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Höhlen, Felsen, Kilometer - Unterwegs im Lužické hory

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Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase. Sie scheinen durch das Fenster einer Pension, die direkt am Marktplatz von Česká Kamenice (Böhmisch Kamnitz) steht. Sie wecken mich sanft und sie locken mich auf das Fahrrad.

 

So hatte ich es mir ausgemalt und beinahe genau so hatte es der Wetterdienst prognostiziert. Die Realität an diesem Morgen ist dagegen grau, aber im Gegensatz zu gestern nicht regnerisch. Doch auch ohne Sonnenbestrahlung bin ich voller Tatendrang und neugierig auf eine große Fahrradrunde. Weil ich erst heute Abend in Mezna (Stimmersdorf) in der Böhmischen Schweiz sein will, bleibt mir jede Menge Zeit im Sattel.

 

Gleich hinter Kamnitz thront die gleichnamige Burg auf ihrem Berg. Wer mich kennt, weiß, dass Burgen eine magische Anziehungskraft auf mich ausüben. Doch anders als auf der geduldigen Landkarte sieht der Burgberg erschreckend hoch und beängstigend steil aus. Wenn das keine Herausforderung ist! Schnell verlasse ich den Ort auf dem markierten Wanderweg zur Burg. Als der Pfad steiler und schlammiger wird, fällt es dem Hinterrad immer schwerer die Antriebskraft auf den Boden zu bekommen. Immer wieder dreht es sich hilflos im Kreis, ohne dass es spürbar vorwärts geht. Hatte ich die Reifen nicht gestern noch gelobt? Doch es sind nicht die Reifen. An den Stiefelspuren im aufgeweichten Boden kann ich erkennen, dass hier auch mancher Wanderer Mühe hatte, aufrecht zu bleiben.

 

 

Für die Auffahrt zur Burg habe ich eine besondere Motivation. Ich habe nämlich aus dem Nebel meines trüben Langzeitgedächtnisses ein Foto hervorgekramt. Es ist eine Luftaufnahme der Burg während der Sanierungsphase in den 1990er Jahren. Darauf sind die alten Mauern, Baugerüste und Planen zu sehen, aber auch ganz deutlich ein betagter Škoda-Pkw. Meine blauäugige Schlussfolgerung: Was ein Auto kann, kann ein Mountainbike erst recht. Um es kurz zu machen: Wenn das Foto nicht an einer ganz anderen Burg aufgenommen wurde und es diesen Weg wirklich einmal gegeben hat, habe ich jetzt eine Ahnung, wo er verlaufen sein könnte. Allerdings besteht meine Realität beim Aufstieg aus Schnaufen, Fluchen und auf glattem Boden Ausrutschen. In der Summe schiebe ich viel und kann kaum fahren. Zu steil, zu rutschig, zu unwegsam. An einer gewaltigen Barrikade aus ausgewachsenen Baumstämmen kurz vor dem Gipfel lasse ich mein Bike zurück. Viel einfacher wäre es gewesen, das Rad gleich dort stehen zu lassen, wo der serpentinenartige Aufstieg auf den Felsen beginnt.



 

Der Rückweg von der Burg hält für mich noch eine besondere Herausforderung bereit. Es ist eine kurze lehmige Rampe zum Fahrweg. Obwohl ich schnell spüre, dass das Hinterrad wieder etwas durchdreht, geht es immer noch irgendwie weiter. Zwei Meter später fällt das Treten schon ausgesprochen schwer. Ein Blick nach unten offenbart die Ursache: Unmengen von Lehm verkleben großzügig Reifen und Radgabeln. Das Fahrrad fühlt sich an wie ein Zementsack. Wir schleppen uns noch ein Stück weiter auf eine Wiese. Kurze Zeit später beobachten mich ein paar verschlafene Sonnenstrahlen dabei, wie ich neben meinem Fahrrad im feuchten Gras hocke. Mit einem Stöckchen stochere ich am Bike herum und gewinne mindestens ein Kilo dieser feuchten, klebrigen Substanz, die ziemlich genau dem Arbeitsmaterial in Töpferkursen entspricht. Nach der Prozedur sind die Einzelheiten des Antriebsstrangs zwar immer noch nicht zu erkennen, doch die Fahrdynamik ist schon viel besser.

 

Bis zum Ort Kamenický Šenov (Steinschönau) muss erstaunlich viel Höhe gekurbelt werden. Ich entdecke die Ruine einer stattlichen Jugendstilvilla, die sich als das Portal einer beachtlich großen Werkshalle entpuppt. Das verfalle Gemäuer beherbergte einst die Fabrik eines weltberühmten Lieferanten für gläserne Kronleuchter. Die Lüsterfabrik Elias Palme. (Was für ein Name!) Überhaupt hatten die zahlreichen Glasmanufakturen und -kontore aus dem unbedeutenden Dorf Steinschönau eine stolze und blühende Stadt gemacht. Heute, so scheint es, sind die besten Tage längst Geschichte. Würziger Qualm von Braunkohlebriketts zieht durch die Straßen und der Putz bröckelt. Den meisten Häusern geht es zwar nicht so schlimm wie der Fabrikhalle des Herrn Palme, doch viel zu oft ist die Grundrenovierung schon dutzende Jahren überfällig. Doch mein Ziel sind ohnehin nicht die architektonischen Schätze der Stadt. Ich will das Naturdenkmal Panská skála (Herrenhausfelsen) sehen. Der auch Orgel genannte Felsen besteht aus hunderten, streng symmetrischen Basaltsäulen, die malerisch vor einem kleinen Teich aus der Erde sprießen. Zuvor ergeben sich auf meiner Fahrt jedoch zwei unerwartete Wendungen. Auf dem kurzen Weg vom Marktplatz bis zum Ortsende tauche ich beinahe schlagartig in dichten Nebel ein. Dann entdecke ich zu meiner Freude direkt am Straßenrand eine öffentliche Wasserpumpe. Einen Moment später bietet sich den Anwohnern ein seltsamer Anblick. An der Pumpe macht sich ein Mann zu schaffen (ich), der mit einer Hand wie wild pumpt und mit der anderen Hand sein Fahrrad unter den kräftigen Wasserstrahl vor-und-zurück dirigiert. Bald haben sich ältere zahnlose Herren als Zuschauer eingefunden, die meine Bemühungen vermutlich fachkundig kommentieren. (Leider verstehe ich ihre Sprache nicht!) Immerhin gelingt es mir, den gröbsten Lehm abzuwaschen und der Kette wieder ein metallisches Aussehen zu geben. Sie wird für den Rest der Tour ohne Schmierung auskommen müssen.

 

Der Orgelfelsen wirkt im Nebel ziemlich mystisch. Dass es so kalt ist, dass sogar der See von einer dünnen Eisschicht bedeckt wird, damit habe ich nicht gerechnet. Ich turne ein bisschen auf dem Felsen herum, versuche dabei nicht auszurutschen, schieße Fotos und bin schon wieder weg. In Bewegung bleiben heißt die Devise.

Nach der langwierigen Eroberung der Burg Kamnitz am Morgen und den Verzögerungen an der Fahrraddusche muss ich dringend ein paar schnelle Kilometer machen. Eine gute Gelegenheit dazu bildet die Bahntrassen-Radstrecke 3056 „Varhany“ (Orgelpfeifen). Im Expresstempo gleite ich bei gutem Gefälle meinem nächsten Ziel, der Bürgstein-Schwoikaer Schweiz entgegen.

 

Diese Schweiz ist schon ein seltsamer Landstrich. Mit einer Ausdehnung von gerade einmal drei Kilometern ist sie mehr ein großer Park als ein Gebirge. Aber dieser Park hat es in sich. Es gibt einen schönen Wald, eine Menge niedlicher Berge, eine Burg (eigentlich sogar zwei!), einige sehr hübsche Felsen, ein Waldtheater, ein Tal mit Prozessionsweg und Felsenkapelle (Betgraben) und eine Anzahl von natürlichen und künstlichen Höhlen. Auch ein dichtes Netz von Wanderwegen gehört zum Inventar. Leider sind Wanderwege nicht immer fahrradtauglich.

Weil ich die bedeutendste Sehenswürdigkeit, die Burg Sloup, früher schon einmal aus der Nähe gesehen hatte, suche ich mir heute zur Besichtigung ein neues Ziel aus. Es ist die Samuelshöhle. Das ist eine Einsiedlerwohnung in einem ausgehöhlten Felsen hoch über dem kleinen Ort Sloup. Dort lebte einst ein Mann namens Samuel Görner und ich muss sagen, er hatte es mit seiner Behausung gar nicht so schlecht getroffen. Es gibt einen großen Raum mit zwei Fenstern und schönem Ausblick, eine Kochnische mit Rauchabzug und sogar eine per Sandsteintreppe erreichbare Terrasse auf dem Felsendach. (Ja, ich weiß, die Aussichtsplattform wurde erst später für die Touristen errichtet.) Das Problem mit dem Felsenanwesen ist, dass es seine Bewohner ganz sicher nicht per Bike erreichen wollten. So muss ich mein „Monsta“ eine ganze Weile auf einem abenteuerlich schmalen Pfad entlangschieben, über Wurzeln hieven und an kratzigen Büschen vorbeibalancieren bis ich endlich vor der ehemaligen Wohnhöhle stehe. Noch einmal im Klartext, liebe Kinder: Nicht nachmachen! Es ist sinnfrei, anstrengend und gefährdet die Gesundheit und das Material, wenn man das Bike bis zur Samuelshöhle befördert. Viel besser parkt es unten an der Treppe, die zur Höhle führt.

 

Und nun umkehren? Nein, denn es ist ja noch zu klären, was es mit der der Biker-Höhle auf sich hat! Und was ist das Geheimnis der „Wüsten Kirche“? Warum gibt es mitten in der Landschaft eine U-Bahn? Ich muss einfach weiter!

 

Über einen netten und nur ganz leicht schlammigen Waldweg gelange ich zum Dorf Svitava (Zwitte) und dort auf eine liebliche Landstraße. Ich kurve einen Abhang herunter und stehe bald vor dem verschlossenen Zaun an der Bikerhöhle. Sie trägt auch den coolen Namen Höllengrube. Das Objekt wirkt mit Betonplattenzufahrt, Stacheldrahtzaun und Eisentoren abweisend-militärisch. Vielleicht versteckte sich die Armee wirklich einmal in diesem Stollen. Doch ursprünglich wurde dieser Berg nur deshalb ausgehöhlt, weil man hier im weichen Sandstein Unmengen an feinem Sand abbauen konnte. In der nahegelegenen Spiegelmanufaktur wurden damit buchstäblich spiegelglatte Oberflächen geschliffen. Das spannendste Kapitel in der Geschichte der Höhle bleibt aber die Übernahme durch einen Motorradclub. Die Biker bauten eine Bar und gemütliche Sitzecken in die Katakomben und pinselten sogar Fahrbahnmarkierungen auf den Fußboden. Jetzt können sie mit ihren Moppeds direkt zum Tresen knattern. Ein Traum! Das hätte ich mir gern einmal angesehen. Aber wer weiß, ob ich auf meinem motorlosen Gefährt überhaupt willkommen gewesen wäre?

 

Zurück auf die Straße und ein Stück zurück zu einem beachtlichen Sandsteingebilde gleich hinter der Kurve. Es ist die Wüste Kirche. Diese „Kirche“ steht direkt an einer Straßenecke und ist natürlich auch ein ausgehöhlter Sandstein. Zahlreiche Säulen stützen ein Deckengewölbe, dass einen beeindruckend großen Raum überspannt. Da muss die Spiegelfabrik wirklich Unmengen Sand verschlungen haben! Gleich ein paar Meter weiter geht es zur U-Bahn. Die ist weniger ein unterirdischer Eisenbahnzug als eine übereifrige Übersetzung durch Googles Translator. Als „Eingang zum Untergrund“ fungieren hier gleich drei Mundlöcher. Dass es sich in allen drei Fällen um denselben Untergrund handelt liegt daran, dass man einst einen Schacht durch den Berg trieb, durch den ein Bach umgeleitet wurde. So gesehen ist der Vergleich mit einem durchgehenden U-Bahn-Tunnel gar nicht mal so falsch.

 

Nun wird es höchste Zeit den Rückweg anzutreten. Die Januarsonne geht bekanntlich geizig mit dem Tageslicht um! Gerade jetzt finden die Sonnenstrahlen immerhin ihren Weg zur Erde und zaubern ein wunderschönes Panorama neben die Chaussee. In Cvivkov (Böhmisch Zwickau) suche ich eine Stärkung im Bäckerladen. Es ist der traurigste Bäckerladen, den ich je betreten habe. Einige Laibe Brot und ein paar Hörnchen stellen das Basisangebot dar. Der Rest ist überschaubar. Die wenigen Kuchenteilchen gruseln sich vor Einsamkeit in der weitläufigen Vitrine. Viele von ihnen sind in Plastikfolie eingeschlagen, damit sie während ihres mehrtägigen Aufenthalts wenigstens einigermaßen frisch bleiben. Aber was solls, ich habe Knast und erlöse zwei trockene Kuchenschnittchen von ihrem kümmerlichen Dasein.

 

Ein Ziel habe ich noch. Ich will unbedingt noch bei der Burg Milštejn vorbeisehen. Sie versteckt sich mitten im Wald und lässt mich am Berg noch einmal tüchtig schwitzen. Die Bezeichnung „Burg“ ist übrigens ein großes Wort für die kümmerlichen Mauerreste. Die eigentliche Sensation ist das natürliche Felsentor. Es sieht brutal und kantig aus, gerade so, als wäre es von einem meisterhaften Kulissenbauer für einen Märchenfilm geschaffen worden. Im Märchen würde es ohne Frage die Zufahrt zum Schloss der bösen Zauberin darstellen.

Nachdem ich mich satt gesehen habe, versuche ich, den Wald im letzten Licht ganz schnell zu verlassen. Vielleicht gibt es diese Zauberin ja wirklich und sie hat den Wald verwunschen. Etwas Schnee und Eis streute sie ja schon auf die Wege hier. Bloß weg …

 

Das Tageslicht ist verschwunden, aber am Ziel bin ich noch längst nicht. Mir stehen noch etwa 35 Kilometer bevor. Ich nutze ab jetzt schmale Landstraßen, auf denen zum Glück kaum Verkehr ist. Richtig spannend wird es gleich nachdem ich die autobahnähnliche Bundesstraße 9 überquert habe. Hinter dem Gehöft Nová Huť bietet sich eine Abkürzung an, die sich als Singletrail inklusive Bachdurchquerung erweist. Bei Dunkelheit und nur im Scheinwerferlicht wird so ein halber Kilometer zum großen Abenteuer. Die Fahrt auf den nächtlichen und beinahe autofreien Landstraßen hat dann beinahe meditativen Charakter. Das Gefühl für Raum und Zeit verschwimmt. Letzter Zwischenstopp in Chřibská (Kreibitz). Für die anschließende Strecke wollte ich durch den Nationalpark über Na Tokani (Balzhütte) und die Radwege 3029 und 3030 fahren. Doch dafür fehlt mir jetzt der Mut. Eine Dreiviertelstunde mutterseelenallein durch den dunklen Wald, der Heimat von Hirsch und Wildschwein, ist nichts für Nils, das Stadtkind. Die Straßenroute mit ein wenig Zivilisation in Form kleiner Dörfer und gelegentlicher Autos ist mir allemal lieber. Auf meiner letzten Etappe begegne ich zu meiner Erleichterung keinen wilden Tieren. (Auch wenn es einige Male verdächtig im Gebüsch neben der Fahrbahn raschelt.) Auf den letzten Metern zum Hotel leuchtet mir noch ein wunderschöner Mond. Und jetzt freue ich mich auf eine heiße Dusche … 


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