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Heute schon geduscht?

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Zu unchristlicher Zeit werde ich dort durch das Rattern von LKW-Motoren geweckt. Da muss ein Irrtum sein. Oder sollte mein Übernachtungsplan doch einen Fehler haben? Es scheint, als diene dieser Parkplatz als morgentlicher Sammelpunkt für alle Bauarbeiter der Region. Wenn das so ist, drehe ich mich gleich noch einmal um, denn spätestens zu Schichtbeginn sind sie weg. Nein, sie fahren nicht weg. Weitere Fahrzeuge rangieren und klappernd werden Werkzeuge ausgeladen. Irgendwann ziehe ich entnervt meine Plane beiseite und blicke direkt auf … Eine Baustelle! Gestern war da ganz sicher noch keine Baustelle! Ein paar Arbeiter sind damit beschäftigt, das tadellose Stahlgeländer der Fußgängerbrücke zu demontieren und durch ein ebenso tadelloses neues Geländer zu ersetzen. Dieser Vorgang - dass kann ich jetzt schon berichten - wird einen guten Teil des Tages in Anspruch nehmen. Die Überraschung ist wechselseitig. 


Die Bauarbeiter konnten nicht damit rechnen, dass eine schlaftrunkene Berliner Bulette aus diesem Lastenanhänger kriecht. Staunend sehe ich mir die Arbeiten an und komme mit einem von ihnen ins Gespräch. Wir plaudern über Urlaub und darüber, dass die fernen Ziele immer viel reizvoller sind, auch wenn man es zu Hause so schön hat. Dann bewundert er noch meinen „Luxuscaravan“. Nur über den Sinn seiner aktuellen Tätigkeit kann er mir keine Auskunft geben. Auftrag ist halt Auftrag.

 

Es hat zu tröpfeln begonnen und ich frühstücke erst einmal ausgiebig. Nach dem Frühstück regnet es immer noch. Auch das Regenradar auf dem Handy langweilt mit immer neuen Schauergeschichten. Werde ich heute noch in den Sattel kommen? So ein harter Kerl bin ich nun doch nicht, dass ich in strömendem Regen losfahren würde. 

Im Grunde war die Regenprognose schon in Berlin nicht die beste, als ich gestern losgefahren bin. Ich baute eben auf mein Wetterglück. Und jetzt sitze ich hier auf dem Erzgebirgskamm im Auto, daddle lustlos auf dem Handy und sehe den dicken Regenwolken dabei zu, wie sie ganz unmerklich über die Landschaft ziehen.

 

Hört das denn gar nicht auf? Doch! Jetzt tropft es nur noch vereinzelt. Als schließlich nur ein feines Nieseln in der Luft liegt, breche ich auf. Das genaue Ziel ist noch unklar. Bestimmt zieht es mich wieder auf die tschechische Seite. Die steile Flanke des Erzgebirges hinunterzubrausen, wäre doch schon einmal ein Plan. Dann müsste ich anschließend wieder hinaufstampfen wie eine alte Dampflok und hätte meine heutige sportliche Herausforderung. 

„Einfach machen!“ feuere ich mich an und biege in den schmalen Pfad ein, der direkt zum Grünen Graben führt. Es lässt sich nicht vermeiden, dass hohes Gras über meine Beine und Füße streicht. Damit sind die Schuhe in Sekunden nass. Gut, dann muss ich wenigstens darauf keine Rücksicht mehr nehmen! Nach kurzer Zeit verlasse ich den Pfad am Graben wieder. Dann taste ich mich unter triefenden Bäumen auf einem matschigen Waldweg voran. Pünktlich als die Landschaft offener wird, überrascht mich ein neuer Regenschauer. Das ist bestimmt ein letztes Rückzugsgefecht von Petrus! Immerhin bietet ein lichter Baumwipfel die Illusion von Regenschutz.

 

Als ich mich zur Radmagistrale 23 auf böhmischer Seite durchschlage, bleibt es endlich trocken. Die Strecke folgt erst einmal meiner gestrigen Route und ist Routine. Hier auf dem Asphalt kann ich ein schönes Tempo vorlegen und mich damit innerlich erwärmen. Unterhalb des Hassbergs folge ich der asphaltierten Fahrradstraße. Sie dampft vom Regen und führt mich durch einen herrlichen Mischwald, der für mich einen Baumtunnel bildet. Rechts von mir muss der große Stausee sein. Doch hier, mitten im Wald, wird der Blick nicht freigegeben.

 

Die Landschaft öffnet sich. Der See liegt nun in einiger Entfernung und lässt sich immer wieder einmal sehen. Um mich herum stellt sich das Erzgebirge als Hügelland dar, auf dessen Erhebungen sich Windrotoren träge drehen. Übrigens ist das in der Tschechischen Republik ein seltener Anblick. Es scheint, dass die Tschechen besser rechnen können als wir und wissen, dass sich diese Art der Energiegewinnung nur ausnahmsweise lohnt. Hier auf dem windreichen Erzgebirgskamm könnte eine dieser Ausnahmen gelten. 

 

Mein „Monsta“-Bike hat mich inzwischen an die Verbindungsstraße zwischen Vejprty und Kadaň gebracht. Viel Mühe hat mich das nicht gekostet, denn auf den letzten Kilometern ging es meistens abwärts. Diese Straße ist zwar nicht gerade eine Autobahn, doch ein paar Autos zischen vorbei und erinnern mich daran, dass es auch so etwas wie motorisierten Verkehr gibt. Weil ich bis jetzt fast nur auf gesperrten Strecken unterwegs war, hatte ich das schon ganz vergessen.

 

Meiner Entscheidung, was ich mit dem verbleibenden halben Tag anfangen werde, bin ich immer noch nicht nähergekommen. Dafür drängt sich aber ein gut verdrängtes Kriterium wieder in den Vordergrund: Eine dicke schwarze Wolke am Himmel verheißt nichts Gutes. Ich kalkuliere Zugrichtung der Regenwolken und versuche - weil ich keine neuen digitalen Daten bekomme - mich an das Regenradar vor einer Stunde zu erinnern.  Und ich entscheide mich zur Flucht. Wenn ich mich so schnell wie möglich in östlicher Richtung bewegen würde, könnte es gelingen, dem Regen auszuweichen.



So trete ich ordentlich in die Pedale. Am höchsten Punkt auf 875 Metern Höhe, dort wo die Amateurfunkstation mit ihren langen Antennen steht, fallen die ersten schweren Tropfen. Noch vor dem nächsten Ort - Výsluní - bin ich richtig nass. Der Aufenthalt im schützenden Buswartehäuschen ist nun auch nicht mehr zwingend. Ohnehin ist das Wartehäuschen schon ausgebucht. Ein Kollektiv von Straßenarbeitern hat sich darin zurückgezogen. Doch nur einen Kilometer weiter werfe ich das Handtuch. Inzwischen regnet es Frösche und Quallen. (Hunde und Katzen wären zu niedlich.)  

 

Ich komme mir vor wie in einer Waschmaschine. Buchstäblich keine einzige Textilfaser an meinem Körper bleibt trocken. Meine größte Sorge ist, dass mein Handy funktionstüchtig bleibt. Es liegt mehrfach in meine Windjacke eingewickelt im Rucksack. (Prioritäten müssen gesetzt werden und die Jacke ist ohnehin nicht so wasserdicht, wie sie aussieht!) Ohne digitale Navigation stünde mir eine zermürbende, weil orientierungslose Rückfahrt bevor. Auf jeden Fall könnte ich jetzt einen Motivationsschub vertragen … 

 

Stattdessen stehe ich nun wie ein begossener Pudel unter einem schwach belaubten Baum. Der gibt sein bestes, die Regendusche ein wenig abzumildern. Um ehrlich zu sein: In seinem Arbeitszeugnis würde stehen: „Er hat sich redlich bemüht.“ Lange werde ich hier nicht stehen können und ein besserer Schutz ist nirgends zu finden. 

Auf einer Weide in meinem Blickfeld stehen braune Kühe. Es sind große schwere Tiere mit langem, klatschnassen Fell. Die Wassermassen von oben scheinen sie nicht zu beeindrucken. Ruhig und widerkäuend stehen sie da, genauso wie es nun einmal die Art der Kühe ist. „Was die Kühe können, kann ich auch!“, mache ich mir Mut. Dabei meine ich nicht das Widerkäuen, sondern die Regentoleranz. So schwinge ich wieder aufs Rad und bekomme zur Dusche von oben noch den Wasserstrahl des Hinterrades auf den Popo. 

 

(Jaja, ich habe auch schon von der neuartigen Erfindung der so genannten „Schutzbleche“ gehört. Wer weiß, vielleicht habe ich irgendwann auch so eine futuristische Einrichtung am Fahrrad?)

 

Tatsächlich lässt der Regen nach einiger Zeit nach und hört schließlich ganz auf. Nun ziehen dicke Dunstschwaden über die Wiesen am Rand der Straße. Auf meiner Regenfahrt bleibe ich übrigens ganz unbehelligt von Autos. Meine Landstraße war nämlich schon in Výsluní als baustellenbedingte Sackgasse ausgewiesen. Einheimische Autofahrer ignorieren so etwas gern einmal. Doch hier fährt wirklich kein Wagen. Das spricht dafür, dass die Sperre recht hermetisch ist. Ob das auch für mich zum Problem wird? 

 

Doch zunächst wird der gleichmäßige Verlauf der Landstraße durch ein tiefes Kerbtal unterbrochen. Der kleine Prunéřovský potok, ein Bach der gleich vier verschiedene deutsche Namen hat (Brunnersdorfer Bach, Wistritzer Bach, Preßnitzer Bach, Turtschinkenbach), hat es in die Landschaft geschliffen. Malerisch senkt sich die Straße in einer engen Kurve in das Tal hinunter, überquert eine Brücke und zieht auf der anderen Seite wieder hinauf. Süße kleine Wochenendhäuschen balancieren auf winzigen Vorsprüngen in der Bergflanke und bieten ihren Bewohnern damit einen gewaltigen Tiefblick in die Schlucht. Ach ja, auf der gerade erwähnten Brücke fehlt die Straße samt Unterbau komplett. Es bewahrheitet sich jedoch einmal wieder die alte Fernradlerweisheit, dass es für ein Mountainbike eigentlich immer ein Durchkommen gibt.

 

Langsam sollte ich mir Gedanken machen, wie ich wieder zurück auf den Gebirgskamm und damit zurück zu meiner Basisstation komme. Warum nicht rasch ein paar Höhenmeter vernichten, die anschließend freudig wieder errungen werden wollen?

 

Der Wald und eine Talkerbe nehmen mich in die Arme und lassen mich rasant vorwärtskommen. Kein Wunder, es geht ja bergab! An einem hübschen kleinen Teich bei einem Forsthaus sortiere ich meine nassen Sachen und meine Gedanken. Ein einzelner schüchterner Sonnenstrahl - er wird der einzige heute bleiben - sieht mir dabei zu. Wenig später kommt noch ein Stausee mit nostalgischer Mauer und schon bin ich im Tal der Chomutovka. Wie der Name schon vermuten lässt, könnte ich talwärts dem Flüsschen folgen und gelangte nach Chomutov (Komotau). Das Tal und der Wald drumherum bilden das Naherholungsgebiet für die graue Industriestadt. Konsequenterweise sind die ehemaligen Wassermühlen (Es gab mindestens zwei.) heute zu Ausflugsgaststätten umfunktioniert. Nun ist Chomutov leider nicht Český Krumlov* (Krumau an der Moldau), sondern eher das Gegenteil. Deshalb wende mich lieber wieder bergwärts.

 

*) Für alle, die es nicht wissen: Český Krumlov ist eine wahre Puppenstube. Die malerische Kleinstadt in Südböhmen verfügt über verwinkelte Gassen, liegt in einer Flussschleife der Moldau und wird von einer herrlichen Burg gekrönt. In Chomutov ist es dagegen eher so, dass ein winziges sehenswertes Stadtzentrum von Plattenbauten und abrissreifen Industrieanlagen eingekesselt wird.  

 

Die steile Auffahrt sorgt für innere Wärme und in der Folge trocknet sogar die Kleidung. Ein weiterer schöner Stausee und ein paar verstreute Felsen am Wegesrand sorgen für eine kleine Abwechslung. Nur die Steigung will kein Ende nehmen. Ohne Erbarmen zieht sie immer weiter aufwärts, bis der Erzgebirgskamm erreicht ist. Zur Erinnerung: Die tschechische Seite ist die Steile Seite des Erzgebirges. Während der Anstieg in Deutschland mit seinen unzähligen Hügelchen mehr als 30 Kilometer braucht, um zum Gebirgskamm zu trödeln, läuft es hier anders: Aus der Tiefebene zu den höchsten Punkten braucht es kaum 10 knackige Kilometer, die allesamt nicht zu Scherzen aufgelegt sind.  

 

Irgendwann stoße ich wieder auf einen markierten Weg. Hier ist es kein geringerer als der Europäische Fernwanderweg E3, der immerhin vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer führt. Für mich ist er das Zeichen, dass ich nun die Gipfelregion erreicht habe. Es bleibt zwar bergig, aber der Hauptanstieg ist geschafft! Wenig später liegt das Dörfchen Kalek vor mir, das sich gemütlich zwischen ein paar Hügel einkuschelt. Die Landschaft hier oben wirkt freundlich und keineswegs rau. Kaum vorstellbar, dass hier im Winter ein eisiger Wind über den Erzgebirgskamm streift.

 

In Kalek gelange ich auch wieder auf den offiziellen Radweg Nr.23, die „Erzgebirgsmagistrale“. Und ich habe auch schon eine Idee, wie es weitergeht. Ich werde auf der 23 noch ein Stück nach Osten radeln und schlage mich dann durch das Telčské údolí (Töltschtal) hinunter zum Flüsschen Načetínský potok (Natzschung). In dessen Begleitung komme ich dann fast bis zum Ausgangspunkt meiner Tour zurück.

 

Erst einmal muss ich jedoch Kräfte sammeln.  Noch einmal steht ein kräftiger Anstieg an, der gemeinerweise von hier unten in seiner ganzen Länge einsehbar ist. Kaum sind die ersten Umdrehungen gekurbelt, reißt mich das Telefon aus dem Tritt. Der Wasserinstallateur möchte etwas zu seinen morgigen Arbeiten absprechen. Ach ja, morgen. Da werde ich schon wieder Bauhelfer und Baustellendirektor in einer Person sein!

 

Der erzwungene Stopp hat aber auch ein Gutes. Jetzt wo ich nun schon einmal abgestiegen bin, kann ich die Landschaft um mich herum noch einmal in vollen Zügen in ich aufnehmen. Und um mich herum ist ein weites grünes Hügelland. Der Himmel ist nicht gerade blau, doch der Regen hat für heute endgültig aufgegeben. Es ist nicht zu warm und nicht zu kalt. Am Wegesrand blühen dicke Lupinenbüsche aus Leibeskräften. Sie bilden einen farbig leuchtenden Vordergrund für ein kleines weißes Kirchlein, das malerisch etwas abseits des Orts auf einer Anhöhe steht. Schön ist es hier! 

 

Nachdem der Anstieg abgearbeitet ist, zeigt mir das Erzgebirge noch einen kleinen Teich. Warum sich das Wasser ausgerechnet in den Höhenlagen sammelt und nicht einfach ins Tal abläuft, wird mir immer ein Rätsel bleiben.  

Das Töltschtal gilt als naturbelassen und wild. Der Forstweg hinunter ist aber durchweg akzeptabel. Dort wo sich die Schlucht etwas weitet, muss die Siedlung Gabrielina Huť (Gabrielahütten) gestanden haben. Heute sieht man nur noch ein kleines Wasserstaubecken. Irgendwo in den Büschen muss auch noch eine einsame Hausfassade stehen. Zielstrebig führen das Töltschtal, sein gleichnamiger Bach und mein Weg hinunter zur Natzschung. Obwohl ihr tschechischer Name - Načetínský potok - mit dem Wort „Bach“ endet, ist sie ein richtiger kleiner Fluss. Sie sprudelt und gluckert über die Steine und ich holpere an ihrem Ufer einen schmalen Weg entlang. Flüsschen und Staatsgrenze passiere ich später auf einem schmalen Steg, der nicht sehr offiziell aussieht.

 

Die letzten Kilometer sind Landstraßenroutine. Auf meinem Parkplatz erwartet mich schon meine rollende Basisstation.


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