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Harz & Glühwein

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Verrückt, jetzt ist es schon Dezember! Endlich sind wieder ein paar freie Tage in Sicht. 

Elbsandsteingebirge, mein Lieblingsgebirge, ich komme! Elbsandsteingebirge? 

 

Begraben unter einem Berg von Büroarbeit ist es mir völlig entgangen, dass unser kleiner Freund, das Coronavirus, Anfang Dezember einen Feldzug zur Eroberung Sachsens begonnen hat. Grundsätzlich beeindruckt mich das nicht sehr, denn ich würde dem kleinen Krieger im Wald und am Felsen sowieso nicht begegnen. Blöd ist nur, dass sich die hohe Politik wieder einmal mit neuen Verordnungen und Erlassen überbietet. Würde ich trotzdem mit meinem preußischen Autokennzeichen in die geliebte Sächsische Schweiz fahren, wäre ich wohl allgemeines Freiwild der offiziellen Schergen und der selbst ernannten Hilfssheriffs. Für mich muss dringend ein Ersatzziel her! Zum Glück gibt es da noch diese andere Bergwelt an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Es ist der Harz, das Gebirge in dem sich schon Goethe und Heine tummelten. Der Bonus on top: Auf dem Brocken soll sogar schon Schnee liegen!


Schnell ist wieder einmal ein provisorischer Reiseplan zusammengestrickt. Kurz und knapp: Am ersten Tag würde ich mich im romantischen Wipper- oder auch im Selketal warmfahren, um dann am Folgetag die Herausforderung des Brockens anzunehmen. Danach wartet schon wieder die heimische Zentralheizung. Apropos Heizung: Die habe ich an meinem Schlafplatz, meinem umgebauten Planen-Anhänger „Rollenden Räuberhöhle“ nicht. Da wird der Schlafsack zeigen müssen, was er kann!

 

Meine liebe Frau bewilligt noch den Einsatz des PS-starken Familienhybriden als Zugfahrzeug und die Reise kann beginnen. Mehr Vorbereitung brauche ich nicht!

 

Um am ersten Fahrradtag keine Zeit zu verlieren, reise ich schon am späten Abend an. Nach einer kleinen Irrfahrt im Schneegestöber finde ich einen Ankerplatz auf einem Wanderparkplatz oberhalb des Selketals. Eine Menge feiner Trails ziehen sich hier durch den Wald und ich bin schon ganz neugierig, wohin mich am nächsten Morgen meine Radreise führen wird.

 

Dieser Morgen kommt und er weckt mich mit dem sanften Trommeln feinster Regentropfen auf der Räuberhöhlenplane. Der Blick aus der aufgeschlagenen Persenning verheißt leider nichts Gutes. Um mich herum ist eine neblig-graue Schneematsch-Landschaft. Und diese Schneematsch-Landschaft wird auch weiterhin von zartem Schneeregen bewässert. Natürlich käme mein Monsta problemlos durch die Pampe. Auch der Fahrer wäre nach einem dampfenden Frühstückskaffee bereit, es mit dem Wetter aufzunehmen. Aber nach spätestens zwei Stunden würde es keine einzige trockene Faser an mir geben. Das Monsta-Bike wäre ein einziger Schlammklumpen. Das Ganze bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt wirkt eher ungesund.

 

Will ich das wirklich?

 

Dann bin ich doch lieber ein „Weichei“. Ich fahre meinen rollenden Hausstand ein paar Kilometer weiter auf einen ruhigen Parkplatz an der „Teufelsmauer“. Dort kann ich immer noch auf besseres Wetter warten. Als Nebeneffekt komme ich für eine halbe Stunde in den Genuss der Fahrzeugheizung.

 

Die Teufelsmauer ist eine bizarre Felsenkette im Flachland des Vorharzes. Niemand würde ahnen, dass unter den sanften, grasbewachsenen Hügeln ein riesiger urzeitlicher Drachen lebt. Doch hier bei Weddersleben haben sein gezackter Rückenpanzerplatten die Grasnarbe durchbrochen. Sie ragen in kilometerlanger, gerader Linie drohend in den Himmel.  Die schartige Felsenreihe inmitten einer völlig unaufgeregten Landschaft bildet einen reizvollen Kontrast. In dieser exotischen Landschaft wurden früher einmal Indianerfilme gedreht. Und dort, wo einst schon Gojko Mitić ritt, kann man sich auch ganz ausgezeichnet auch auf dem Fahrrad austoben! Das weiß ich schon seit einem früheren Ausflug. Das Problem ist das Wetter. Es denkt gar nicht daran, seine feuchten Umgangsformen abzulegen. Was also tun? Dann versuche ich es mal mit herkömmlicher Urlaubspraxis: Chillen, Lesen, Kekse essen. Für diese Aktivitäten habe ich mich mit meinem dicken Schlafsack ins Fahrerhaus des Autos zurückgezogen, wo die Sitzheizung mir den Rücken wärmt und der Scheibenwischer für gelegentlichen Durchblick sorgt. Besonders heroisch ist das zwar nicht, aber wenigstens gibt es einiges zu sehen.



Der Parkplatz ist erstaunlich frequentiert. Sogar einige unermüdliche Wanderer steigen aus ihren Autos und entfernen sich dick eingemummelt in Richtung der Teufelsmauer. Die meisten Fahrzeuge halten aber nur kurz und fahren dann gleich wieder weg. Ein uraltes, buckliges Männchen streicht über den Platz. Es ist erstaunlich gut zu Fuß und mustert die parkenden Fahrzeuge gründlich. 

 

Werde ich heute noch zum Radeln kommen? Immer noch nieselt es, aber mein elektronischer Wetterfrosch signalisiert verhaltenen Optimismus. Draußen tut sich etwas. Schwungvoll zieht ein Transporter mit Anhänger auf den Platz. Er kurvt knapp an mir vorbei und kommt gerade vor der kleinen Schutzhütte zum Stehen, die von den Coronawahnsinnigen „zum Gesundheitsschutz“ verbarrikadierten wurde. Der Wagen erweist sich als das, was man neudeutsch einen Foodtruck nennt. In der Großstadt sind das meist liebevoll mit allerlei Schnickschnack dekorierte Paketlieferwagen, doch hier genügt ein ausgeblichener Sprinter mit eher zweckmäßiger Beschriftung. Doch diese rollende Kantine hat es in sich. Wenige Minuten später hat sich eine veritable Feldküche ausgebreitet, die ein breites Angebot von Erbsensuppe über Würstchen bis zu Glühwein im Angebot hat. Jetzt kommt noch mehr Bewegung auf den Parkplatz. Handwerker und Bauarbeiter auf Nahrungssuche stellen sich ein. Ein Lieferwagen nach dem anderen rollt heran, um nach kurzer Mittagspause den Platz wieder zu verlassen. 

 

Und nun ist doch tatsächlich der Regen eingeschlafen! Ich beschließe, endlich meinen Hintern in Bewegung zu setzen. Das Zeitfenster ist schon recht knapp bemessen, doch der Junge (also ich) muss dringend an die Luft. Am Ende meiner Tour wäre die Verköstigung durch so eine Feldküche natürlich sensationell! Doch wie ich den Menschenschlag hier einschätze, wird in einer halben Stunde Feierabend sein. So muss ich wohl oder übel meinen Glühwein gleich jetzt genießen!

 

Zum leckeren Glühwein mit eingelegtem Beerenobst gibt es gratis eine nette Plauderei mit dem Feldküchenchef. Sie dreht sich - wie sollte es anders sein - um den Harz. Die Teufelsmauer, bedauert mein Gesprächspartner, würde er immer nur aus dem Autofenster sehen. Vor Ort war er noch nie. Auch die Schulausflüge wären früher immer nur nach Thale gegangen und nie zur Teufelsmauer. Dann wird mir Peter, des Teufels Bruder und gleichzeitig Gehilfe des improvisierten Ausschanks vorgestellt. Es ist der Alte, der vorhin schon über den Platz strich. Und wirklich: Mit seiner verwachsenen Figur und einer grotesk großen Nase im faltigen Gesicht wirkt er wie die männliche Version einer alten Märchenhexe. Oder eben des Teufels Bruder!

 

Unvorsichtigerweise erwähne ich in diesem Gespräch den traurigen Anblick der Baumleichen in den höheren Lagen des Harzes. Die Borkenkäferplage hat dort oben verheerende Auswirkungen. Beinahe die gesamte Fläche der Kernzone des Nationalparks wurde innerhalb weniger Jahre komplett verwüstet und entwaldet. Der romantische Harz als endloser Wanderwald existiert heute nicht mehr. Das Thema ist ein heißes Eisen. In politisch korrekter Lesart ist diese Katastrophe nur ein natürlicher Umbauprozess zurück zu einer Urwaldidylle. Menschlicher Einfluss würde nur stören und der schreckliche Anblick wäre die gerechte Strafe für jahrhundertelangen Raubbau. Nachdenkliche Menschen erinnern sich aber, in der Schule mal etwas von „Bodenerosion“ gehört zu haben. Wenn der natürliche Bewuchs fehlt, kann der fruchtbare Boden durch Regen fortgewaschen werden. Das Ergebnis wäre eine Steppe und kein Urwald. Vermutlich wird es auch den seltenen und geschützten Tierarten herzlich egal sein, ob ihr Zuhause von Bulldozern oder von Borkenkäfern zerstört wurde. Zeit sich anzupassen, hatten sie jedenfalls nicht. Mein Gesprächspartner (also der Feldküchenwirt) kennt das Problem, auch wenn ich vermute, dass er die allgemeine Verwüstung noch nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Während ich also noch genüsslich meinen Glühwein aus dem gereichten Styroporbecher schlürfe, verfällt er zerknirscht in den „WIR-DIE-SÜNDER“-Modus. Routiniert spult er die üblichen Reizwörter der Klima- und Umwelt-Propaganda ab. Selbst die Weltmeere werden berücksichtigt. (Das nächste Meer ist übrigens die Ostsee. Ihre Küste ist 250 Kilometer entfernt.) Für mich ist es wirklich erschreckend, was regelmäßiger Fernsehkonsum so anrichtet …

 

Nun wo der der Glühweinbecher leer ist, will ich los. Nach einem prüfenden Blick auf Monstas fette Stollenreifen erteilt mir der Bruder des Teufels seinen Segen. Mit meinem Gefährt sollte ich wohl gut durch den Schlamm kommen. Na, dann kann ja nichts schiefgehen …

 

Beschwingt durch die kleine Stärkung radle ich schnell den kurzen Wanderweg bis zur ersten Felsengruppe. Vor mir ist jetzt der Königsfelsen, der beeindruckendste Vertreter dieser Felsenreihe. Leider hatte ich es versäumt, zuvor noch einmal meine Nase in die Landkarte zu stecken. So verpasse ich prompt den schmalen Pfad, der mich an der weniger touristischen Rückseite der Felszacken entlang geführt hätte. Nun stehe ich vor einer langen Treppe. Na und? Mit dem Elan der endlich freigelassenen Kräfte trage ich Monsta die Stufen hoch. Auch die anschließende Abfahrt erweist sich als kleine Herausforderung. Dafür begeistern mich wieder einmal die rauen Formen der Felsen und der weite Blick. Hier im Harzvorland gibt es noch keine Berge, die im Weg stehen könnten. Das Gebirge „Harz“ beginnt erst in 5 bis 10 Kilometern.

  

Auch bergab vom Königsfelsen ist es nötig, immer wieder ein Stück zu schieben. Das gilt zwar als unehrenhaft, schützt mich aber vor Verletzungen. An der Fortsetzung der Teufelsmauer im Bereich der Mittelsteine und der Papensteine rollt es schon viel flowiger. Sobald wie möglich verlasse ich den breiten „Rollatorenweg“ und begebe mich auf den schmalen Pfad des Teufelsmauerstiegs direkt an den Felsen entlang. Mich irritieren nur ein paar hässliche kniehohe Zäunchen. Waren die beim letzten Mal auch schon da? Den verwitterten Schildchen nach, habe sie etwas mit dem Naturschutz zu tun. Aber worin besteht nun ihr Sinn? Sollen sie etwa die mindestens 60 Millionen Jahre alten Felsen davor schützen, von übermütigen Besuchern umgekippt zu werden? Mehr als eine Handvoll Wanderer pro Tag werden es kaum sein. Oder muss sich die Abtragung durch Wind, Wetter und Frost ab sofort ordnungsgemäß am Zaun anmelden? Nein, die hilflosen Absperrungen sind wohl eher eine Art Duftmarke und Revierkennzeichnung dogmatischer Naturschützer. Sie rufen: „Seht her, wir waren auch schon hier!“ Eigentlich tun sie damit auch nichts anderes als die wirklich bösen Jungs, die ihre Umwelt mit „Kunstwerken“ aus Graffiti-Sprayflaschen verschönern. Immerhin: So wie ich das sehe, werden die fragilen Zäunchen schneller zerfallen sein, als irgendein Graffito verwittert wäre …

 

Doch zurück zur Teufelsstieg. Er erfordert ein wenig Konzentration. Kleine Felsenkanten, Stufen, sandige Abschnitte und enge Durchfahrten wechseln einander ab. Trotzdem bleibt Zeit für einen Blick in die Landschaft. Fotowetter ist heute nicht gerade und der Blick in die Ferne verliert sich im Dunst. Irgendwo dort hinten müsste sich das Gebirge des Harzes auftürmen, doch da ist heute nur graue Milchsuppe. Davor liegen weite, schlammig aussehende Felder. Ruhig ist es hier. Die Felszacken hinter mir, so scheint es, schirmen mich von der Welt, dem Alltag und dem ganzen Coronairrsinn ab.



Beim Weiterfahren merke ich, dass der Drachen unter der Teufelsmauer langsam müde wird. Er bäumt sich kaum noch auf. Die Oberfläche zeigt nur noch kleinste Erhebungen und vereinzelte Felsen. Bestimmt ist der Drachen eigentlich eine Seeschlange. Sie ist lang und taucht manchmal einfach ab, um an einer ganz anderen Stelle wieder empor zu kommen. So ist es auch hier. Die Teufelsmauer findet in 2 Kilometern Entfernung ihre Fortsetzung in einem namenlosen Höhenzug südlich von Timmenrode. Dann setzt sie sich nördlich des Dorfes spektakulär fort. 

Um nun zum nächsten Hügel zu gelangen, heißt es für mich einen langen Haken über matschige Feldwege zu schlagen. Am äußersten Ende des Ortes Thale komme ich heraus, genau da, wo die Teufelsmauerseeschlange wieder an die Erdoberfläche kommt. Auch hier spannt sich die Erdoberfläche zu einem markanten Bergrücken, auf dem man wunderbar mit dem Mountainbike entlangsegeln kann.

 

Zuerst muss ich aber auf diesen kleinen Berg hinauf. In meiner Erinnerung an den letzten Ausflug war das nicht ganz einfach. Doch Monsta ist motiviert und ich habe gut gefrühstückt! So wird es gelingen! Tatsächlich lässt sich der Anstieg am Rand eines Ackers erstaunlich leicht erklettern. Nur auf den letzten Metern versagt das Reifenprofil: Hilflos dreht das Hinterrad durch. Schwerer Lehm verwandelt Monsta in einen einzigen großen Erdklumpen. Mist, da müssen dann doch zur Aushilfe die Füße auf die Erde. Oben gibt es einen feinen, zwei Kilometer langen Singletrail! Wir, Monsta und ich, surfen und swingen auf dem Bergrücken entlang. Erst kurz vor Timmenrode müssen wir wieder herunter. Das heutige Ziel ist das Hamburger Wappen, eine interessante Felsformation auf dem Gipfel eines benachbarten Hügels. Die steile Auffahrt zum „Wappen“ bringt die körpereigene Heizung noch einmal auf Trab und schon stehe ich vor der Sehenswürdigkeit. Dieser aufregende Felsengarten beinhaltet einen wilden Talkessel, eine kleine Höhle (das Teufelsloch) und einige verwunschene Felsengestalten. Dazwischen erinnern feiner weißer Sand und knorrige Kiefern eher an den Ostseestrand als an das Mittelgebirge. Das Highlight dieses Ensembles sind die drei markanten Sandsteinzinnen, die die Türme des Hamburger Stadtwappens darstellen sollen. Bei schönem Wetter ist das hier ein Eldorado für Postkartenfotografen, aber schönes Wetter ist ein andermal. 

 

In der höchsten Zinne des Hamburger Wappens gibt es eine schüsselförmige Vertiefung. Dort war früher wohl schon einmal eine Feuerschale installiert. Über 15 sehr ausgewaschene Stufen und mit ein wenig Kletterei kann man in diese Kuhle hineinklettern. Nur wenig später sieht man mich an der Außenseite des Felsens entlang hangeln und schon sitze ich sicher in 25 Metern Höhe in meinem steinernen Ausguck. Der Ausblick hält heute nicht, was er verspricht. Und wärmer wird mir vom Stillsitzen auch nicht. So belasse ich es bei einem Kurzbesuch. 

Der Rückweg ist zunächst der gleiche wie der Hinweg. Nur ist es nun nochmals dunstiger. Kriecht dahinten vielleicht sogar schon die Dämmerung heran? Ich freue mich, dass Monsta durch die schnelle Fahrt auf trockenem Untergrund fast schon wieder sauber wird. Bei dem Gerüttel fällt ein Teil der Lehmkruste einfach ab. Doch dieser Effekt ist nicht von Dauer. Da vorne wartet schließlich wieder die bekannte Lehmpassage. Auf diesem zweifelhaften Untergrund schlingere ich zurück ins Tal.

 

Um noch ein wenig zu radeln, mache ich ab Thale einen kleinen Umweg über Nebenstraßen und asphaltierte Radwege. So bin ich pünktlich zum Einbruch der Dunkelheit wieder auf dem Parkplatz. Meine Aufgabe ist es jetzt, mich und meine Siebensachen irgendwie nachtfertig zu machen. Besonders dieses kleine Dreckschwein von Mountainbike kommt mir so nicht in den Hänger! Über meine Versuche, die Lehmklumpen mit dem Wasser der Bode von Monstas Aluminiumrahmen zu waschen, lachen die Felsen der Teufelsmauer nur. Dafür protestieren meine Hände. Schnell verlieren sie die Lust auf eisiges Flusswasser. Doch guter Rat ist nicht teuer: Die Zutaten sind Gaskocher, Waschschüssel, elektrische Dusche und das reichlich vorhandene Wasser der Bode. Nun kommt das verwöhnte Mountainbike sogar in den Genuss einer warmen Dusche und anschließend in meinem Autoanhänger sogar ein (Planen-)Dach über den Kopf.

 

Jetzt bin ich an der Reihe. Auch ich will mir eine Dusche gönnen. Der Campingkocher arbeitet derweil auf Hochtouren. Weil die Außentemperaturen sich schon wieder deutlich auf die Null-Grad-Marke zubewegen, droht die Butangaskartusche wiederholt zu vereisen. Dann muss sie gegen ihre Schwester ausgetauscht werden, die es zwischendurch im Wasserbad schön warm hatte. Das Duschen ist selbst bei den niedrigen Außentemperaturen eine Wohltat, schließlich ist das Wasser mollig warm. Bedenklich sind eher die nicht unbedeutenden Dampfschwaden, die hinter dem Anhänger hervorquellen. Sie könnten mir ungewollte Aufmerksamkeit verschaffen. Der Anblick eines nackten Herren, der sich im Freien bei null Grad Temperatur auf einem Wanderparkplatz duscht, könnte auf Unbeteiligte verstörend wirken.

 

Dummerweise kommt gerade jetzt erstaunlich viel Bewegung auf den abgelegenen Parkplatz. Mehr und mehr Autos rollen heran. Das können kaum alles verliebte Pärchen sein, die einen diskreten Ort für ungestörte Aktivitäten suchen. Inzwischen schon wieder angezogen, beobachte ich fasziniert aus meiner Fahrerkabine das muntere Treiben. Da trifft sich mit viel „Hallo“ und Stirnlampen bewaffnet eine große Gruppe Wanderfreunde zum Nachtmarsch!

 

Und was mache ich jetzt? Für meinen Geschmack parke ich schon viel zu lange an diesem Ort. Ich sollte die Nacht woanders verbringen. Deshalb mache ich mich mit dem Autogespann auf den Weg nach Wernigerode. Die kleine Stadt ist ein Schmuckkästchen aus Fachwerkhäusern und Weihnachtsdekoration. Ohne die weltfremden Bestimmungen zum vermeintlichen Seuchenschutz würde wohl ein bunter Weihnachtsbudenzauber herrschen. Doch heute Abend erlebe ich ein surreales Stillleben. Die Stadt ist herausgeputzt und in vorweihnachtlichen Glanz. Doch die Straßen sind menschenleer. Erst auf den zweiten Blick sehe ich ein paar Gestalten, die sich Glühwein aus mitgebrachten Thermoskannen einschenken.

 

Aus einer breiten Hofeinfahrt erklingt Musik. Neugierig trete ich ein und bin plötzlich in einer anderen Realität. Es fühlt sich an wie ein ganz normaler Vorweihnachtsabend in der Randzone eines Weihnachtsmarkts in der Provinz. Die Geisterstadt scheint vergessen. Die Szenerie ist wie ausgewechselt. Menschen stehen in Gruppen beieinander. Sie halten dampfende Glühweinbecher in den Händen und plaudern fröhlich. Der Hof ist ausgefüllt von dem Summen der Stimmen und den Bässen der Diskomusik. Im Zentrum steht eine Imbissbude. Sie ist die Quelle für Sound und Getränke. In diesem Verkaufswagen agieren zwei fröhliche Mädels. Auch sie haben wohl schon vom Glühwein gekostet und sie haben die Boxen aufgedreht. Jetzt hämmert „Mr. Vain“ von Culture Beat über den Platz. Mir scheint, diese Musik will nicht recht zum Alter der Verkäuferinnen passen. „90er Jahre Diskosound geht immer!“ klären sie mich auf. Noch eine ganze Weile genieße ich diese befreiende Atmosphäre. Ich gönne mir noch einen Glühwein und wippe im Takt der Musik. Nur wenige Tage später werden die Behörden den Außer-Haus-Verkauf von Glühwein verbieten.

 

Für mich ist es Zeit, einen Schlafplatz zu suchen. Die Wahl fällt auf das 10 Kilometer entfernte Ilsenburg. Das ist ein guter Ausgangspunkt für meine morgige Brockentour.


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