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Reise in die Waschküche

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Turbulente Zeiten sind im Alltag unserer Familie eingezogen. Nicht das die Welt nicht schon genug Kopf stehen würde. Völlig unverhofft bauen sich meine liebe Frau und ich ein neues Nest. Es ist ein Dachwohnungsnest in Tinas alter Heimat vor den Toren Berlins. Zwischen Handwerkern mit wenig Zeit, aber großzügigen Preisvorstellungen bleibt für uns viel zu organisieren und noch mehr selbst zu machen.

So ist es plötzlich Sommer geworden, ohne dass ich auf eine größere Tour gegangen wäre. Keine Sorge, abstinent lebe ich in Bezug auf das Radfahren nicht. Ein Sonntag auf dem Oderradweg, die 4- Stunden-Runde in die Märkische Schweiz oder eine morgendliche Spritztour zum Baden im nahegelegenen See sind allemal drin. Doch richtige Fahrradtouren sind das natürlich nicht. Ganz langsam bekomme ich Entzugserscheinungen. Da kann es nur ein Rezept geben … 


Ich eise mich für zwei Tage von der Baustelle los und dirigiere die Handwerker notfalls per Mobiltelefon. Mein Ziel steht schon fest: Das Schwarzwassertal im Erzgebirge, das mich im März mit Schnee und Eis in die Schranken gewiesen hat, will endlich erobert werden.

 

Ein Frühaufsteher war ich noch nie. Im Gegenteil, ich habe mich inzwischen zu einem Fan der 16-Uhr-Philosophie entwickelt. Nein, das heißt nicht, bis zur Kaffee-und-Kuchen-Zeit in den Federn zu liegen. Viel mehr bedeutet es, ganz stresslos erst gegen 4 Uhr nachmittags am Start zu sein und trotzdem noch eine feine Fahrradrunde zu absolvieren. Mindestens in den Hochsommermonaten, wo es noch lange hell ist, scheint diese Strategie aufzugehen. 

 

Somit liege ich ganz gut in der Zeit, denn das digitale Foto mit Monsta-Bike in Startposition landet mit der Zeitangabe 15:47 Uhr auf dem Speicherchip. Ich beginne - wie schon im März - am südlichen Ende des Tals. Tiefe nasse Wolken hängen in der Luft, als ich auf der Schotterstraße losrolle. Wenigstens regnet es nicht, doch irgendwie sieht das Wetter nach Waschküche aus. Mein Weg teilt sich das enge Tal mit der Schwarzen Pockau. Beide werden sich nicht einig, wer nach rechts und wer nach links gehört und so wechseln sie gern einmal die Seiten. Zum Glück für mich gibt es hölzerne Brücken. Der Schotter auf der Fahrstrecke erlaubt ein ordentliches Tempo. Eigentlich rolle ich nicht, sondern ich fliege. Ich genieße es einfach, endlich von der Leine gelassen zu sein und richtig Gas zu geben. 

 

Viele Wanderer, die ich in Aufregung versetzen könnte, gibt es nicht. Schon nach kurzer Distanz bin ich in dem Bereich, wo hohe Felsen den Weg säumen. Sie hören auf Namen wie „Nonnenfelsen“ oder „Katzenstein“. Beim letzten Mal musste ich hier umkehren. Damals gab es eisige Skulpturen am Wegesrand, die vom Quellwasser geschaffen wurden und eine Menge nassen Schnee unter den Rädern. Dadurch wurde ich ausgebremst. Davon kann heute keine Rede sein. Trotzdem stoppe ich jetzt noch einmal ganz freiwillig, um mir die Felsen anzusehen. Es sind gewaltige, grob zerklüfte Strukturen aus Gneisgestein. Wenn ich mich richtig entsinne, sind einige von ihnen anerkannte Kletterfelsen. Fasziniert tasten meine Augen die strukturierte Oberfläche ab. Sie bleiben an einem quadratischen Stein, groß wie ein Wohnzimmer hängen. Er scheint in beachtlicher Höhe frei über mir zu schweben, ruft mir etwas von „I kumm glei nunner!“ zu. Da mache ich mich lieber schnell wieder auf den Weg! 

 

Ein wenig später weitet sich das Tal. In den 1960er Jahren hatte man den Plan, hier eine Talsperre zu errichten. Es wurde wohl schon damit begonnen, Dörfer leer zu ziehen und einige Böschungen zu modellieren. Dann gab man das Projekt überraschend auf. Vielleicht haben die Ereignisse um die Niederschlagung des Prager Frühlings eine Rolle gespielt. Der See hätte die Grenze zur Tschechoslowakei sozusagen überspült. Damit wären für das Projekt eine Menge Abstimmungsaufwand und guter Wille zwischen den Nachbarländern erforderlich gewesen. Doch das nötige Vertrauen und die Gesprächsbereitschaft waren nach 1968 wohl nicht mehr vorhanden. Schließlich waren die Tschechen von ihren sozialistischen „Bruderländern“ gerade gedemütigt und gewaltsam auf Linie gebracht worden. 

 

Jetzt radle ich auf dem Grund des nie realisierten Stausees. Er besteht aus einer weiten flachen Wiese. Üppige Lupinen blühen am Wegesrand und mitten durch die Ebene fließt die Schwarze Pockau. Praktisch direkt im Nichts, im Zentrum der Wiese gibt es eine schöne, grob gemauerte Steinbrücke über den Bach. Diese Brücke überquere ich jetzt. Dann erklimme ich mit meinem Bike die imaginäre Uferböschung des Talsperrensees und mache mich auf die Suche nach dem „Grünen Graben“. Das ist ein künstlicher Wasserlauf, der horizontal einige Meter höher als die Schwarze Pockau verläuft. Er ist ein historisches Wasserbauprojekt, das Wasser aus der Schwarzen Pockau herausleitete, um es als Antriebswasser für verschiedene mechanische Einrichtungen in einem Bergwerk einzusetzen. Dazu musste der Graben immerhin eine Länge von 8 Kilometern haben!  Mich reizt wie üblich eher der schmale wurzelige Pfad entlang des vielleicht 1 Meter schmalen Wasserlaufs als der Graben selbst. 



Leider machen sich ausgerechnet hier ein paar Baustellenschilder wichtig. Doch die Erfahrung lehrt, dass um diese Zeit nicht mehr gearbeitet wird und kein größeres Hindernis als ein löchriger Bauzaun zu erwarten ist. So ist es tatsächlich. Der Bauzaun kommt nach etwa einem Kilometer und ist schnell überwunden. Mich zieht es einen schlammigen Weg hinauf zur Mothäuser Heide.

 

Laut Wikipedia ist das ein Moorgebiet, dass man früher einmal trockenlegen wollte. Als das scheiterte, drehte man den Spieß um und erklärte die Landschaft schon 1911 (!) zum Schutzgebiet. Das Totalreservat ab 1960, von dem das Internetlexikon dann weiter schwärmt, hatte wohl einen anderen Grund. Mir fallen im Vorbeifahren die massiven Tore an den Zufahrtswegen auf. Schwere Eisenträger sind in den Boden betoniert. An einigen hängen starke Ketten. Das alles wirkt so verrostet, dass es gut und gerne 50 oder 60 Jahre auf dem Buckel haben könnte. Nein, so sicherte die DDR kein Naturschutzgebiet. Nach etwas Recherche im Internet finde ich später den entscheidenden Hinweis. Die Sowjetarmee betrieb hier einen kleinen Militärübungsplatz. Da war der Zutritt für Otto Normalbürger selbstverständlich streng verboten!  „Totalreservat“ kann man das wohl auch nennen …

Für mich gibt es in der Mothäuser Heide hauptsächlich einsame, lange und gerade Wege durch eine satt grüne Landschaft. Manche der Wege sind voller schlammiger Pfützen und knifflig (wenn man halbwegs trockene Schuhe behalten möchte), andere fast trocken und schnell. Am Rande der Heide mache ich noch einen kurzen Stopp an einem der vielen Teiche. Dieser Teich und alle seine Nachbarn haben etwas rätselhaftes. Sie verfügen jeweils über eine Insel aus Felssteinen. Darauf kann ich mir keinen Reim machen.

  

Über den Zeuggrabenweg gelange ich zufällig auf einen Moorlehrpfad. Den hölzernen Steg soll man bestimmt nicht mit dem Rad befahren, aber eine Alternative habe ich hier nicht. Außerdem macht es Spaß! Wie von Geisterhand hat mein Fahrrad inzwischen einen Südkurs eingeschlagen. Die Tschechische Republik wirkt wieder einmal magnetisch auf mich. Das muss daran liegen, dass ich in Prag geboren wurde.

 

Noch bin ich gerade so in Deutschland. Doch in Reizenhain überquere ich eine mit Betonblöcken notdürftig versperrte Brücke. Ich komme zunächst auf einen schmalen Waldpfad und gleich darauf nach Pohraniční (Böhmisch Reizenhain). In das ehemalige Böhmisch Reizenhain sollte ich besser sagen. Nach Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieses Dorf - wie so viele andere Dörfer im Grenzgebiet - vollständig abgerissen. Der Fanatismus, mit dem man das betrieb, scheint aus heutiger Sicht schwer verständlich. Das Dörfchen wird wohl nie wieder entstehen, aber heute kümmert sich hier in Pohraniční ein rühriger tschechischer Verein um die Ortsgeschichte. Überall im Wald stehen Tafeln mit Fotos und Beschreibungen der alten Häuser. Respekt!

 

Bald komme ich auf Asphalt und damit schnell an die Kreuzung zur Staatsstraße 7. Auf dieser vielbefahrenen Transitstraße möchte wirklich niemand Fahrrad fahren. Deshalb verkrümle ich mich gleich in den Školní cesta, der zwar nicht als Radroute, aber als Wanderweg ausgewiesen ist. Er bringt mich direkt zur offiziellen Radroute 23, der so genannten „Erzgebirgsmagistrale“.

 

Die Magistrale ist asphaltiert und ich trete ordentlich in die Pedale. Ich habe mir da nämlich etwas in den Kopf gesetzt. Wenn ich jetzt nicht trödle, könnte ich es noch auf den Gipfel des 994 Meter hohen Jelení Hora (nein, nicht Hirschberg, sondern Hassberg) schaffen, bevor die Dunkelheit hereinbricht. 

 

Der Berg ist eine beeindruckende Erscheinung mit felsiger Kuppe. Noch beeindruckender wirkt er als Hintergrund des großen Stausees, der sich hier in der Kammregion des Erzgebirges befindet. Und genau dieser Stausee ist es, der den Ausblick vom Gipfel besonders malerisch macht. Einen Teil der Höhenmeter kann ich auf der Radmagistrale absolvieren. Dann muss ich in den Wald. Dank GPS und schnurgerader Wege ist die Navigation nicht wirklich schwierig. Eher beunruhigt mich, dass ich seit über einer Stunde keiner Menschenseele mehr begegnet bin. Andererseits bin ich nicht sicher, ob eine solche Begegnung hier und jetzt nicht noch beunruhigender wäre. Immerhin, die Zeiten wegelagernder Räuberbanden scheinen lange vorbei zu sein und wirklich gefährliche und wilde Tiere soll es im Erzgebirge auch nicht mehr geben. Wie erwartet sind die letzten Meter bis zur Bergspitze noch einmal richtig anstrengend und ich muss mein Monsta-Bike sogar ein Stück schieben. Auf dem Plateau gibt es ein Gipfelkreuz, aber Dank der hohen Bäume nicht viel zu sehen. Ich weiß aber, dass ich für den perfekten Aussichtsplatz nur ein paar Schritte weiter gehen muss. Von dort gesehen rekelt sich der Stausee silbrig glänzend auf dem Präsentierteller in der Tiefe. Heute sehe ich nur gleichmäßig graue Waschküche. So sehr sich meine Augen auch anstrengen, nicht die kleinste Kontur kann ich ausmachen. Es gibt nichts als weiß-graue Suppe.

 

Der vergebliche Versuch des Ausblicks ist mit Stillsitzen verbunden. Das freut besonders die hier lebenden fliegenden Freunde. Sie stechen zwar nicht, aber sie wollen sich offensichtlich alle an meinem Schweiß laben. Es müssen tausende sein! Mir bleibt nur, schnell wieder in Bewegung zu kommen und die Flucht zu ergreifen.

Mit Tempo - es geht ja bergab - und auf kürzestem Weg schlage ich mich wieder zur 23 durch. Die imaginären Wildschweine, die hinter jedem Gebüsch lauern, treiben mich an. Der weitere Weg bis zu Beginn des Schwarzbachtals entspricht der Hinfahrt. Meist bin ich schneller als vorhin unterwegs, denn das Gefälle schiebt mich an. Den Umweg über die Mothäuser Heide spare ich mir natürlich. 

 

Auch die letzten Kilometer durch das Schwarzbachtal wollen zügig bewältigt werden. Schließlich sitzt mir jetzt auch noch die Abenddämmerung im Nacken. Im letzten Tageslicht rolle ich auf dem Parkplatz, auf dem mein fahrbares Hotel steht. 

 

Dieser Platz bildet eine Sackgasse. Theoretisch ist er damit ein wunderbar ruhiger Standplatz für die Nacht. Leider hat die Praxis noch nichts von meiner Theorie gehört. Deshalb kommen immer wieder Autos, die eine Ehrenrunde auf dem Platz drehen und wieder abfahren. Der Grund ist die schmale Straße, die von Pobershau kommt. Sie trifft sehr spitzwinklig auf die Parkplatzzufahrt. Alle Fahrzeuge, die ins Dorf abbiegen wollen, müssen zwangsweise eine Ehrenrunde vor der Rollenden Räuberhöhle drehen.

 

Würde ich hier übernachten, wüssten spätestens morgen früh alle Dorfbewohner von dem merkwürdigen Berliner Touristen mit dem Anhänger. So richtig ruhig wäre es auch nicht. Wie gut, dass ich ganz nebenbei einen viel besseren Platz ausgekundschaftet habe! Genau am anderen Ende des Schwarzwassertals gibt es einen feinen, etwas abgelegenen Parkplatz. Dort werde ich schlafen. So packe ich rasch meine sieben Sachen und verbringe meine gesammelten Fahrzeuge an das andere Ende des Tals. Hier sollte ich eine ruhige Nacht haben …


Diesen Ausblick vom Haßberg habe ich mir gewünscht, doch heute gab es nur grauen Dunst ...

Quelle des Fotos: Wikipedia  (CC BY 3.0)         


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