinst war. Sie erfolgte in Form der Übergabe der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich im Jahre 1938 auf Basis des Münchener Abkommens. Mit diesem kampflosen Akt waren das gerade für viele Millionen Kronen erbaute Grenzbunkersystem und natürlich auch die möglicherweise strategisch geplante Masaryk-Straße für die Tschechoslowakei quasi über Nacht verloren.)

 

Inzwischen habe ich mich die Masaryk-Straße hinaufgekurbelt. Dabei durfte ich gleich zweimal neidisch auf die Busfahrer sein, die mich überholten. Natürlich kamen sie zur Goldhöhenbaude hinauf, ohne übermäßig zu schwitzen. Aber vor allem haben sie auf dieser ausgesetzten Bergstraße einen der spektakulärsten Arbeitsplätze, den man sich denken kann!

 

Der Bus ist da!
Der Bus ist da!

An der „Todeskurve“ mache ich eine kurze Rast. Die Beine fühlen sich nach dem langen Anstieg etwas wackelig an, aber ich könnte auch behaupten, dass es der wunderschöne Ausblick ist, der meine Knie weich werden lässt. Unter den blauen Bergen in der Ferne kann ich sogar den Jeschken (Ještěd) ausmachen. Zum greifen nahe sind dagegen die Harrachsteine (Harrachovy kameny) und die Goldhöhe (Zlaté návrší). Beides sind rundliche Kuppen mit abwechslungsreichen Oberflächen aus strahlendgrünen Grasflächen, dunkelgrünem Buschwerk und silbergrauen Geröllfeldern. Nur noch wenige Meter sind es hinauf zur Goldhöhenbaude. Ich radle ohne Halt an ihr vorbei, denn die Strecke zur Elbfallbaude ist eine sanfte Abfahrt und damit aus sportlicher Sicht eine reine Formsache. Hier auf dieser Hochebene bin ich im wahrscheinlich schönsten Teil des Riesengebirges und ich versuche die Landschaft um mich herum mit allen Sinnen in mich aufzunehmen. Es gibt allerdings einen Sinn, der sich leider recht schnell in den Vordergrund drängt. Es ist mein Temperaturempfinden. Ohne körperliche Anstrengung ist es auf 1400 Metern Höhe empfindlich frisch. Da müssen sich die Augen beim Genießen eben ein bisschen beeilen! 

 

Ich bin übrigens keineswegs alleine hier. Mit mir sind auch viele Wanderer unterwegs, deren Ziel die Elbquelle, einer der Wasserfälle, der Kammwanderweg oder die Berghütten sein mögen. Bei einer dieser Hütten, der Elbfallbaude bin auch ich gerade angekommen. Hier herrscht ein buntes Gewimmel. Natürlich passt die Bezeichnung „Hütte“ in diesem Fall überhaupt nicht. Die Elbfallbaude ist vielmehr ein Berghotel in einem eigenwilligen, sehr polarisierenden Baustil. Fakt ist, dass es den Architekten gelungen ist, 79 komfortable Hotelzimmer mit herrlichem Blick ins Elbtal unterzubringen, ohne dass das umhüllende Gebäude als Fremdkörper aus der Landschaft herausragt. (Kritiker behaupten das Gegenteil, aber diese Leute fotografieren das Haus ausschließlich aus der Froschperspektive aus dem Tal. Klar, dass die 9 Etagen dann wie ein Wolkenkratzer erscheinen!)

 

Heute sind mir die architektonischen Details allerdings schnuppe! Mich interessiert nur das Restaurant. Und ich werde nicht enttäuscht: Ohne weitere Umstände werde ich an der Selbstbedienungstheke mit einem leckeren Szegediner Gulasch und einem herrlich prickelndem Pivo ausgestattet. 

 

Da sitze ich nun bei Mittag und Bier und kann es selbst kaum glauben. Ich habe den Höhepunkt meiner Rundroute durch Rübezahls Reich erreicht. Das Erstaunliche: Die Beine sind immer noch funktionsfähig und der Rest des Körpers pfeift auch noch nicht aus dem letzten Loch! Zwar liegt nun noch die Hälfte der Kilometer vor mir, aber es wartet nur noch eine einzige große Steigung, der Spindlerpass. Ich denke, dass ich mich auf dieses singuläre Hindernis gut fokussieren und damit mein Tagesziel auch erreichen kann. Eine nicht enden wollende Anzahl kleinerer Anstiege wäre mental deutlich schwieriger zu bewältigen …   Der sanfte Druck der Alternativlosigkeit tut ein Übriges. Ich kann gar nicht anders, als die Tour wie geplant zu Ende zu bringen.

 

Fakt ist aber auch, dass ich mir jetzt keine Extratouren mehr erlauben werde. Von nun an ist der direkte Weg der beste! 



Ausgestattet mit neuer Energie trete ich aus der Baude. Bei der Abfahrt lasse ich mir mehr Zeit, als notwendig. Die hochgebirgsartige Landschaftskulisse ist einfach zu beeindruckend! Endlich trenne ich mich von den Aussichten und mache mich auf den Weg. Ich fahre zunächst auf gleicher Route zurück nach Horní Mísečky. Das heißt zunächst eine sanfte Steigung bis zur Goldhöhenbaude und dann eine rasante Talfahrt nach Art des Herrn Masaryk. Es ergibt sich ein kleines Luxusproblem, dass ich heute schon mehrmals hatte: Will ich mich nicht ständig umziehen, darf ich an der Steigung nicht zu sehr ins Schwitzen kommen. Denn auf der folgenden langen Gefällestrecke droht akute Erkältungsgefahr!

 

An dieser Stelle muss ich ein kleines Geständnis machen: Ich fahre tatsächlich lieber bergauf als bergab! Der ungehemmten Schussfahrt ins Tal als vermeintlicher Lohn für einen anstrengenden Anstieg konnte ich noch nie viel abgewinnen. Das hohe Tempo ist mir eher suspekt, die Rüttelei auf dem meist nicht optimalen Fahrbahnbelag unangenehm und am Ende tun mir sogar die geplagten Bremsen leid. (Deren dann bald fällige Wartungsarbeiten bleiben sowieso an mir hängen!) Das mir ausgerechnet in einer der unübersichtlichen Haarnadelkurven der Linienbus begegnet, verbuche ich als Murphys Gesetz. Wie gesagt, ich gehe die Abfahrt ruhig an und damit verläuft auch diese Begegnung entspannt. Aber was wäre, wenn? Zum Beispiel mit 10 km/h mehr …    

(Mit 10 km/h mehr wäre ich längst an der kritischen Stelle vorbei gewesen, wenn der Bus gekommen wäre! Sagt der Optimist in mir!)

 

In Horní Mísečky wähle ich den kürzesten Weg nach Špindlerův Mlýn (Spindlermühle). Die Trasse trägt den Namen „Wasserwerksweg“ und ist erstaunlicherweise als Fahrradroute ausgewiesen. In Wahrheit ist diese breite und geröllreiche Schneise im Wald nur bei ausreichender Schneedecke und ausschließlich für Skipistenraupen passierbar. Dank meiner superbreiten Reifen, effektiver Bremsen und einem stets anschiebenden Gefälle improvisiere ich mich irgendwie hinunter. Mancher leise zwischen den Zähnen hervorgezischte Fluch gilt dabei den Berufsoptimisten des KČT (Klub tschechischer Touristen), die hier einen Fahrradweg sehen. (Wer lesen kann und die Sprache versteht, ist klar im Vorteil. Bei Mapy.cz steht doch deutlich: „sehr scharfer Abschnitt“!)

 

Auch an den ersten Häusern von Špindlerův Mlýn ist meine Vernichtungsorgie für Höhenmeter noch nicht vorbei. Ich sause gut asphaltiert vorbei an den Hotels „Harmony Club“ (dem 1980er Jahre Betonklotz mit einem dunklen Geheimnis) - und „Montana“ (vergleichsweise eleganter 1970er Stil) Richtung Elbtal. Nur die finale Runde ins Ortszentrum spare ich mir. Meine Trinkwasservorräte müssen noch nicht ergänzt werden und auf das Bad in der bunte Touristenmenge kann ich heute verzichten. Ich lande umgehend auf der Spaßmeile rund um die Basisstation des Medvědín-Lifts und habe damit doch noch mein Bad in der Menge. 

 

Dort, wo die beiden Elbe-Arme zusammenfließen, gelange ich auf die Spindlerpass-Straße. Bei einer kurzen Pause spreche ich mir Mut zu: Gut 400 Höhenmeter liegen in Form einer gleichmäßigen, aber langen Straßenrampe vor mir. Die Sonne hat sich inzwischen zu ihrer Nachmittags-Hochform gesteigert. Frieren werde ich also schon einmal nicht. Aber der Feuerball steht tief genug, dass die Bäume am Straßenrand die meiste Zeit Schatten spenden werden. Gut so! 

 

Dann setze ich mich mal in Bewegung. Im niedrigsten Gang, mehr geht heute beim besten Willen nicht mehr, kurbele ich mich Umdrehung für Umdrehung aufwärts. Irgendwann lässt mich ein lässig überholender Radfahrer wie eine Schnecke aussehen, die auf ihrer Schleimspur auf dem Asphalt klebt. Vielleicht wollte der Kollege auch nur nicht die Aufmerksamkeit der vielen Fliegen auf sich ziehen, die mich schon wieder umkreisen. (Ehrlich, ich hatte heute Morgen wirklich geduscht!) Nein, ich muss die Plagegeister jetzt ertragen. Erfahrungsgemäß halten sie sich nur bis zu einer bestimmten Höhe und durch pures Tempo kann ich ihnen jetzt leider nicht entkommen.  

 

Plagegeister.
Plagegeister.

Bäume links, Bäume rechts, in der Mitte ein fast auf der Stelle tretender Radfahrer. Gelegentlich ein Hinweisschild auf eine Baude, dann eine Parkbucht, dann wieder eine Kurve. Die Steigung zieht sich wie Kaugummi. Endlich tauchen am linken Straßenrand Häuser auf. Es sind die Vorboten der kleinen Siedlung um die Erlenbach-Baude (Erlebachova bouda). Und obwohl nun immer noch fast ein Viertel der Höhenmeter dieses Passes vor mir liegen, weiß ich, dass ich es geschafft habe. Die Strecke an den verschiedenen Berghütten vorbei ist abwechslungsreich und der letzte Anstieg zur Spindlerbaude (Špindlerova bouda) wirkt überschaubar. Kurz darauf stehe ich auch schon auf dem Vorplatz der Špindlerovka. Wieder, das ist das dritte und letzte Mal für heute, bin ich in den Bereich weit über 1100 Höhenmeter vorgestoßen und damit im Dachgeschoss des Riesengebirges. Das ist ein schönes Gefühl, das wieder einmal durch eine herrliche Aussicht gekrönt wird. In Richtung der Peterbaude (Petrova bouda) kann ich weit auf einige entfernte Gipfel sehen, während die Kleine Sturmhaube (Maly Sisak, 1439 Meter) gleich in meinem Rücken klarmacht, das das Riesengebirge auch noch ein wenig höher sein kann.

 

Endlich Hütten in Sicht! Bis zum Pass ist es nun nicht mehr weit.
Endlich Hütten in Sicht! Bis zum Pass ist es nun nicht mehr weit.
Ab jetzt nur noch Kleinigkeiten: An der Spindlerbaude ist der letzte große Pass geschafft!
Ab jetzt nur noch Kleinigkeiten: An der Spindlerbaude ist der letzte große Pass geschafft!

Ohne langen Aufenthalt am Spindlerpass stürze ich mich senkrecht nach unten. „Senkrecht“ stimmt natürlich nicht, aber die löchrige schmale Straße verläuft schnurgerade auf der steilsten Linie vom Gebirgskamm hinunter nach Polen. Wie schon erwähnt, ist diese Straße ein Provisorium aus der Zeit des abgebrochenen Baus der Sudetenstraße. Wie zu erwarten, haben meine Bremshände voll zu tun, während die Augen konzentriert den Asphalt abtasten, damit ich wenigstens den tiefsten Kratern ausweichen kann. Am Straßenrand erholen sich gerade ein paar Rennradler, die den mörderischen Anstieg offenbar lieber in Teiletappen zerstückelt haben. Sie rufen mir irgendetwas auf Polnisch zu, was ich als Anfeuerungsruf interpretiere. Schon kurze Zeit später komme ich an der Kreuzung zur eigentlichen Sudetenstraße zum Stehen. 

 

Kopfsprung ins Schlesische Becken: Diese Straße ist eigentlich nur eine provisorische Baustellenzufahrt aus den 1930ern.
Kopfsprung ins Schlesische Becken: Diese Straße ist eigentlich nur eine provisorische Baustellenzufahrt aus den 1930ern.

Zum Auftakt des letzten Abschnitts habe ich mir etwas ganz Feines herausgesucht. Allerdings wird sich dieses Highlight schon in wenigen Minuten als großes Fiasko erweisen... 

 

An dieser Stelle kann es nicht schaden, ein paar Hintergründe zu kennen: Mountainbike fahren im Riesengebirge ist nicht ganz einfach. Damit meine ich nicht die üblichen Hindernisse, wie Steigungen oder Geröllpisten. Vielmehr geht es um die Regelungen des tschechischen Nationalparks. Wanderer, Skifahrer und Bergbaudenschläfer haben ihre komfortablen Freiräume und Ausnahmeregelungen. Sie waren einfach schon längst da, als es darum ging die Naturschutzregeln auszutüfteln. Nur die Fahrradfahrer kamen historisch zu spät. Gut, man konnte sie kaum aus dem gesamten Gebirge fernhalten, während gleichzeitig Hotelgästeautos und Lieferfahrzeuge in die entferntesten Winkel rollen. Aber man machte die strenge Vorgabe in Form eines verbindlichen Wegenetzes für Fahrradfahrer. Bei den zulässigen Strecken handelt es sich durchweg um asphaltierte oder breit geschotterte Forststraßen, die viele weite Bögen schlagen und sich nur ganz ausnahmsweise in die Kammregion begeben. Bei meiner heutigen Rundtour habe ich mich strikt an die Verordnungen gehalten. Die resultierenden zusätzlichen Kilometer und Höhenmeter lassen sich gut als sportliche Herausforderung verbuchen. Es gibt sogar einen kleinen Vorzug der Regelungswut: Die freigegebenen Pisten sind ohne fahrtechnische Herausforderungen und damit für mich kein (zeitliches) Risiko.

 

Auf polnischer Seite stellt sich die Sache etwas anders dar. Die steil abfallende Nordwand der Sudeten bietet außerhalb offizieller Straßen kaum Möglichkeiten für den Radsport. Damit will ich nicht behaupten, dass polnische Naturschützer weniger streng als ihre tschechischen Kollegen wären. Aber wo man technisch ohnehin nicht fahren kann, gibt es auch nichts zu verbieten. Doch gerade in Polen gibt es ein ganz neues Phänomen: Spezielle Mountainbike-Routen, so genannte Single-Treks, sprießen aus dem Waldboden wie Pilze nach einem warmen Sommerregen. Auch am polnischen Fuß des Riesengebirges, knapp außerhalb des Naturschutzgebiets, gibt es einen solchen Rundkurs mit einer Gesamtstreckenlänge von immerhin 61 Kilometern! Einen Teil dieser Strecke konnte ich im Mai schon einmal unter die Reifen nehmen. Das hat riesigen Spaß gemacht, wenngleich ich mir schon bei meiner Frühjahrstour etwas mehr „Flow“ und eine Verkleinerung einiger Felsstein-Hindernisse gewünscht hätte. Da nun ein weiterer Teil dieser Mountainbikepiste praktisch direkt auf meinem Weg liegt, war schnell klar, dass sie Teil meiner heutigen Route wird. Vielleicht würden ja auf dem Abschnitt „Czart“ der Mountainbike-Route meine Wünsche in Erfüllung gehen. (Vielleicht hätte ich das Wort „Czart“ mir vorher einmal übersetzen sollen!) 

Und damit sind wir beim Fiasko! Kaum biege ich in den Singletrail ein, werde ich auch schon vom ersten Felsen gestoppt. Ok, das kann passieren. Ich sitze wieder auf, rumple ein Stück über die Geländebahn und stehe schon wieder. Die Geschichte wiederholt sich: Losfahren, stoppen, schieben, tragen, weiterfahren und wieder von vorn. Leider kommt das Absteigen, über Felsen balancieren und das Fahrrad über Hindernisse tragen für meinen Geschmack viel zu oft vor. Spaß will dabei nicht so recht aufkommen. Was ist nur los? Fehlt mir inzwischen die Energie für den Geländeparcours? Oder habe ich einfach einen teuflisch anspruchsvollen Streckenabschnitt erwischt? (Sein Name lautet übersetzt Teufel!) Wahrscheinlich ist es beides. Nach einer viertel Stunde Schinderei will ich einfach nur noch raus aus der Spur. Doch dafür muss ich bis zum nächsten kreuzenden Forstweg durchhalten. Auch der erweist sich als ausgesprochen grob und steinig, ist aber wenigstens fahrbar. 

An der Art, wie ich hier durchgerüttelt werde, bemerke ich gleich, dass ich mit zu viel Luft in den Reifen fahre. Bei meinem ungefederten Monsta-Bike ist der Reifendruck nämlich eine durchaus heikle Angelegenheit. Während es auf glatter Straße etwas mehr sein darf, wollen die Reifen in ruppigem Gelände lieber etwas pflaumig sein. Bisher waren die Wege und Straßen verhältnismäßig glatt oder mein „Popometer“ weniger empfindlich. Nun scheint das anders zu sein.

 

Viel schlimmer ist jedoch, dass nach dem Geländeritt die unteren vier Gänge meiner Fahrradschaltung nicht mehr reagieren. Irgendetwas muss sich verklemmt oder losgerüttelt haben. So ganz spontan kann ich den Fehler nicht finden. Eine Notreparatur ohne genaue Kenntnis des Problems ist mir zu riskant. Außerdem bin ich aus den richtigen Bergen schon heraus und habe nur noch gut 10 Kilometer vor mir. Da muss es einfach mit den verbliebenen Gängen gehen!

 

Die Fahrt auf den holprigen Waldwegen ist immer noch kein großes Vergnügen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ständig bergauf treten zu müssen. Offenbar hat dieser Weg mehr Anstiege als ich dachte.  Blöd, dass ich die nun im ungünstigen Gang bewältigen muss. Dazu kommt der Eindruck, dass sich allerlei blutsaugende und stechende Insekten für mich interessieren. Kurz gesagt, ich bin an meinem mentalen Tiefpunkt. Als dann eine weitere sandige Steigung kein Ende nehmen will, ziehe ich mir abrupt selbst den Stecker und werfe das Bike in den Wald. 

Nein, falsch! In Wirklichkeit ziehe ich die Bremsen und stelle mein Monsta zu Seite. Ich brauche einfach noch einmal eine Pause! Da ist es egal, dass ich schon so kurz vor dem Ziel bin!

 

Zuerst vernichte ich alle noch verbliebenen Lebensmittel und Getränke aus meinem Rucksack. Dann setze ich telefonisch einen hoffentlich nicht zu destruktiven Erlebnisbericht nach Hause ab. Und langsam, ganz langsam kehrt die Energie zurück. Vor der Entscheidung stehend, jetzt auf diesem abgelegenen Waldweg von Insekten aufgefressen zu werden oder weiterzufahren, entscheide ich mich fürs Fahren. 

 

Erstaunlicherweise geht die Forststraße bald in einen horizontalen Verlauf über. Die gerade noch schwergängige Fahrt wir leicht und fühlt sich beinahe schnell an. Die Bäume des Waldes fliegen nur so vorbei. Fröhlich grüßen andere Fahrradfahrer und Jogger verausgaben sich beim Waldlauf. Ich gewinne den Eindruck, dass dieser Wald am Fuß des Riesengebirges eigentlich eine ganz nette Outdoor-Location ist. Ein Forsthaus erscheint als erster Vorbote polnischer Zivilisation. Der Schein trügt nicht. Gleich darauf erreiche ich die ersten Häuser Szklarska Porębas. Ich bin am Ziel! Da ist es völlig egal, dass ich im Ort noch einmal aus dem Sattel gehen muss, um die letzten steilen Anstiege im falschen Gang zu bestreiten.


An das, was dann im Quartier passierte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Sicher habe ich etwas gegessen, geschlafen, geduscht und wieder geschlafen. Auf jeden Fall zählte ich ehrfürchtig die Kilometer und Höhenmeter zusammen (97 / 2840) und war stolz wie Bolle, es Rübezahl (und mir selbst) so richtig gezeigt zu haben! Die traumhaften Bilder der Riesengebirgslandschaft werde ich noch lange im Kopf behalten. 



Der zweite Teil der dieser Geschichte ist eigentlich der erste. Denn, auch wenn es mir keiner glaubt, ich starte meine Touren selten unvorbereitet. Diese Mega-Tour macht da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Heute war ich sogar Mega-gut vorbereitet. 

 

Die Eckdaten dieser Riesen-(gebirgs)-Rundfahrt waren schon lange klar: 2x sollte es über den Gebirgskamm gehen. Die Ausblicke der reizvolle Gipfelregion wollte ich auf jeden Fall genießen und die traumhafte Masaryk-Serpentinenstraße, die nur für Fahrräder und Linienbusse zugelassen ist, lässt man sich auch auf keinen Fall entgehen. Schon die erste schnell hingeworfene Skizze auf Komoot brachte es auf weit mehr als 2000 Höhenmeter. Das würde auf jeden Fall eine Tour der Superlative für mich werden. Machbar? Vielleicht! Eine Herausforderung? Ganz bestimmt! Ein bisschen mehr Planung als sonst kann da sicher nicht schaden!

 

Schnell ist klar: Mein ganzes Projekt steht und fällt mit der eigenen Motivation! Dieses scheue Wesen sollte auf dem ganzen Weg keine Möglichkeiten bekommen, sich aus dem Staub zu machen. Hilfreich ist also eine gewisse Dramaturgie der geplanten Highlights und sportlichen Belastungen. Mein Startpunkt in Szklarska Poręba erweist sich damit als Glücksfall. Von hier ergibt sich eine ganz von selbst eine beinahe optimale Streckenführung. Es beginnt mit einem Abschnitt zum Aufwärmen, dann kommen ein erster Test der Tagesform und eine Exit-Möglichkeit nach einem Drittel der Distanz. Nach einigen weiteren Herausforderungen wird der Höhepunkt der Tour schon nach der Hälfte der Kilometer erreicht. Er verspricht ein hochattraktives Fahrerlebnis, ist aber gleichzeitig kein Muss. Das heißt, ich könnte die Masaryk-Straße ohne großen Gesichtsverlust auch weglassen. Schön auch, dass nach der Mittagspause nur noch eine einzige - allerdings mächtige - Steigung auf dem Plan steht. Fest zum Schluss ist der Mountainbike-Trail als Motivationsbooster eingeplant. Letzteres, erwies sich bekanntlich als Blindgänger, aber das war am Ende zu verschmerzen! 

 

Die Abfolge der Streckenhighlights und damit das Management der eigenen Antriebskräfte stimmt also. Aber meine Flüssigkeitsversorgung könnte zum Problem werden. Zwar fließt das Wasser aus jedem Wasserhahn überreichlich, doch leider gibt es keinen Wasserhahn am Fahrrad. Bedauerlicherweise wiegt ein lächerlicher Liter Wasser gleich ein ganzes Kilo. Und damit offenbart sich ein unlösbares Dilemma. Mein Wasserverbrauch würde an schweißtreibenden Steigungen enorm sein, während gerade hier jedes unnötige Gramm Gepäck ein Gramm zu viel ist. Kurz erwäge ich (per Auto) einige Wasserdepots an der Strecke anzulegen, entscheide mich dann aber am Ende dagegen. Die Route führt mich schließlich durch mehrere touristische Orte, wo ich nach Bedarf Getränke kaufen kann. 

 

Was passiert, wenn etwas passiert? Vor den geistigen Augen stets besorgter Familienmitglieder bauen sich erstaunlicherweise immer die gleichen Bilder auf. Der einsame Radfahrer stürzt schwer und vegetiert anschließend für Stunden auf dem harten Asphaltboden. In diesen Alpträumen kommt niemand dem Verletzten zu Hilfe! So etwas nennt sich wohl „Worst-Case-Szenario“. Es tritt zwar nicht ein, aber es beruhigt, folgendes zu wissen: In Tschechien und Polen gibt es hervorragende Ärzte. Das Riesengebirge ist eine ausgesprochen touristische Region und ich fahre nur auf größeren und bekannten Wegen. Die Wahrscheinlichkeit, einem Ersthelfer direkt vor die Füße zu fallen, ist hoch. Schließlich habe ich auch noch zwei einsatzbereite Handys mit Notfallkontakten bei mir.

 

Der größte anzunehmende Unfall ist für mich nicht das schwierigste Problem. Viel kritischer sind jene nichttödlichen Ereignisse, bei denen der Fahrer am Ende seinen Kopf noch auf den Schultern und nicht unter dem Arm trägt und auch das Fahrrad noch mehr oder weniger in einem Stück zusammenbleibt. Diese Ereignisse könnten schnell zu schwierigen Entscheidungen und letztlich zum Abbruch der Tour führen.  Egal ob es sich dabei um technische Katastrophen, wie zum Beispiel eine verkorkste Gangschaltung oder einen geplatzten Reifen handelt, oder ob irgendein Teil des auch nicht mehr taufrischen Körpers Protest einlegt: Wichtig ist, sich schon vorher klar zu machen, dass die ganze Expedition durch solche Vorkommnisse eben einen ganz neuen Verlauf nehmen könnte.

  

Mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs lässt sich im Fall des Falles leichter über eine Problemlösung nachdenken. Alle Freunde der improvisierten Reparatur am Straßenrand, die nun Tipps zu Notreparaturen und die ultimative Checkliste an Ersatzteilen und Werkzeugen lesen wollen, muss ich leider enttäuschen. Meine wichtigsten Notfallwerkzeuge heißen Handytelefon, Kreditkarte und genügend Zeit. Dazu gesellt sich noch eine Powerbank, damit dem Handy nicht der Saft ausgeht, ein wenig Bargeld in tschechischer und polnischer Währung und ein solides Fahrradschloss. Im schlimmsten aller Fälle müsste ich mir ein ungeplantes Quartier nehmen um am nächsten Tag mit Bus und Bahn zu meinem Auto zu kommen, um das Fahrrad-(Wrack) zu bergen. 



Hinweis: Einige Weblinks im Text verweisen auf Websites in polnischer oder tschechischer Sprache.

Ich empfehle, die Übersetzen-Funktion des Webbrowsers zu nutzen!


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