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"Es wird noch bessor!"

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Alles beginnt an einem Märzmorgen auf einem kleinen Rastplatz auf einer Anhöhe in der Nähe von Erdmannsdorf bei Chemnitz. Ein verschlafen wirkender Mensch trägt ein paar Frühstücksutensilien zwischen dem geparkten Anhänger und der kleinen Schutzhütte hin und her. Ein Stückchen weiter lehnt sein Mountainbike an einem Baum. Irgendwann erfüllt das unkoordinierte Handeln des Menschen endlich seinen Zweck. Eine Kaffeetasse steht schließlich auf dem Tisch. Sie dampft und duftet vor sich hin, und Brötchen und Butter liegen auch bereit. 

 


Der Mensch bin natürlich ich und ich bin zum Fahrradfahren in das Erzgebirge gekommen. Ich hatte eine Nacht nach allen Regeln der „Kunst des unsichtbaren Campierens“ auf einem Parkplatz in Chemnitz verbracht, habe nun im nahen Augustusburg vergeblich einen Parkplatz gesucht und bin schließlich hier gelandet. Und jetzt gibt es erst einmal Frühstück. Meine Begleiterin ist heute Morgen die Sonne. Ihr warmes Frühlingslicht verspricht zunächst mehr als die tatsächlichen Temperaturen halten können. Um mich herum wellt sich ein weites Land, und vom Hügel gegenüber grüßt die markante Silhouette des Schlosses Augustusburg.

 

Apropos Hügel: Dieser Parkplatz befindet sich auf rund 400 Metern Höhe. Das Schloss gegenüber liegt auf 515 Metern, während es das Tal der Zschopau dazwischen gerade einmal auf 300 Höhenmeter schafft. Später werde ich ein wenig weiter in die Berge fahren, doch auch der höchste Punkt der Tour wird die 700er Marke nicht übersteigen. So ist es nun einmal, das Erzgebirge. Seine Gipfel sind weit entfernt von Hochgebirgsniveau. (Wenngleich es auf deutscher Seite sogar vier 1000er gibt. Tschechien gibt noch einmal sieben „Vierstellige“ dazu.) Im Grunde ist dieser nördliche Teil des Erzgebirges eine liebliche Hügellandschaft, die sanft nach Süden ansteigt. Erst auf den zweiten Blick sieht man die tiefen Kerben der Flusstäler, die den querenden Straßen geradezu heroische Rampenwinkel aufzwingen. Jedenfalls mir, der Berliner Bulette, erscheinen die Anstiege heldenhaft steil. Diese vielen, recht kurzen, aber fiesen Anstiege summieren sich und - soviel sei jetzt schon verraten - heute Abend werden 1700 Höhenmeter zusammengekommen sein.

 

Aber noch sitze ich am Frühstücksplatz. Die allgemeine Morgenträgheit tut meinem Elan nicht gut. Diffus wabern Gedanken durch den Kopf: „Was, heute soll ich wirklich Fahrrad fahren? Na gut, wenn ich nun einmal hier bin …“

Minuten später sitze ich dann doch auf dem Sattel. Auf der steilen Abfahrt kommt mir flüchtig der bemerkenswerte Gedanke, dass ich heute Abend diesen steilen Berg wieder hinauf muss. Im Tal treffe ich auf den Fluss Zschopau. Der führt derzeit viel Wasser, das in der Sonne glitzert. Auf den Uferwiesen gleich hinter der Fußgängerbrücke kommt mir eine fröhliche Kindergartengruppe entgegen. Auch zwei Erzieherinnen sind dabei. Die Kinder lärmen, toben und raufen. Sie schreien und rempeln nach Herzenslust, genauso wie es Kinder eben tun. Auch die plaudernden Kindergärtnerinnen - beide ohne irgendwelche Corona-Schutz-Verkleidungen - wirken ausgesprochen entspannt. Diese Szenerie der Normalität macht mich fröhlich. Zu viel Böses haben miesepetrige Virologen und gewissenlose Politiker in den letzten Wochen angerichtet. Doch hier und jetzt am Ufer der Zschopau ist die Welt in Ordnung. Als mir ein Dreikäsehoch dann noch den Spruch: „Geiles Bike!“ hinterherruft, weiß ich, dieser Tag wird gut!

   

Wenige Meter später schaue ich ratlos in meine Landkarte. Sollte ich es wirklich geschafft haben, mich schon auf den ersten Metern zu verfahren? Tatsächlich, so ist es. Eigentlich hätte ich an der Talstation der Drahtseilbahn herauskommen müssen, doch die ist jetzt weit entfernt. Würde ich dem Weg einfach weiter folgen, käme ich nie oben beim Schloss an. Aber auf die Augustusburg will ich auf keinen Fall verzichten! So kommt es zu einer Kurskorrektur durch den Wald. Dabei lerne ich eine Menge echten Erzgebirgsschlamm kennen, der sogar ein wenig Eis enthält. Der Schnee dürfte erst in den letzten Tagen geschmolzen sein und hat eine Menge Matsch zurückgelassen. Wie gut, dass Monsta ein Mountainbike ist und an Dreck gewöhnt. Ich bekomme dann doch noch kurz den unteren Bahnhof zu Gesicht und verschwinde wieder im Wald. Voller Tatendrang nehme ich den ersten möglichen Abzweig und finde mich ausgerechnet auf dem steilsten Anstieg wieder. Die Strecke wird - wie ich später erfahre - von Einheimischen liebevoll „die Rodelbahn“ genannt und sie wird im Winter bestimmt auch genau für diesen Zweck benutzt. Auch wenn mir das jetzt sicher niemand glaubt: Ich, der Berliner Müggelbergs-Experte wollte mir wirklich nichts beweisen. (Der Müggelberg in Berlin-Köpenick hat übrigens die spektakuläre Höhe von 114,7 Metern über dem Meeresspiegel.) Nein, die Auffahrt auf die Rodelbahn war schlicht ein Versehen. Aber umkehren wäre auch unehrenhaft. Außerdem wären dann die schönen, schon erkämpften Höhenmeter alle wieder verloren. Also weiter! Mit Mühe und einigen kurzen Pausen schaffe ich es schließlich und komme schnaufend am oberen Bahnhof an. Dort erwartet mich eine befestigte Fahrbahn. Nur die Steigung lässt kaum nach. Als etwas später links eine Aussichtsplattform auftaucht und rechts meine Straße immer noch steil weiterläuft, fällt die Wahl nicht schwer. Erst einmal Sightseeing und verschnaufen! Der Blick von hier oben geht gen Osten. Er ist weit, aber wenig spektakulär. Soweit das Auge reicht, gibt es Hügel, aber keine richtigen Berge.

 

Als Herz und Lunge wieder Normalbetrieb melden, fahre ich weiter. Das Schloss Augustusburg muss schon greifbar nahe sein. Es ist aber noch nicht zu sehen und immer noch geht es bergauf. Vor der großen, leuchtend gelb gestrichenen Kirche entdecke ich ein einsames Schneeglöckchen auf einer grünen Wiese. Das Blümchen wäre eine gute Ausrede für eine Fotopause. Doch ich kurble weiter. Jetzt liegt die Auffahrt zum Schloss vor mir. Die Tore sind weit geöffnet. Ich rolle auf den Hof und drehe eine weite Runde auf dem Schlossareal. Das Wetter ist strahlend schön und der Himmel fast dunkelblau. Vor diesem Hintergrund kommen die Gebäude besonders schön gut Geltung. Nur dass ich den Schlosshof ganz für mich allein habe, wirkt ein wenig surreal.

 

Ich bin nicht zum ersten Mal hier oben. Doch die Augustusburg begeistert mich immer wieder. August von Sachsen, nicht zu verwechseln mit „August dem Starken“, der erst 150 Jahre später zur Welt kam, war kein Mann der halben Sachen. Mehr als zehn Schlösser ließ er während seiner Amtszeit herrichten oder gleich ganz neu aus dem Boden stampfen. (Nebenbei zeugte er noch mindestens 16 Kinder.) Als sein bedeutendstes Werk gilt eben dieses Jagdschloss Augustusburg, dass nicht nur riesengroß ist, sondern eine beinahe vollkommene Symmetrie aufweist. Manche Historiker glauben, dass die architektonischen Entwürfe für dieses Schloss vom Kurfürsten persönlich stammen.

 

Nach meiner Ehrenrunde auf Augustusburg zieht es mich weiter. In gerade Linie sause ich auf einer Landstraße hinunter in das Flöhatal. Die geballte Höhenenergie treibt mich voran.



Die verschlafene Landstraße verliert sich die zum geschotterten Flöhatalradweg. In Grünhainichen erfolgt ein Wechsel der Flussseite und die Straße verbessert sich auf Asphalt. Eingezwängt zwischen der rauschenden Flöha und einem gut gefüllten Wassergraben auf der anderen Seite verspricht sie ein entspanntes Fahren. Ich stelle mich auf ein zügiges und unbeschwertes Pedalieren ein. Gerade als es richtig gut rollt, gibt es eine Überraschung: Es ist der Zaun einer Baustelle. Die Vollsperrung des Wegs sieht richtig fies aus. Andererseits wirkt die Arbeitsstätte verwaist. Gucken kostet ja bekanntlich nichts! Tatsächlich: Aufmerksame Bürger haben längst ein Schlupfloch in den Bauzaun hinein improvisiert. Eine unbeobachtete Minute später balanciere ich über eine Bohle und trage mein Bike dabei über eine halbfertige Betonkonstruktion. Zwei Bauzäune später (Doppelt hält besser, nützt aber trotzdem nichts!) bin ich auch schon wieder in Freiheit. 

 

Nun stehe ich direkt vor einer dieser süßen überdachten Holzbrücken, die in dieser Region typisch sind. Sie spannt sich hier in einer schmalen Fußgängerversion über die Flöha. Was besonders bemerkenswert ist: Auf der anderen Seite ist eigentlich nichts, was eine derart aufwendige Brücke rechtfertigen würde. Gleich nach der Brücke machen sich ein paar Kleingärten auf einer Art Halbinsel breit, die durch eine Schleife des Flusses gebildet wird. Auf einer Wiese daneben steht ein Esel aus Fleisch und Blut, der einen argwöhnischen Blick auf meinen Esel aus Aluminium wirft und mein Weg, der Flöhatal-Radweg, zieht mich immer weiter. Er folgt stets dem Fluss und der begleitenden Bahnlinie, wobei er sich den einen oder anderen kleinen Schlenker ins Hinterland erlaubt. Richtig ruhig ist es hier, denn eine richtige Autostraße gibt es in diesem Tal nicht. Nur einzelne Abschnitte der Fahrbahn werden auch als Zufahrt zu verstreuten Grundstücken benutzt. Unauffällig entfernt sich der Weg vom Fluss. Nach kurzer Steigung und viel schneller als gedacht stehe ich auf der Mauer der Talsperre Saidenbach. Sie wurde 1933 erbaut und wird hauptsächlich zur Trinkwassergewinnung verwendet. Wie bei den meisten Stauseen sind Baden und Wassersport tabu, doch dafür ist es ohnehin zu kalt. Erlaubt ist es immerhin, sich an der schönen Wald- und Wasser-Landschaft zu erfreuen. Zu diesem Zweck bietet sich ein unbefestigter Uferweg an. Übrigens wird im Internet das Gerücht gestreut, dass sich am Ostufer Diamantsplitter finden lassen.

 

Die Gebäude um die Talsperre wirken „amtlich“. Ordnung im Quadrat. Die Straßen sind staubfrei, alle Gebäude makellos schneeweiß und sämtliche Einrichtungen wirken deutlich überdimensioniert. Selbstverständlich ist auch der Zaun perfekt. Zum Glück gibt es wohl eine Dienstvorschrift, die besagt, dass die Staumauer für touristische Zwecke begehbar sein muss. Deshalb schließt eine pflichtbewusste Amtsperson jeden Morgen pünktlich um 6:00 Uhr (meine Vermutung) die Tore auf. Was dem Amtsschimmel entgangen ist: Der solide Zaun des angrenzenden Betriebshofs versperrt auch einen Wirtschaftsweg, der gleichzeitig der Beginn des Rundwegs um den See wäre. Im Prinzip ist damit die Runde um den See blockiert. Volkes Wille hat aber längst einen Bypass geschaffen. Es ist ein schmaler Pfad, der sich am Maschendrahtzaun entlang zwängt. Links peitscht das Gestrüpp und rechts droht der Lenker im Zaun hängen zu bleiben. Als mir dann noch zwei junge Männer mit ihrem Hund entgegenkommen, wird es wirklich eng. Die Männer erweisen sich als freundlich und der Hund guckt ausgesprochen lieb und gleich nach diesem Engpass, übernimmt - als wäre nichts gewesen - der breite und bequeme Uferweg. Er hangelt sich Bogen für Bogen und Bucht für Bucht am Ufer entlang. Und dieser Stausee besteht aus sehr vielen Buchten und Armen. Seine Wasserfläche ist fast vollständig vereist.

 

Am Ostufer gelingt mir die winzige Abkürzung über den schmalen Damm eines Vorstaubeckens. Auch auf dem anschließenden Fahrweg findet sich erstaunlich viel Eis. Und dann passiert es: Trotz aller Vorsicht rutscht zuerst das Rad und dann der Halt suchende Fuß auf der Eisplatte weg. Wie in Zeitlupe gehe ich zu Boden. Soll das ein Hinweis sein, hier auf der Erde erst einmal nach Diamanten zu suchen? Hier ist nichts, nur nasses, kaltes Eis! Entsprechend schnell bin ich wieder auf den Beinen und bald darauf im Sattel. Weiter geht es am See entlang.

Ich ergreife die allerletzte Möglichkeit für eine kleine Rast am Ufer. Vor mir liegt die weite Wasserfläche. Immer noch gibt es Eis, soweit das Auge reicht. In der Ferne ist die Staumauer zu erkennen. Von oben blinzelt die Sonne verschlafen und scheint auf den See, die trockenen Schilfhalme und die kleine verlassene Feuerstelle vor mir. Ein großer Holzklotz lädt zum Sitzen ein, so dass ich gleich die Gelegenheit für eine Mittagspause wahrnehme. 

 

Einen schlammigen Waldweg später komme ich in Forchheim an. Ja bin ich denn auf einmal schon in der liebenswerten oberfränkischen Bierregion gelandet? Natürlich nicht. Das Dörfchen heißt nur so. 

Einen Landstraßenberg muss ich hochschnaufen. Auf der anschließenden Talfahrt sause ich durch Görsdorf, überquere die Flöha und schon bin ich in Pockau. Diese Kleinstadt hat sogar eine Ampelkreuzung! Viel wichtiger als die Stadt selbst ist aber ihr Name. Er deutet auf die Einmündung der Schwarzen Pockau in die Flöha hin. Für mich heißt das, dass mein Ziel nicht mehr weit sein kann. Denn heute reise ich in das wilde Felsental der Schwarzen Pockau, das auch „Schwarzwassertal“ genannt wird.

 

Es heißt, eine gute Routenplanung würde ein optimales Touren-Erlebnis garantieren! Bei meiner Routenplanung wählte ich gleich hinter Pockau wohl den steilsten aller Wege aus. Wieder einmal hatte ich es mit den Höhenlinien auf der Landkarte nicht so genau genommen. Aber ein bisschen Schwitzen hat ja noch niemandem geschadet.

Genau genommen will mir der Zufall sogar die Chance geben, der Steigung zu entrinnen. Ich verpasse nämlich einen Abzweig und verfahre mich auf eine kleine Landstraße. Als ich meinen Irrtum bemerke, habe ich auf der rechten Seite einen wunderbaren Blick auf meine geplante Herausforderung. Begleitet von ein paar dürren Alleebäumen zieht sie sich in direkter Linie die karg bewachsene und erschreckend steile Bergflanke hinauf. 

Aber Bangemachen zählt jetzt nicht. Ich überquere eine Eisenbahnschiene auf einem Übergang, der laut amtlichem Schild höchst privat ist. Dann lege ich meine Jacke ab und widme mich der anstehenden Trainingseinheit. Auf halber Höhe kommt mir eine ältere Dame entgegen, die hier wohl gerade ihren Spaziergang macht. „Rodfohren an denn Berg!“ (Radfahren an diesem Berg!), begrüßt sie mich. Ich bilde mir ein, dass ein Funken Bewunderung in ihrer Stimme liegt. Eventuell könnte sie mich aber auch für verrückt halten. Dann sagt sie noch: „Dor Wech wird ohm noch bessor!“ (Der Weg wird weiter oben noch besser!) Dieser zweite Satz gibt mir Rätsel auf. War das ernst gemeint oder Ironie? Im zweiten Fall: Kann der Weg so kurz vor der Kuppe wirklich noch steiler werden? Und was macht diese Aussage mit meiner Moral?

 

Ich beschließe, dieser Frage zunächst aus dem Weg zu gehen und an der kleinen Rasthütte oben am Waldrand eine Pause zu machen. Das Holzhäuschen ist üppig mit geschnitzten Figuren ausgeschmückt. Hier sind es hauptsächlich Eulen mit dunkelbraunen gläsernen Augen. Derartige Schnitzarbeiten sind im Erzgebirge keine Seltenheit. Aber diese Rasthütte hat schon etwas Besonderes. Die Eulen sind wahre Schönheiten, die selbstbewusst und wachsam aus ihren Glasaugen auf den erschöpften Radfahrer starren. Sogar in eine Fuge des hölzernen Tischs hat ein fleißiger Schnitzer ein paar kleine expressionistische Kunstwerke geklemmt. Wie mir scheint, ist sogar das fünf Zentimeter hohe Modell einer Reckstange darunter. Bestimmt wird dort demnächst eine winzige Turnerfigur ihre Übungen machen. Auch der Blick ins Tal beeindruckt, wobei die gefahrene Steigung aus dieser Position weit weniger grimmig aussieht als von unten.

 

Nach einer kleinen Stärkung sitze ich wieder im Sattel. Ich will ergründen, wie es sich anfühlt, wenn es „noch bessor“ wird. Die Asphaltstraße beschreibt einen kleinen Bogen im Wald und zieht dabei tatsächlich noch etwas an. Dann gibt es nur noch Schotter, der zwar nicht mehr brutal ansteigt, aber trotzdem erstaunlich viele Höhenmeter sammelt. Nun komme ich an eine weitere liebevoll gestaltete Hütte. Hier sitzt zum Kaffeekränzchen schon ein älteres Paar, das mit einem Vehikel heraufgekommen ist, das aussieht wie eine Mischung aus Quad und Waldtraktor. Es gibt hier auch einen kleinen Geräteschuppen, dessen Tür weit offensteht. Deshalb glaube ich, dass diese Herrschaften die Besitzer des Schuppens, der Hütte und vielleicht sogar von dem Wald sind. Womöglich ist einer von ihnen auch der große Schnitzkünstler?



Ein paar Meter weiter entscheide ich mich gegen den direkten Weg auf den Gipfel. Das ist kein Nachteil, denn hier im Wald gibt es ohnehin keinen Ausblick. Der wahre Grund für meinen neuen Plan ist die erhebliche Menge von Eis, Schnee und Matsch, die mich auf der geplanten Strecke erwartet hätte. Ich finde schnell eine passable Alternative und komme bald aus dem Wald heraus. Hier im freien Gelände hat die Sonne längst den Frost vertrieben. Vor, oder besser unter mir liegt der kleine Ort Zöblitz. Dann kommt ein waldloser Hügel, hinter dem sich das Schwarzwassertal verstecken müsste. Für mich heißt das, entspannt hinunter in den Ort zu gleiten, um gleich darauf wieder hinauf zu pedalieren. Nach der kleinen Anstrengung finde ich mich auf einer großen Wiese wieder, die nach Südwesten und damit zur Sonne geneigt ist. Hier ist es für die Jahreszeit schon angenehm warm. Bei einem kleinen Baum auf einer Bank sitzen zwei tratschende Landfrauen in der Sonne. Sie begrüßen mich fröhlich. Ich dagegen halte mich nicht auf. Mich verschluckt ein schmaler Waldstreifen, wo ein Pfad auf mich wartet, der vom abgeflossenen Schmelzwasser schwer zugerichtet wurde. Mit Mühe komme ich durch die tiefen Furchen und bin endlich im Pockautal!

 

Die Siedlung am Eingang der Schlucht heißt Hinterer Grund. Gleich hinter dem Ortsschild steht eine Holzhütte mit verglaster Front. Sie ist liebevoll mit Plüschosterhasen und allerlei buntem Dekorationsplunder vollgestopft. Normalerweise bin ich nicht sehr empfänglich für so einen kitschigen Frontalangriff. Doch die ungewohnten Anstiege haben meiner körperlichen Verfassung ein wenig zugesetzt und ich freue mich über jeden Anlass für eine kurze Pause. Wenn ich nun schon einmal angehalten habe, kann ich mir die Osterhasengesellschaft ja auch aus der Nähe ansehen. Kaum bin ich an die Schaufensterscheibe herangetreten, reagiert unbemerkt ein Sensor und aus gut versteckten Lautsprechern tönt laute Polka-Musik! Das ist nun schon wieder so witzig, dass ich breit grinsen muss!

 

Der Weg im Grund des Schwarzwassertals ist zunächst breit und bequem. Langsam rücken die Bergflanken immer näher und nehmen den sprudelnden Bach und meinen Weg in die Zange. Immer häufiger mahnen vereiste Schneereste zur Vorsicht. Noch einmal muss ich nicht zu Boden, ich würde sowieso keine Diamanten finden! Rauhe hohe Felswände säumen den Weg. Dann entdecke ich mehrere große, fantasievolle Eisgebilde. Sie müssen durch halb geschmolzenen und dann wieder gefrorenen Schnee entstanden sein. Während ich ein paar Fotos mache, schließt eine Joggerin auf. Hier an dieser Stelle ist es besonders glatt, so dass sie ihren Lauf unterbricht und ein paar tastende Schritte über das Eis wagt. Das ist eine gute Gelegenheit für einen kurzen Schwatz. Sie berichtet, dass es weiter oben im Tal noch sehr viel mehr Schnee geben würde und dass ich notfalls das Rad ja schieben könnte. Die letztere Bemerkung sortiere ich in die Kategorie „laienhaftes Geschwätz“ ein. Aber mindestens mit dem Schnee hat die Dame recht. Der Winter hat sich noch nicht aus diesem engen Tal verabschiedet und bald gibt es nichts als Schnee und Eis auf dem Weg. Nur in den Bereichen, wo die Fahrbahn durch Zweige und Holzreste von den Forstarbeiten übersäht ist, gibt es ein sicheres, dann aber auch sehr holpriges Fortkommen. Rechts erhebt sich der markante, wohl 90 Meter hohe Katzenstein, dessen Aussichtspunkt für mich hier unten leider unerreichbar ist. Auch er will fotografiert sein.

 

Bei diesem Stopp fasse ich einen Entschluss. Ich kehre um. Sofort.

 

Im Grunde habe ich mein Zeitbudget längst überreizt. Schon jetzt wird es kaum möglich sein, bei Tageslicht zu meiner geparkten Räuberhöhle zurückzukehren. So gern würde ich diesem Tal weiter folgen, denn ich finde die Landschaft und auch das Fahren im Schnee sehr reizvoll. Doch diese Kilometer im Schnee würden mich einiges an Kraft und wohl noch eine halbe Stunde Extrazeit kosten. Schon leichter zu verschmerzen wären die fünf Mehrkilometer, die mich das Schwarzbachtal zu weit nach Süden führen würde. Außerdem kann ich den ursprünglich geplanten Rückweg über Marienberg, Wolkenstein und Zschopau schwer einschätzen. Welche Überraschungen würden auf dieser Strecke auf mich warten?

 

Nein, der Entschluss steht fest. Ich trete den Rückzug an und versuche dabei eine möglichst direkte Route entlang der Pockau und der Flöha zu nehmen. Und genau im Moment meiner Entscheidung realisiere ich auch, wie frostig kalt es in diesem Tal ist. Schnell weg hier!

 

In grober Richtung nutze ich für die Rückfahrt die gleiche Strecke wie auf der Anreise. Nur die unnötigen Kuppen und den Stausee erspare ich mir. So lerne ich ab Rittersberg eine angenehme kleine Landstraße kennen, die mich zurück nach Pockau führt und die mir sogar noch eine richtige Burg zeigt. Es ist die Burg Lauterstein. Aus der Entfernung sieht sie mit ihrem dicken Turm genauso aus, wie eine kleine süße Burg aussehen muss. Dabei ist sie doch schon seit 1639 eine Ruine.

 

Ab Pockau der Flöha zu folgen, sollte kein Problem sein. So einfach wie ich mir das vorstelle, ist es aber nicht. Der offizielle Radweg macht einen Riesenumweg zu jenem Stausee, den ich heute schon besucht hatte. Aber es gibt einen Wanderweg, der sich immer an die Bahnlinie hält. Nur ein kurzes Stück kann ich einer Straße folgen. Dann schließt sich ein Pfad an, der sich irgendwo zwischen den Bäumen zu verlieren droht. Zum Glück passiert das nicht. Oberhalb der Eisenbahnlinie erklettert der jetzt etwas breitere Wanderweg eine erstaunlich hohe Felsnase. Dann senkt er sich wieder ab und findet schließlich den Anschluss an die schon bekannte Strecke.  

Sollte ich mich jetzt noch einmal durch die Baustelle schummeln? Ich beschließe legal zu bleiben, doch ich pfeife auf die ausgeschilderte Fahrradumleitung. Die können die Baustellenplaner gern allein radeln. Dann würden sie merken, dass ein kilometerlanger Umweg über eine weit höher liegende Landstraße keinen Spaß macht. Vielmehr setze ich auf die Fußgänger-Alternative am gegenüberliegenden Flussufer. Dazu quere ich den Fluss mit Hilfe der kleinen überdachten Brücke. Auf der anderen Seite mache ich dann wohl etwas falsch. Mein Pfad verliert sich nach wenigen Metern im Geröll am Ufer der Flöha. Also zurück. Ich checke dann doch schnell, ob die Luft rein ist. Sekunden später bin ich durch die Bauzäune geschlüpft und habe das Hindernis passiert.

  

In Grünhainchen wartet noch einmal richtig Arbeit auf mich. Ich habe beschlossen, hier das Flusstal zu wechseln. Ich werde die Flöha verlassen und mich zur Zschopau begeben. Die beiden Flüsse, die hier nur 5 Kilometer auseinander liegen, trennt ein kräftiger Bergrücken. Er fordert von mir eine 180 Meter hohe Auffahrt. Besonders steil ist die Strecke im Ort Grünhainichen selbst. Ich nehme noch einmal alle Kräfte zusammen und drücke mich die Auffahrt hinauf. Schnell bin ich dabei nicht, aber ich fahre ja auch kein Rennen. Besonders beeindruckt mich, dass mir die bergab fahrenden Autos in den schmalen Gassen mehrmals bereitwillig Platz machen. 

Am Ende des Anstiegs liegt Waldkirchen. Für mich hat dieses Dorf eine besondere Bedeutung, denn hier lebte die Omi Anny, die Großmutter meiner lieben Frau. Auf dem kleinen Friedhof ist die Omi auch begraben. Für einen kurzen Besuch an ihrem Grab muss einfach Zeit sein.

 

Der Lohn der Schufterei am Berg ist die lange Abfahrt hinunter zur Zschopau. Die Sonne scheint mir direkt ins Gesicht, aber sie ist von dicken Schleiern verhüllt. Dadurch breitet sich ein eigenartiges magisches Licht aus. Noch bevor ich eine gute Fotoposition finden kann, wird es zu einer gewöhnlichen Dämmerung. Schon in den nächsten Minuten ist die Sonne dabei, sich hinter den nächsten Bergrücken zu verziehen. Damit wird es unweigerlich Abend. Zum Glück habe ich die Fahrradbeleuchtung nicht vergessen und rolle jetzt mit vorschriftsmäßigem Licht weiter. Nach der Landstraße fühlt sich der schmale Wanderweg durch ein kleines Waldstück im Scheinwerferlicht sehr abenteuerlich an. Immer wieder springen unvermutet Wurzeln aus dem Boden und machen die Fahrt beschwerlich. Erstaunlich, dass dieser Weg als offizielle Fahrradroute ausgeschildert war.

 

Endlich bin ich am Ufer des Flusses und damit vermeintlich fast am Ziel, das nur fünf Kilometer Luftlinie entfernt ist. Doch auch die weitere Streckenführung erweist sich als anspruchsvoll. Es stellt sich nämlich heraus, dass es keinen direkten Weg gibt, der die Zschopau begleitet. Dieses Problem kann ich nur Schritt-für-Schritt lösen. Erst einmal muss ich nach Hennersdorf. Dorthin führt ein Wanderweg, der sich in die schmale Lücke zwischen einer Stützmauer der Eisenbahn und dem Wasser zwängt. Eine schlaue Infotafel klärt mich auf, dass dies in den 1920er Jahren ein beliebter Wanderweg war. Die naturverbundenen Chemnitzer Proletarier zelteten damals gern in den Zschopauwiesen und mussten ihr Sack und Pack auf diesem Weg in ihre kleine Sommerfrische buckeln. Auch erfahre ich, dass die Campingfreunde sogleich durch den ansässigen Gastwirt per Bauchladen mit wichtigen Dingen, wie Zigaretten, versorgt wurden. Bemerkenswert, welcher Service einst geboten wurde!

 

Am Tor eines altertümlichen, aber gepflegt aussehenden Werksgeländes endet mein Wanderweg. Die Fabrik ist eine alte Spinnerei und heute wohl ein Gewerbepark. Vergeblich suche ich eine Brücke über den Fluss. Sie muss doch hier sein? Ach nein, erst einen halben Kilometer weiter, im Ortskern von Hennersdorf geht es hinüber. 

Meine letzte Flussüberquerung für heute erfolgt ausgesprochen stilvoll. Die Brücke ist wieder so eine geschlossene Holzkonstruktion mit Schieferdach und Dielenboden. Sie sieht aus, als hätte man ein kleines Häuschen quer über das Wasser gestellt. Anders als die Fußgängerbrücke über die Flöha ist diese Brücke sogar für den Autoverkehr ausgelegt. Die anschließende Steigung fordert wieder den „ganzen Kerl“. Schön, dass ich vorher von ihr nichts gewusst habe! Unmittelbar danach wird die gerade aufgebaute Höhe auf der Landstraße nach Erdmannsdorf gleich wieder verpulvert. Und dann habe ich es geschafft. Oben am Ortsausgang wartet als Basisstation mein Autogespann. Die letzten 1 ½ Kilometer und 100 Höhenmeter locken mich das Bordrestaurant und die Bar hinauf. (Erstaunlich das als Lockmittel ein paar Stullen und eine Flasche alkoholfreies Bier ausreichen!)

 

 

Es war ein herrlicher Tag in den Bergen, der schon jetzt nach einer Wiederholung ruft. Vielleicht lasse ich beim nächsten Mal den Morgenmuffel zu Hause und schaffe dann das ganze Schwarzwassertal!


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