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Schneesüchtig

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Zu Beginn des neuen Jahres ist richtig viel Schnee gefallen. Nicht überall, aber die Mittelgebirge wurden dick verzuckert. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, meinem Möchtegern-Fatbike die weiße Pracht zu zeigen?  So ganz unvoreingenommen trete ich die Reise nicht an.


Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2021 und dass ist (leider) nicht irgendein weiteres Jahr im Kalender. Die Politik hat sich in eine unerträgliche Corona-Hysterie hineingesteigert und traktiert das Volk mit immer neuen Verordnungen und Einschränkungen. Vielerorts wurden sogar das Rodeln und Skifahren verboten! Gasthäuser und Hotels sind schon lange zu. Viele Menschen sind in einem 15 Kilometer Umkreis eingesperrt. 

 

Darf und sollte man unter diesen Umständen wieder einmal in den Harz fahren? 

Ich denke ja, man muss sogar!

 

So breche ich am Mittwoch, dem 6. Januar mit dem Auto und dem unauffälligen Anhänger „Rollenden Räuberhöhle“ am Haken auf. Der Plan ist einfach: Heute möchte ich mich im Harz umsehen und die Schneelage peilen. Dazu werde ich wohl kaum aus dem Auto aussteigen. Die spannende Frage ist: Könnte es vielleicht zu viel der weißen Pracht für mein Monsta-Bike sein? Die Januarnacht werde ich auf einem frostigen Schlafplätzchen verbringen und morgen nach Herzenslust biken. Bestimmt wird sich auch der gute alte Brocken über einen Besuch freuen!

 

Die Anreise ist weitgehend grün. Statt Schnee gibt es Nieselregen. Aber ich weiß, es wird besser! Und wirklich: Gleich hinter Halberstadt wird grün zu weiß. Rasch fahre ich einen Supermarkt an, um für Proviant zu sorgen. Warum ist der Parkplatz so leer? Und warum öffnet sich die Ladentür nicht?

Überraschung! -Sachsen Anhalt feiert den Dreikönigstag!

 

… und ich habe nichts zu Essen eingepackt. Das Internet gibt Entwarnung. Mein Ziel, die Brockenregion, liegt ja schon fast in Niedersachsen und dort haben die Geschäfte geöffnet. Da werde ich wohl einen kleinen Abstecher nach Braunlage machen müssen.

 

In Wernigerode sind an den Straßenrändern richtig hohe Schneehaufen zusammengeschoben. Oh je, da will ich Fahrrad fahren? Auf den kleinen Parkplätzen am Wegesrand stehen überall viele Autos. An Wanderern mangelt es also nicht. Schon auf der Fahrt scanne ich aus den Augenwinkeln die Möglichkeiten für eine Übernachtung. Und ich werde fündig! Direkt an der ehemaligen Zonengrenze, dort wo eine riesige Tafel verkündet, dass Europa hier bis 1989 geteilt war, befindet sich ein wenig abseits der Straße eine Parkfläche für vielleicht 10 Autos. Ich glaube, hier werde ich bleiben.

Braunlage ist zugepflastert mit Schildern, die zum Tragen einer Gesichtsmaske auffordern. Menschen sind kaum auf den Straßen. Was sollten sie dort auch? Zum Glück funktioniert der Lebensmittelhandel noch wie gewohnt. So habe ich schnell eine große Kiste an Speisen und Getränken zusammengekauft. Schön, dass das Überleben erst einmal gesichert ist! 

 

Minuten später, es geht inzwischen auf 16 Uhr zu, rollt mein Gespann auf den ausgespähten Parkplatz.  Es stehen noch einige Autos und Kleinbusse da. Ungeschickt manövriere ich dazwischen. Ein Familienvater ist an der Heckklappe seines Kombis gerade mit Ehefrau, Kind und Schlitten vollbeschäftigt. Trotzdem erkennt er umsichtig meine Situation, parkt sein Fahrzeug um und verschafft mir dadurch den besten Platz. Dafür bin ich sehr dankbar! Bei einem anschließenden Schwätzchen kommt natürlich die Frage auf, was wohl in dem Hänger wäre. Als ich antworte, dass ich darin mein Mountainbike transportiere, werden die Augen groß. Ob das das richtige Sportgerät für dieses Winterwetter ist?

 

Ja, das könnte ich doch gleich testen! Für eine knappe Stunde habe ich noch Tageslicht und der gut festgetretene Schnee auf dem Forstweg gleich hinter dem Parkplatz sieht verheißungsvoll aus. Nur wohin der Weg führt, weiß ich nicht. Das Internet ist hier im Niemandsland zwischen West und Ost mausetot. Schon sitze ich im Sattel. Der Weg geht gut bergauf und kostet Kraft. Aber es rollt. Und es rollt sogar gar nicht so schlecht! „Da haben sie sich aber etwas vorgenommen!“ ruft mir ein Wanderer zu. Was meint er damit? Ich weiß ja nicht einmal, wohin die Strecke führt. 

Auch die Kombi-Familie vom Parkplatz treffe ich. Ich zeige ihnen nicht ohne Stolz, dass mein Fahrrad durchaus schneetauglich ist.

 

Nach einer recht kurzen Marscherleichterung zieht der Berg wieder an. Nun macht mir auch der zunehmend lockere Schnee zu schaffen. Erstaunlich schnell rutschen die breiten Reifen durch und vor allem frisst der Schnee die Antriebskraft regelrecht auf. Irgendwann komme ich nicht mehr weiter und muss schieben. Inzwischen weiß ich auch, dass ich an dem großen Parkplatz des Skigebiets am Wurmberg herauskommen werde. Weit kann es nicht mehr sein und das treibt mich weiter hoch.



Tatsächlich dauert es nicht lange und ich komme an eine Rasthütte, die als „Kaffeehorst“ bezeichnet wird. Von hier, das weiß ich schon, führt ein Pfad direkt zum Parkplatz. Weil es kaum noch aufwärts geht, kann ich jetzt auch wieder pedalieren. Der schmale Verbindungsweg, bei dem ich mich ducken muss, damit mir die unter Schneelast tief hängenden Äste nicht die Haare kämmen, macht richtig Laune!

 

Die folgende Asphaltstraße mit dem großen Parkplatz sind vorbildlich geräumt. Doch gleich dahinter lockt die Skipiste. Wohin man auch schaut, überall liegt blendendweißer Schnee, der die aufziehende Dämmerung einfach wegstrahlt!

 

Die Piste ist für die Tageszeit und für die Tatsache, dass alle Lifte regierungsamtlich abgeschaltet wurden, gut belebt. Vor allem Familien mit kleineren Kindern nutzen jede Schneeminute aus. Wer will es ihnen verdenken? Eine so üppige weiße Pracht ist selten geworden im Harz. Da wollen die raren Schneetage genutzt sein. Doch in diesem Jahr kommt zusätzlicher Druck von der Obrigkeit. Niemand weiß, ob es morgen noch erlaubt sein wird, in den Schnee zu gehen. Seit Tagen tönen die amtlichen Propagandisten von der „Invasion“ auf die Wintersportgebiete und von chaotischen Zuständen auf Parkplätzen und Pisten. Andernorts wird die winterliche Natur schon großzügig mit Flatterbändern abgesperrt und von Polizisten bewacht. Hier ist davon nichts zu sehen. Aber es könnte jederzeit dazu kommen. Wer weiß, vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche?

 

Gerade mit dieser Ungewissheit im Hinterkopf freue ich mich jetzt und hier an diesem Ort zu sein. Die faulen Ausreden, wie „man könnte doch später“ oder „vielleicht sollte man im nächsten Jahr“ oder „nach Corona werde ich“ habe ich einfach beiseite gewischt.

 

Über die Skipiste kann ich weit nach unten ins Tal sehen. Wegen der fehlenden Liftunterstützung beschränkt sich der Trubel auf den Bereich um den Parkplatz. Weiter unten und auch zum Gipfel hin ist die weite weiße Fläche menschenleer. Dort oben verschmilzt der Schnee mit dem Himmel. Genau dort im weißen Nichts müsste die Spitze des Wurmbergs, des höchsten Punkts in Niedersachsen, sein. Sollte ich versuchen, noch etwas höher zu kommen? Vielleicht schaffe ich es bis ganz oben? Warum nicht! Gleich hinter der Piste verschwindet ein Forstweg im Wald, der konstant auf gleicher Höhe bleibt. Seine Schneedecke ist gut festgetreten und entsprechend leicht rollt es. Das Fahren erfordert trotzdem Konzentration, denn vor lauter schneeweißem Schnee sind tückische Spurrillen nicht leicht zu erkennen. An einer Wegkreuzung mit dem seltsamen Namen „Bratwurst“ biege ich scharf rechts ab. Der Weg schraubt sich einige weitere Höhenmeter nach oben und führt zurück zur Skipiste. Und spätestens hier, auf dem offenen Gelände der Piste, ist dann wirklich Schluss. Die Räder graben sich in den weichen Schnee ein. Den kurz geträumten Traum, schnell und ganz nebenbei den Wurmberg abzuhaken, kann ich vergessen. Das tue ich ohne Wehmut, denn auch hier habe ich einen fantastischen Ausblick auf ein herrliches Winterwunderland. Und morgen ist schließlich auch noch ein Tag.

 

Ohne große Mühe rolle ich auf gleichem Weg zurück zu meiner Räuberhöhle. Inzwischen hat das Tageslicht auch so weit nachgelassen, dass der Schnee keine Chance mehr hat, das Restlicht zu verstärken. So eine Januarnacht beginnt früh und ist sehr lang. Nachdem das Fahrrad an seinen Platz im Anhänger gestellt ist und ich mich mit frischer, trockener Kleidung versorgt habe, bleibt mir nur der kuschlige Schlafsack. Und dieser Schlafsack muss bei den herrschenden Minus-Temperaturen schon einiges leisten. 

 

Wie ist so eine Winternacht in der Räuberhöhle? Schon um 18 Uhr bin ich vom Kopf bis Fuß in meinem Schlafsack verschwunden. Eigentlich sind es zwei Schlafsäcke. Zuerst stecke ich in einem ganz normalen Mumienschlafsack. Diese Mumie wiederum ist in einem dicken und geräumigen Winterschlafsack verstaut. Dieser Winterschlafsack fühlt sich wie ein U-Boot an. Er nimmt mich und den engeren Schlafsack komplett auf und lässt dabei meinen Armen sogar ein wenig Bewegungsfreiheit. Nur über meinem Gesicht bleibt eine Atemöffnung, die kleiner als eine Untertasse ist.

 

Der spontane Ausflug an den Wurmberg scheint anstrengender gewesen zu sein, als ich es vermutet hätte, denn ich schlafe spontan ein. Am nächsten Tag krabble ich gut erholt kurz vor 9 Uhr wieder aus meinem Kokon. Natürlich habe ich nicht 15 Stunden lang durchgeschlafen. Vielmehr war die Nacht ein Mix aus Schlaf und E-Books lesen. Auch das eine oder andere Nachtmahl krümelte in das Schlafsack-U-Boot und ein leckerer Schlaftrunk fand den Weg durch die Gesichtsöffnung des Schlafsacks bis zu meiner Kehle. Sogar ein wenig Live-Entertainment wurde auf diesem abgelegenen Parkplatz geboten. Neben mir campierte nämlich ein temperamentvolles Pärchen aus Hamburg in einem improvisierten Nachtlager in ihrem Auto. Es war spannend, ihren gegenseitigen Beschimpfungen zu lauschen, weil er vergessen hatte, die richtigen Decken einzupacken und sie die Tür zu lange offen ließ und dadurch für zusätzliche Kälte sorgte. Apropos Kälte: In dieser Nacht fiel das Thermometer auf -4 Grad. 

 

Ein neuer Wintermorgen schaut zur Plane meines Anhängers herein. Heute werde ich den Wurmberg bezwingen. Dann kommt Meister Brocken dran! Dabei werde ich mich in diesem Schneewunderland austoben und mein Monsta-Bike mit dem kalten Element vertraut machen. Das ist doch ein guter Plan, oder?



Noch bevor die Tagesgäste in ihren Autos auf meinen Parkplatz rollen, sitze ich schon auf dem Fahrradsattel. Wieder starte ich mit dem schneereichen Anstieg, den ich gestern schon kennen gelernt habe, und wieder bleibe ich stecken und muss ein Stück zu Fuß zurücklegen. Jetzt bei vollem Tageslicht sehe ich erst richtig, wie herrlich die dick verschneite Winterlandschaft aussieht. Schon ist die Ecke vom „Kaffee-Horst“ erreicht. 

 

Ich komme ein wenig über die „Kaffee-Horst“-Hütte und ihren Freund, die Waldkreuzung „Bratwurst“ ins Grübeln. Sind diese Bezeichnungen in einer Welt der Anglizismen nicht herrlich nostalgisch und bodenständig? Sie mögen an eine Zeit erinnern, wo eine Urlaubswanderwoche im Harz noch ein großes Abenteuer und der Kaffee oder die Bratwurst die Krönung des Tages waren. „Noch ein Likörchen, Frau Hansen?“, fällt mir dazu spontan ein. Und eben diese „Frau Hansen“ mag bestimmt auch die reichlich gefüllten Windbeutel mit Kirschen, die hier im Westharz zur Tradition geworden sind. Wie gestern erwartet mich der schmale Pfad mit den Ästen, die den Kopf des Radlers streicheln. Doch heute muss ich erst einen Konvoi von Rodelschlitten mit Kindern und deren erwachsenen zweibeinigen Zugtieren Platz machen. Ein wenig bestaunt werde ich mit meinem Monsta-Bike schon.

 

Noch ist die Skipiste, die ich zügig überquere, ziemlich leer. Ich lasse die Bratwurst-Kreuzung hinter mir und komme immer noch gut voran. Die viele Füße haben die riesige Menge Schnee leidlich platt planiert. Natürlich ist die winterliche Strecke keine Fahrradautobahn. Mal rollen die Räder, dann rutschen sie ein wenig, dann kann ich das Schlingern abfangen und es gibt wieder Grip. Nach meinen gestrigen Erfahrungen habe ich den Luftdruck in den Reifen um ein paar Zehntel reduziert und das macht sich bezahlt. Besser und schneller als in Wanderstiefeln bin ich allemal unterwegs. 

 

In der Nähe der Wurmbergklippe erreiche ich mit der „Panoramaabfahrt“ die zweite Skipiste. Sie sieht präpariert aus, doch vielleicht sind in den letzten Tagen einfach nur genug Leute heruntergefahren. Vor allem wirkt sie einsam und verwaist. Was für ein Stillleben. Massig Schnee, passables Wetter, eine herrliche Skipiste und weit und breit kein Mensch hier. Gut, ich habe ein wenig geschwindelt. Ein einzelner Sportler kämpft sich auf Skiern die verlassene Piste hinauf.

 

Nachdem ich die Abfahrtsskistrecke überquert habe, muss ich feststellen, dass die Fortsetzung meines Wegs etwas „naturbelassener“ ist. Nur einzelne Füße haben im Schnee ihre Spuren hinterlassen. Und dieser Schnee ist mindestens zwanzig Zentimeter tief! Auch wenn die Strecke hier nicht bergauf geht, kann ich mich glücklich schätzen, wenn ich für jeweils drei oder vier Meter im Sattel bleiben kann. Entweder schlingert dann das Rad weg, oder es fehlt einfach die Kraft. Weil Umkehren keine Option ist, werde ich eben zum Wanderer. Ich führe Monsta für einen guten Kilometer durch die dick verschneite Winterlandschaft. 

 

Wie erhofft ist die Wurmbergstraße geräumt. Auf die Parole „Dienst ist Dienst“ ist eben Verlass. Zwar hat oben auf dem Berg keine einzige Baude geöffnet, aber die Straße wird ordnungsgemäß geräumt. Dass ich nun leicht und beschwingt auf den Gipfel rollen würde, kann ich trotzdem nicht bestätigen. Der kräftige Anstieg sorgt eher für Schneckentempo und erhöhte Pulsfrequenz. Immerhin sind die engen Kurven so gnädig zu mir, dass sie mir nie die ganze Länge der Steigung auf einmal zeigen. Endlich bin ich oben angekommen.

 

Die Bauden und der Turm auf dem Wurmberg sind dick eingeschneit. Hier auf dieser Höhe hat der Wind fast freie Bahn. Aus dem Schnee hat er bizarre Objekte geformt. Das kleine Manko, das der Wurmberg hat, ist die Tatsache, dass er eben nur der zweithöchste Berg im Harz ist. Außerdem verfehlt er die 1000 Höhenmeter um ganze 29 Meter. Wenigstens bei letzterem Fakt konnte Abhilfe geschaffen werden. Dank des Turms können Touristen die Aussicht unter normalen Umständen aus glatt vierstelliger Höhe genießen. Doch in diesem Januar 2021 sind die Umstände recht speziell. Deshalb sehe ich hier oben auch nur wenige Wanderer, die sich allesamt eng an die Wände der geschlossenen Bauden drücken, um ein wenig Windschutz zu suchen.

 

Auch ich merke schnell, wie die Kälte unter meine Jacke kriecht. Weder Wetterlage noch Stimmung laden zu einem ausgedehnten Aufenthalt ein. Dann also weiter! Das bedeutet in diesem Fall bergab. Zu einer rasanten Schussfahrt ins Tal kann ich mich jedoch nicht entschließen. Zu groß erscheint das Risiko eines schmerzhaften Sturzes oder gar einer Verletzung in dieser unwirtlichen Umgebung. Vielmehr taste ich mich vorsichtig die Wurmbergstraße wieder hinab.

Beinahe wäre ich zu weit ins Tal gefahren. Im letzten Moment realisiere ich, dass ich an einer Linkskurve die Straße verlassen müsste, um mich bis zum alten Weg der DDR-Grenzer durchzuschlagen. Ich hoffe, auf diesem Postenweg über den „Dreieckigen Pfahl“ bis auf den Goetheweg zu kommen.

 

Aber zunächst einmal stellt sich die Frage: „Wo ist dieser Pfad?“ Nur eine einzige Stiefelspur führt in die gewünschte Richtung. Das kann doch nicht sein! Aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Dieses Stiefelpaar mussten sich seinen Weg durch weichen knietiefen Schnee bahnen. Das tue ich jetzt auch. Ich folge der Spur und schleppe mein Monsta durch die weiße Masse. Immer wieder versinke auch ich bis an meine Knie. Die Tatsache, dass manchmal recht viel verborgenes struppiges Geäst das Einsinken verhindert, spricht dafür, dass ich oft dem Weg nur ungefähr folgen kann. Echte Vollblut-Mountainbiker wären spätestens jetzt frustriert. Wo bleibt die Fahrfreude, wenn immer wieder geschoben oder gar getragen werden muss? Doch ich sehe das eher sportlich: Während ich schiebe, fühle ich mich als Wanderer. Wenn möglich fahre ich lieber. Und in der Summe bewältige ich eine Strecke, von der selbst Profiwanderer nur träumen können. Ich komme weit herum und mehr Spaß habe ich sowieso!

 

Die Tiefschneepassage ist kaum 200 Meter lang. Die alte Militärstraße, die sich daran anschließt, erweist sich als eine maschinell präparierte Skiloipe. Mit höchster Präzision wurden links und rechts  schienenartigen Doppelspuren in den Schnee geprägt. Dazwischen wurde das weiße Pulver so weit verdichtet, dass meine Fahrradreifen nur noch wenig einsinken. Wahrscheinlich liegt das daran, dass sich die Maschine auf einer breiten Raupenkette zwischen den Skispuren vorwärts bewegte. Ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem. Sicher soll dieser mittlere Bereich von Skilangläufern benutzt werden, die die Skating-Technik bevorzugen. Und eben jene Sportler werden jetzt eine Piste vorfinden, die dank meiner dicken Reifenfährte nicht mehr ganz jungfräulich ist.

 

Langsam, ja wirklich erstaunlich spät, kommt mir die Erkenntnis: In wirklich tiefem Schnee kann Monsta nicht fahren. Benötigt wird durch viele Füße zusammengestampfter oder plattgefahrener Schnee. Auch davon gibt es genug im Harz, aber ich muss dazu auch die richtigen Wege finden! 

Weil also am Ende unausweichlich diese weiße kalte Realität siegt, beginne ich über Alternativen zu meiner vorgesehenen direkten Brockenroute nachzudenken. Viel grübeln muss ich nicht. Ein Wegweiserschildchen „Toter Weg“ erscheint. Und von einer früheren Wanderung weiß ich, dass der „Tote Weg“ mich talwärts und beinahe direkt zur Brockenstraße führen wird. „Talwärts“ ist schon einmal ein guter Plan, denn dann rollen die Räder auch bei etwas tieferem Schnee. Und zur Brockenstraße will ich doch sowieso!

 

Tatsächlich erweist sich die ganze Strecke bis auf wenige Meter an der Einmündung zur Brockenstraße als fahrbar. Auch dieser Wegabschnitt ist komplett als Loipe hergerichtet. Und endlich begegne ich auch meinen ersten Langlaufski-Läufern. Sie erwidern meine Grüße äußerst sparsam. Das ist verständlich, denn ich bin nun einmal nicht einer von ihnen. Trotzdem irritieren mich ihre verbissenen Gesichter. Gemessen daran, dass diese Menschen sich doch wohl freiwillig für den Skilanglauf entschieden haben und die Schnee- und Wetterverhältnisse optimal sind, hätte ich mit etwas mehr Freude und Enthusiasmus gerechnet. Es scheint, als wären sie von der Erkenntnis überrascht, dass Sport anstrengend sein kann.

 

Die Brockenstraße erweist sich als weniger gründlich geräumt, als die Straße den Wurmberg hinauf. Ihre Oberfläche ist durchweg mit einer festgefahrenen geschlossenen Schneedecke überzogen, in die ein wenig Split eingewalzt wurde. Mir soll es recht sein, denn auch so komme ich gut voran! Die durchgängig weiße Straße passt auch optisch viel besser in die Winterlandschaft als ein freigekratzter Asphalt.  Wenn nur der Himmel noch ein wenig blau werden würde ,wäre es perfekt. Selbst dieser Wunsch geht in Erfüllung, wenn auch nur ansatzweise in Form eines blassbauen Schimmers. 

Mit mir sind einige Wanderer zum Brocken unterwegs. Darunter sind auch Familien mit kleineren Kindern und Schlitten. Einer der Junioren nimmt gerade auf seinem Schlitten Platz und erklärt, er würde bis zum Bergspitze nicht mehr absteigen. Überschlägig kalkuliere ich das Marschtempo der kleinen Karawane, die Entfernungsverhältnisse auf der Brockenstraße und die Tageszeit. Augenblicklich weiß ich, dass sie den Brockengipfel heute auch nicht ansatzweise erreichen werden. Wahrscheinlich werden die Zugkräfte der Eltern bald erlahmen, das Kind wird erfroren sein und dunkel ist es dann auch. Trotzdem blicke ich sie aufmunternd an und ziehe so lässig wie möglich an ihnen vorbei.

 

Später spricht mich eine Frau auf mein „spezielles Winterfahrrad“ an. Mir scheint, sie kann sich ernsthaft vorstellen, ihr ödes Wanderer-Leben gegen eine Outdoor-Aktivität auf dem Mountainbike einzutauschen. Wir fachsimpeln ein wenig über breite Reifen und kurze Übersetzungen. Dann lasse ich sie zurück und strebe weiter nach oben.

 

Dort, wo der Wanderweg zum Eckerloch abzweigt, verlassen die meisten Fußgänger die schneebedeckte Fahrbahn. Die Straße gehört jetzt mir ganz allein, wenn man von zwei Polizeimannschaftswagen absieht, die mir entgegenkommen. Die Polizeipräsenz ist wahrscheinlich auf Medienberichte zurückzuführen. Dort wurde mit panischem Entsetzen berichtet, dass das Volk es gewagt hatte, während der größten Pandemie aller Zeiten den Winterwald zu betreten. Als Reaktion darauf haben die Cops, so vermute ich, zwei ihrer größeren Wagen geschickt. Groß deshalb, damit die Zeitungsfritzen sie nicht übersehen und eventuell auch schön fotografiert können. „Seht her, die Staatsmacht tut etwas!“  Wenn ich es richtig sehe, sind die Mannschaftstransporter nur mit Fahrer und Beifahrer besetzt. Durch die Windschutzscheibe erkenne ich ein Jüngelchen hinter dem Steuer, dass wohl gerade seinen 18. Geburtstag hatte. Es sitzt kerzengerade und amtlich-korrekt mit Gesichtsmaske vermummt, während sein älterer und gemütlich aussehender Kollege ganz zwanglos im Beifahrersitz flegelt.

 

Die Steigung ist nicht bösartig, zieht sich aber in die Länge. Es ist genauso, wie man es von einer knappen Stunde Aufstieg erwarten kann. Vor mir liegt das Brockenbett. Vor gerade einmal drei Wochen kam ich aus der Straße gegenüber. Damals war ich sichtlich gezeichnet von dem steilen Anstieg auf dem Gelben Brink und empfand ich die Brockenstraße wegen ihres flacheren Winkels als Erholung. Heute nicht ist das nicht so. Die Herausforderungen der Bergfahrt wirken heute eher kontinuierlich. So verschieben sich die Maßstäbe.

 

Es wird dunstig. Schemenhaft kann ich ein paar Wanderer erkennen, die mir entgegenkommen. „Gleich geschafft“ rufen mir einer zu. Was für ein Witzbold. Ich weiß sehr gut, dass mir noch ein gehöriges Stück Wegstrecke bevorsteht. Aber vielleicht sollte sein Zuruf auch eine gut gemeinte Motivation sein.

Als in der Ferne die Andreaskreuze beim Bahnübergang Goetheweg auszumachen sind, ertappe ich mich bei dem Gedanken an eine kleine Pause. In der Schutzhütte an der letzten scharfen Kurve könnte ich rasten und Kräfte mobilisieren. Doch ab dem Goetheweg sind so viele Winterfrischler unterwegs, dass ich mir diese Blöße nicht mehr geben will. (Winterfrischler sind für mich das jahreszeitliche Gegenstück zu Sommerfrischlern!)

 

Während ich ohne weitere Vorkommnisse die Menschenansammlungen umrunde, überrascht mich ein Dreikäsehoch mit dem Zuruf, dass das Fahrradfahren hier nicht erlaubt wäre. Mich verblüfft die Vorschriftenhuberei im zarten Kindesalter, ganz davon abgesehen, dass der Kleine unrecht hat. Nach der letzten Kurve beißt die Kälte in Form eines frischen Windes. Deshalb verzichte ich heute auch auf den Besuch des großen Findlings, der die künstliche Markierung des Gipfelpunkts darstellt. Stattdessen begebe mich an die windgeschützte Hauswand des tief eingeschneiten Brockenhotels. 

Zu anderen Zeiten wären ich nun in den Touristensaal der Baude eingekehrt und hätte mich aufgewärmt, genau wie es wohl die meisten der Wanderer getan hätten. Zu anderen Zeiten wären aber auch - da bin ich mir sicher - an einem gewöhnlichen Januardonnerstag weit weniger Menschen hier oben unterwegs. Der plötzliche Wintereinbruch mit seinen fantastischen Schneemengen wird viele Besucher auf den Brocken gelockt haben. Andererseits haben alle Hotels seit Wochen auf oberste Weisung geschlossen. Sowieso ist unser Aufenthalt auf dem Gipfel zwar nicht verboten, aber wohl doch eher unerwünscht.

 

Aber dieser Brocken ist eben auch ein Symbol. Nicht nur Heine und Goethe haben ihn literarisch berühmt gemacht. In der der DDR war er 28 Jahre lang vollständig gesperrt und das Volk eroberte ihn im Winter 1989 friedlich zurück.

 

Und nun sind trotz bitterer Kälte ganze Völkerscharen auf der Brockenstraße. Könnte es sein, dass all diese Menschen von der subtilen die Angst getrieben sind, schon sehr bald sehr viel zu verlieren? Vielleicht ist es auch eine Mischung aus Trotz und Freiheitswillen, der die Menschen in Scharen auf jenen Brocken treibt, der sich als Symbol für Wiedervereinigung und Freiheit ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat.

  

Was jetzt auf mich zukommt, ist nicht anstrengend, aber frostig. Ich ziehe alles an, was irgendwie wärmen kann. Mein Schlauchschal bedeckt das ganze Gesicht und nur meine Augen haben einen winziger Sehschlitz, bevor die Mütze von oben gegen die Kälte kämpft. So gut ich kann, genieße ich die zügige Fahrt, doch spätestens am dritten Bahnübergang bin ich komplett durchgefroren. Zwei Drittel der Brockenstraße sind geschafft. Weiter geht es talwärts. Immer noch frierend rase ich durch Schierke und an der Feuerstein-Arena vorbei. Heute brauche ich keine Experimente mehr, nur noch Wärme. Ein holpriger Weg bringt mich entlang der Bode nach Elend und die Landstraße schafft mich zurück auf den Parkplatz. Minuten später sorgt die Autoheizung für wohlige Temperaturen. 


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